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Self-fulfilling prophecy

Ab demnächst werden fast überall nur noch Kinder und Jugendliche flächendeckend auf eine Corona-Infektion getestet. Die Wahrnehmung, welche Rolle sie in der Pandemie spielen, wird dadurch noch schiefer werden – mit Folgen.

AUSGERECHNET CHRISTIAN DROSTEN. Der Charité-Chefvirologe, der so viel für das bessere Verständnis von Wissenschaft in der Pandemie geleistet hat, sitzt einem solchen Missverständnis auf. Die höchsten Corona-Inzidenzen, sagte er neulich im Tagesthemen-Interview,  gebe es im Schulalter. "Das heißt, das kommt im Moment aus den Schulen. Wenn aber jetzt Ferien sind, dann wird das unterbunden."

 

Jetzt könnte man sagen: Was stimmt denn daran nicht? In der vergangenen Kalenderwoche entfielen rund 248.000 der gut 1,5 Millionen ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Neuinfektionen auf die unter 15-Jährigen. 17,1 Prozent. Und die 7-Tages-Inzidenzen der 5- bis 14-Jährigen lagen bundesweit bei 2.600 bis 2.900 und damit bis zu anderthalbmal so hoch wie der Schnitt aller Altersgruppen.

 

Nur blendet eine solche Betrachtung zwei wichtige Aspekte aus. Erstens: Nur Kinder und Jugendliche müsse sich für den Besuch von Kitas und Schulen flächendeckenden, mehrfach in der Woche stattfindenden Pflichttests unterziehen. Was die für sie berichtete Inzidenz kaum vergleichbar macht mit den anderen, weniger getesteten Altersgruppen. Zweitens: Noch entscheidender ist die Dynamik, und auch die spricht diametral gegen die Rolle von Schulen im Infektionsgeschehen, die Drosten ihnen zuordnet.

 

248.000 von gut 1,5 Millionen registrierten Infektionen ist viel und die 17,1 Prozent Anteil an allen Infektionen ist deutlich mehr als die 13,8 Prozent Anteil der unter 15-Jährigen an der Bevölkerung in Deutschland. Und doch wirken diese Zahlen ganz anders, wenn man sie der Situation im Januar, kurz nach den Weihnachtsferien, gegenüberstellt. Damals, in Kalenderwoche 4, registrierte das RKI über 310.000 Neuinfektionen zwischen 0 und 14 – bei gut 1,1 Millionen insgesamt. Anteil: 28,1 Prozent.

 

Nach acht Schulwochen deutlich
weniger Neuinfektionen

 

Mit anderen Worten: Acht Wochen später, Schulwochen wohlgemerkt, gibt es gesamtgesellschaftlich deutlich mehr Infektionen und unter Kindern und Jugendlichen weniger. Absolut, vor allem aber bezogen auf ihren Anteil am Infektionsgeschehen insgesamt. Die Ferien haben also als Virusbeschleuniger unter Kindern und Jugendlichen fungiert, die Unterrichtszeit hat die Entwicklung eher gedämpft.

 

Über die Gründe, auch schulfremde, kann man diskutieren – neben den im Vergleich zu anderen Lebensbereichen besonders strengen Hygienemaßnahmen in Schulen zum Beispiel über die allmählich steigende Impfquote unter Kindern oder dass je nach Bundesland die Mehrheit der Schüler schon eine Infektion durchgemacht hat. Wobei letzteres vermutlich auch für viele Erwachsenen-Altersgruppen gelten dürfte, nur wissen wir es weniger genau, weil, siehe oben, sie seltener getestet werden. 

 

Doch das Gegenteil in den Raum zu stellen, die Schulen würden gerade das Infektionsgeschehen treiben, und wenn erst Osterferien seien, werde das unterbunden, entspricht schlicht und einfach nicht den vorhandenen Daten. Auch wenn die Behauptung von einem so renommierten Wissenschaftler wie Christian Drosten kommt.

