Wie kann Deutschlands Bildungssystem den ukrainischen Kindern und Jugendlichen gerecht werden? Ein Essay.
ALS DIE ukrainische Generalkonsulin Irina Tybinka neulich die deutschen Kultusminister traf, war ihre Forderung unmissverständlich: Packt die geflüchteten Kinder und Jugendlichen bitte nicht in sogenannte Willkommensklassen, sondern unterrichtet sie möglichst viel auf Ukrainisch und nach ukrainischen Lehrplänen.
"Willkommensklassen" ist die reichlich euphemistische Umschreibung schulischer Lerngruppen, die fast ausschließlich aus neu zugewanderten Schülern bestehen und, vor allem durch intensiven Deutschunterricht, auf die Integration in die Regelklassen vorbereiten. Weshalb viele Bildungsexperten den nüchterneren Begriff "Vorbereitungsklassen" bevorzugen und das ganze Konstrukt als kritisch bewerten – denn wenn man sich unter einem "Willkommen" Integration vorstellt, dann bedeuten "Willkommensklassen" tatsächlich erst einmal das Gegenteil: Separierung. Die in den Flüchtlingswellen von 2015 und 2016 angekommenen Kinder und Jugendlichen blieben oft über viele Monate getrennt von ihren deutschprachigen Altersgenossen.
Die logische Alternative zu "Willkommensklassen" wäre die Teilnahme der Geflüchteten am Regelunterricht von Tag eins nach der Ankunft an. Doch stellt sie umfangreiche pädagogische und organisatorische Voraussetzungen, dazu gleich. Festzuhalten ist indes, dass sich Generalkonsulin Tybinka für eine andere Alternative stark macht: für weitgehend getrennte Gruppen wie beim "Willkommensklassen"-Modell, aber in den Gruppen dann eine völlig andere inhaltliche Priorität. Nicht das Fitmachen der Schüler fürs deutsche Bildungs- und Gesellschaftssystem, sondern die möglichst weite Nachbildung des ukrainischen Schulunterrichts.
Ernüchternder "Von-oben-herab"-Habitus
Die gesellschaftliche Debatte, die sich nun in den Tagen nach Tybinkas Plädoyer entwickelt hat, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Ernüchternd ist vor allem der "Von-oben-herab"-Habitus nicht weniger Kommentatoren (nicht der Kultusminister). Tenor: Was bilden sich die Ukrainer eigentlich ein. Wir helfen ihnen, wo wir nur können, und anstatt dankbar zu sein, stellen sie auch noch, wie Tybinka, frech eine Forderung nach der anderen. Als ob die derzeit in der Position dazu wären, überhaupt etwas zu verlangen! Es ist ziemlich genau derselbe Ton, den neulich ein parlamentarischer Staatssekretär aus einem SPD-geführten Bundesministerium gegenüber dem ukrainischen Botschafter in einem später gelöschten Tweet anschlug, woraufhin sich sogar der NDR bemüßigt fühlte zu fragen: "Andrij Melnyk: Diplomat oder Scharfmacher?"
Weniger drastisch, aber immer noch bedenklich ist, dass die Kultusminister Tybinka zwar höflich zugehört und ihre Unterstützung zugesichert haben, darunter aber trotz allem vor allem den üblichen Willkommensklassen-Weg zu verstehen scheinen. Aus guter Absicht übrigens. Sie haben sich den Rat von Bildungsforschern eingeholt, von denen die meisten sagen: Noch jede Generation nach Deutschland Geflüchteter hatte den Wunsch, möglichst bald in ihr Heimatland zurückzukehren, und noch bei jeder Generation hat sich dieser Wunsch bald als unrealistisch herausgestellt. Die meisten Geflüchteten sind geblieben, und weil das so ist, so lautet das Argument, sollte man nicht falsche Hoffnungen nähern, sondern von Anfang an alle Kraft daran setzen, den Kinder und Jugendlichen den Start in ein neues Leben in Deutschland so leicht wie möglich zu machen.
Freilich folgen die Kultusminister dem Rat der Bildungsforscher, und auch das ist bemerkenswert, nur halb: indem sie hunderte und tausende neuer Willkommensklassen einrichten wollen, obwohl die meisten Bildungsforscher ja genau diese, siehe oben, ablehnen.