 

Doch haben solche (ja nicht zum ersten Mal kursierenden) Fehlinterpretationen natürlich Folgen. Wir erkennen sie vor allem darin, dass für Erwachsene, für deren Arbeitswelt und Freizeitgestaltung, demnächst fast überall alle Corona-Regeln fallen, vor allem 3G und verbliebene Testpflichten. Doch nicht so für Kinder. Die Schul-Pflichttests bleiben zunächst und werden teilweise sogar verschärft. In Berlin etwa müssen sich künftig auch alle Geimpften und Genesenen an Schulen regelmäßig testen.

 

Für die meisten Erwachsenen wird es so
anfühlen, als sei die Pandemie vorbei

 

So entsteht absehbar eine statistische self-fulfilling prophecy. Weil angeblich Kinder und Jugendliche sich in Kitas und Schulen besonders häufig infizieren, wird dort weiter getestet. Und weil nur dort noch flächendeckend getestet wird, bleiben die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen hoch, während die der Erwachsenen auf wundersame Weise sinken. Der Anteil der unter 15-Jährigen an allen gemeldeten Neuinfektionen steigt, womöglich drastisch, hunderttausende von ihnen hocken weiter jede Woche zu Hause. Und jene, die schon immer vor dem Infektionsort Schule gewarnt haben, werden sich bestätigt fühlen. Umso mehr, wenn dann in den Ferien die Corona-Zahlen bei den Schülern rasant runtergehen (könnte es an den dann vorübergehend nicht stattfindenden Pflichttests liegen?). 

 

All das könnte den Druck auf die Kultusminister erhöhen, ihr Versprechen, die anlasslosen Pflichttests an den Schulen bis Mai zu beenden, wieder zurückzunehmen. Womöglich gerät dann die Ampel sogar in Zugzwang, beim Infektionsschutzgesetz so nachzusteuern, dass nur an den Schulen die Maskenpflicht zurückkehrt?

 

Noch ist es nicht soweit. Doch die Art und Weise, wie über die Inzidenzen von Kindern und Jugendlichen diskutiert wurde und wird, lässt solche Szenarien nicht unwahrscheinlich erscheinen. Die Frage ist, wen in unserer Gesellschaft das am Ende noch kratzen würde. Denn für die meisten wird es sich tatsächlich bald so anfühlen, als sei die Pandemie vorbei. Übrigens gerade auch für jene älteren Altersgruppen, für die Corona bis heute ein viel höheres Gesundheitsrisiko darstellt als für die Jüngsten. Vielleicht sollten wir doch noch einmal über sie und ihren Alltag reden?



Deutlich mehr Ältere im Krankenhaus

Der Anteil der mit einer Corona-Infektion ins Krankenhaus eingewiesenen über 60-Jährigen steigt weiter. In der vorvergangenen Kalenderwoche 11 (das sind die neusten Zahlen in der RKI-Datenbank) lag er bei 64,8 Prozent, noch ein Prozentpunkt höher als in der Vorwoche. Der Anteil der unter 15-Jährigen an den Krankenhaus-Einweisungen lag demgegenüber zuletzt bei 7,5 Prozent. 

 

Drastisch ist auch die Entwicklung der registrierten Neuinfektionen in der älteren Generation. In Kalenderwoche 4 meldete das RKI rund 83.000 infizierte über 60-Jährige, in der vergangenen Kalenderwoche 12 waren es gut 240.000. Womit ihr Anteil an allen Neuinfektionen von 7,5 auf 15,3 Prozent stieg.

 

Zum Vergleich: In Kalenderwoche 4 infizierten sich nachweislich rund 311.000 Kinder zwischen 0 und 14 (28,1 Prozent von allen neuen Fällen), in Kalenderwoche 12 waren es nach vorläufigen 

Zahlen 258.000 (17,1 Prozent). Die unter 15-Jährigen stellen rund 13,8 Prozent der Bevölkerung, die über 60-Jährigen etwa 29 Prozent. 

 

Stabil blieb im Wochenvergleich erneut die Zahl der Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen. Gestern gab die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sie mit 2.374 an, acht weniger als sieben Tage zuvor. 

 

Die bundesweite Sieben-Tages-Inzidenz lag heute Morgen mit 1.663 rund vier Prozent niedriger als am vergangenen Mittwoch (1.734). Fünf Bundesländer (Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz) meldeten noch einen Anstieg, deutlichere Rückgänge (um zehn Prozent und mehr) gab es in Baden-Württemberg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen. 


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