Den Kultusministern schwant die Größenordnung
Doch scheint den Bildungspolitikern die Alternative, die Integration von Anfang an, derzeit kaum realisierbar oder bezahlbar zu sein. Ihnen schwant die Größenordnung, um die es geht: Mittelfristig könnten zwischen 400.000 und 700.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland ankommen, womöglich sogar noch mehr (wie ich die Zahl errechnet habe, siehe Kasten unten). Mit anderen Worten: Jeder 20. Schüler und jede 20. Schülerin könnten bald neu aus der Ukraine zugewandert sein. Im Schnitt ein bis zwei Schüler pro Klasse. Je nach Ballungsgebiet und Verteilung der Geflüchteten auch drei, vier pro Klasse. Die Auswirkungen auf die Klassenfrequenzen und den Lehrerbedarf wären groß – dabei herrscht schon jetzt empfindlicher Lehrermangel. Und die erforderlichen Sonderkräfte für den zusätzlichen Deutschunterricht sind da noch gar nicht berücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund, könnte man etwas spitz vermuten, erscheint vielen Kultusministern das Auslagern der Neuankömmlinge in Willkommensklassen als die realistischere, günstigere – und vertraute –Lösung.
KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) etwa sprach neulich von "etablierte Strukturen aus den Jahren 2015/16, die wir ja auch nie abgebaut haben", weshalb man "insoweit gut vorbereitet" sei. Man könne, sagte auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, von den Erfahrungen von 2015 profitieren. "Viele Schulleiter wissen, dass man Lehrer aus dem Ruhestand nochmal zurückholen kann in einer solchen Lage. Sie wissen, wie man kurzfristig zusätzliche Unterrichtsräume beschafft – und vor allem wissen sie eines: dass viele der jungen Menschen traumatisierten sind und eine zusätzliche Betreuung in den Willkommensklassen brauchen."
Was die Experten empfehlen
Übrigens, fügte die FDP-Politikerin im Interview mit t-online wahrlich dialektisch hinzu, habe sie auch "großes Verständnis" für die "selbstbewusste Haltung" der ukrainischen Generalkonsulin. Die Menschen aus der Ukraine wollten verständlicherweise an ihrer ukrainischen Identität festhalten, dafür habe sie großen Respekt. Angesichts des gleichzeitigen Bombenkrieges, sagte Stark-Watzinger, müsse die Bildungspolitik daher auf beides vorbereitet sein: "Dass viele Kinder und Jugendliche auf absehbare Zeit zurückkehren – aber auch darauf, dass sie länger hierbleiben." Über das dringend nötige Bund-Länder-Programm zur Kostenverteilung redet Stark-Watzinger öffentlich bislang übrigens nicht.
Aber was folgt denn daraus nun? Wie kann Deutschlands Bildungspolitik alles auf einmal hinbekommen: nicht von oben herab auf die Wünsche der ukrainischen Seite blicken, sondern dem Wunsch nach der Fortsetzung ukrainischer Bildungskarrieren nachkommen? Gleichzeitig aber auch die ukrainischen Schüler nicht separieren, sie auf einen möglicherweise doch dauerhaften Aufenthalt in Deutschland vorbereiten – und das Ganze unter den Voraussetzungen eines durch Corona müden und von Lehrkräftemangel geplagten Schulsystems?
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz hat dazu beraten und wird voraussichtlich in den nächsten Tagen eine Empfehlung herausgeben. In einer ersten vorläufigen Stellungnahme hat sich die SWK schon gestern zusammen mit dem Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) geäußert. SWK und SVR sagen, die frühe Integration in das Bildungssystem sei "unabhängig von der Frage nach Rückkehr oder Verbleib wichtig". Sie biete den Betroffenen schon kurz nach Ankunft ein Stück Normalität und Alltag und beuge späteren Ungleichheiten zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund vor.
Konkret fordern die Experten: in der Grundschule und bis in die ersten Jahre der Sekundarstufe die sofortige Integration in Regelklassen. Und Willkommensklassen, wenn überhaupt, nur für für die älteren Schüler und auch nur für ein Jahr. Für ukrainische Schüler, die zu Hause kurz vor dem Schulabschluss standen, sollten "Möglichkeiten ausgelotet werden, wie Jugendliche ihren Abschluss schnellstmöglich auch von Deutschland aus erwerben können".
Nach einer Anerkennung der bildungspolitischen Forderungen, wie sie die ukrainische Generalkonsulin geäußert hat, klingt freilich auch das nicht. Meinen wir wirklich, es besser zu wissen als die Betroffenen selbst? Sollten wir nicht zumindest für eine Übergangszeit auf ihre Wünsche möglichst eingehen?
Ein bildungspolitisches Moratorium
Bevor ich zum Abschluss meine persönliche Meinung dazu sage, möchte ich von den aus der Ukraine Geflüchteten erzählen, die zwei befreundeten Familien in Berlin aufgenommen haben. In einem Fall handelt es sich um eine Studentin, die kurz davor war, ihr Examen abzulegen und nun auf Angebote, ihr zu einem Studium in Deutschland zu verhelfen, sehr allergisch reagiert. Wieso, sagt sie, solle sie jetzt hier in Deutschland um die Anerkennung von Studienleistungen betteln und dann irgendwas zu studieren anfangen, wenn sie einfach nur ihren Abschluss fertigmachen möchte? Im zweiten Fall geht es um eine Mutter und ihre drei Jungs, deren Ältester auf Instagram Posts voller Heimweh nach seinem alten Leben und seinem in der Ukraine gebliebenen Vater verfasst und nur eines hofft: bald zurückgehen zu können.
Das sind die Gefühle, die viele Geflüchtete umtreiben. Sie sind weit davon entfernt, über eine Zukunft in Deutschland nachzudenken. Zumal fast alle ihre Väter, Söhne und Brüder in der Ukraine geblieben sind. So und nur so erklärt sich auch die "selbstbewusste Haltung" der Generalkonsulin.
Es mag ja sein, dass die Geschichte lehrt, dass sich die Hoffnungen Geflüchteter auf eine baldige Rückkehr meist nicht erfüllen und dass die Wünsche, vor allem die eigene kulturelle Identität zu wahren, sich als hinderlich erweisen beim Ankommen in der Realität des aufnehmenden Landes. Doch finde ich, dass wir den Ukrainern gerade angesichts der traumatischen Erfahrungen, die sie gemacht haben und weiter machen, mehr schuldig sind als eingeübte Routinen.
Was das meines Erachtens bedeuten sollte: Wir installieren für die Ukrainer eine Art Moratorium im deutschen Bildungssystem und fahren das nächste halbe Jahr zwei-, nein eigentlich dreigleisig. Gleis eins: Aufnahme aller Geflüchteten in Regelklassen und dort gemeinsamer Unterricht an zwei Tagen die Woche. Gleis zwei: zwei Tage die Woche getrennter und schulübergreifender Unterricht unter Beteiligung möglichst vieler geflüchteter ukrainischer Lehrkräfte, die bereits im Land sind und die es nun unbürokratisch zu beschäftigen gilt. Unterstützt durch Online-Lehrangebote, von denen das sehr weit digitalisierte ukrainische Schulsystem viele zu bieten hat. Gleis drei: Jeden Tag ein bis zwei Stunden flankierender Deutschunterricht, den fünften Schultag ausschließlich. Und Schüler, die in der Ukraine kurz vor dem Abschluss standen, lernen bis auf den fünften Tag (Deutschunterricht) komplett nach dem ukrainischen Lehrplan.
Nichts Halbes und nichts Ganzes? Schon richtig. Aber es wäre ein Modell, das von den Schulen am ehesten leistbar wäre und gleichzeitig die Wünsche vieler Ukrainer berücksichtigen würde. Nach einem halben Jahr wäre hoffentlich viel klarer, wie die Perspektiven einer Rückkehr für die meisten Geflüchteten aussehen. Und dann sollte das konsequente Integrationsprogramm gefahren werden, wie SWK und SVR es beschreiben. Aber erst dann.
Hunderttausende neue Schülerinnen und Schüler
Mittlerweile rechnet Bundesaußenministerin Annalena Barbock (Grüne) genauso wie andere EU-Spitzenpolitiker mit acht Millionen Geflüchteten aus der Ukraine in der Europäischen Union.
Selbst wenn Deutschland nur eine Zahl relativ zu seinem Anteil an der EU-Bevölkerung aufnähme, entspräche das rund 1,6 Millionen Menschen. Das ist freilich die Untergrenze.
Denn wie ich vor zwei Wochen bereits schrieb: Spätestens wenn die Aufnahmekapazitäten in Polen, der Ukraine und der Slowakei erschöpft sind (und eigentlich sind sie das bereits), wird Deutschland wegen seiner geografischen Nähe und Wirtschaftsstärke zu einem bevorzugten Ziel Geflüchteter werden. Weshalb die Aufnahme bis zu einem Viertel und mehr aller Geflüchteten in Deutschland realistisch erscheint – zwischen 2 und 2,5 Millionen Menschen.
Wenn nun alle ausreiseberechtigten Altersgruppen gemäß ihrer Verteilung in der ukrainischen Bevölkerung gleichermaßen kämen, hieße das: Rund 27 Prozent der Ankommenden werden Minderjährige sein. Warum so viel, wenn doch nur etwa 19 Prozent der Ukrainer unter 18 sind? Weil Männer zwischen 18 und 60 nicht ausreisen dürfen. Das bedeutet: Deutschland sollte sich auf mindestens 400.000, möglicherweise aber auch 600.000 oder 700.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche vorbereiten. Und womöglich ist sogar das noch unterschätzt. Denn die Vermutung liegt nahe, dass tendenziell noch mehr junge
und weniger alte Menschen kommen werden. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland etwa 13,8 Millionen Menschen unter 18. Kämen 400.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine hinzu, wären das knapp drei Prozent. 700.000 entsprächen gut fünf Prozent.
Die Kultusminister bekannten sich vor zwei Wochen in der "Lübecker Erklärung" zu ihrer Verantwortung, die aus der Ukraine geflüchteten Schülerinnen und Schüler unbürokratisch an den Schulen willkommen zu heißen und ihre Beschulung sicherzustellen. Doch ist der Lehrermangel in vielen Bundesländern schon jetzt massiv.
Um trotzdem ausreichende Bildungsangebote für die ukrainischen Kinder machen zu können, werde sich die KMK dafür einsetzen, "geflüchteten ukrainischen Lehrkräften – sofern sie dies wünschen und im Rahmen ihres Aufenthaltsstatus – eine Beschäftigungsmöglichkeit an Schulen zu verschaffen oder sie weiterzuqualifizieren“, sagte KMK-Präsidentin Prien.
Außerdem sei man über das Medieninstitut der Länder, die FWU, dabei, ukrainische Lehrwerke für die Benutzung in Deutschland zu sichern, die fast alle in digitaler Form vorlägen. Auch der Einsatz ukrainischer Online-Schulangebote werde geprüft, "um insbesondere Schülerinnen und Schülern in den Abschlussklassen sehr schnell die Möglichkeit zu geben, ihren ukrainischen Abschluss zu machen".
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Michael P. Krause (Dienstag, 22 März 2022 16:26)
"Richtig ist, dass es eine Online-Schule für die Klassen 5-11 gibt, die aus Lernressourcen und Video-Material besteht. Zudem existiert eine Sammlung von über 1200 digitalen Schulbüchern – die sofort online verfügbar sind." (https://www.aufeigenefaust.com/2022/03/21/ukraine-flucht-und-schule/) Wenn das stimmt, müssen wir dann nicht ganz anders vorgehen?
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 22 März 2022 16:29)
@ Michael P. Krause: Das ist genau das, was ich meine. Wir sollten diese Materialien an den zwei Tagen die Woche, wie ich vorschlage, voll nutzen. Viele Grüße!
Detlef Müller-Böling (Mittwoch, 23 März 2022 10:44)
Ich stimme Ihnen, Herr Wiarda, voll zu, dass wir sehr viel differenzierter vorgehen müssen. Dazu dürfte die deutsche Bildungsbürokratie allerdings nicht in der Lage sein - die einzelnen Schulen sehr wohl, wenn sie denn dazu ermächtigt würden.
Ich möchte allerdings noch auf einen grundsätzlichen Fehler deutscher Integrationspolitik aufmerksam machen: Flüchtlinge sind dann gut integriert, wenn sie so deutsch sind wie wir. Dass wir uns aber gegenseitig anpassen, voneinander lernen könnten, wird völlig ignoriert, obwohl die Geschichte zeigt, wie wir von einer solchen Akkulturation profitiert haben - man denke etwa an die Hugenotten in Preussen.