KMK-Präsidentin Karin Prien rechnet mit 400.000 geflüchteten Schülern aus der Ukraine und fordert: Der Bund muss sich an der Finanzierung von 7000 zusätzlichen Lehrkräften, von Sozialarbeitern und Schulpsychologen beteiligen. Besonders dramatisch sei der Mangel an Therapieplätzen für Kinder: "Karl Lauterbach muss handeln."
Karin Prien (CDU) ist seit 2017 Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur Schleswig-Holsteins und Mitglied im CDU-Bundesvorstand. Foto: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Frau Prien, heute beraten die Regierungschefs von Bund und Ländern vor allem über den Ukrainekrieg und die Folgen.Warum forderte die Kultusministerkonferenz (KMK) als Reaktion auf die Geflüchteten lautstark ein Unterstützungsprogramm für die Hochschulen, aber bislang keines für die Schulen?
Selbstverständlich fordern wir, dass sich der Bund an der Finanzierung der zusätzlichen Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen beteiligt. Wir brauchen sie, um die Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine angemessen unterrichten und betreuen zu können. Ich gehe deutschlandweit von Kosten in Höhe von mindestens 2,2 Milliarden Euro aus, die müssen fair zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden. Dazu kommt, dass wir auch bei der Endgeräteausstattung für diese Schülerinnen und Schüler sowie für eventuelle Lizenzgebühren für Online-Angebote Bedarfe haben werden.
Warum trommeln Sie dann nicht viel lauter?
Wir haben uns mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verständigt, dass wir die inhaltlichen Gespräche über die nötigen Maßnahmen zwischen den Ministerien führen und nicht über die Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass die finanzwirksamen Verhandlungen derzeit bereits auf der Ebene der Regierungschefs von Bund und Ländern laufen, also über das Bundeskanzleramt und die Staatskanzleien – und zwar zu allen Fragen, die mit der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten in den Kommunen und Landkreisen zusammenhängen. Das gilt auch für die Kosten, die an den Schulen entstehen.
"Wir könnten das Bundesgeld sehr wohl ausgeben. Wenn doch etwas übrigbleiben sollte, zahlen wir es gern zurück"
Die Kostenschätzung von 2,2 Milliarden Euro erwähnen Sie heute zum ersten Mal. Könnte ein Grund für die auffällig lange öffentliche Zurückhaltung der Kultusminister bei dem Thema auch darin liegen, dass die Arbeitsmärkte für Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter und Schulpädagogen derart ausgeblutet sind? Dass Sie also gar nicht wüssten, wen Sie mit dem zusätzlichen Bundesmilliarden einstellen sollten?
Das halte ich für eine steile These. Wir sind immer noch in der Lage, in erheblichem Umfang Personal- der verschiedenen Professionen für die Schulen zu mobilisieren. Wir könnten das Geld also sehr wohl ausgeben. Wenn doch etwas übrigbleiben sollte, zahlen wir es sehr gern zurück.
Mit wie vielen ukrainischen Schülerinnen und Schülern rechnen Sie aktuell überhaupt?
Die Bundesregierung geht aktuell von rund einer Million Schutzsuchenden aus. Für Schleswig-Holstein wären das nach Verteilungsschlüssel etwa 35.000 Personen. Weil voraussichtlich mindestens 40 Prozent davon Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter sein werden, würde das rund 14.000 zusätzliche Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein bedeuten und gut 400.000 bundesweit.
Und je nach Verlauf des Ukraine-Krieges könnten es noch mehr werden. Gut 400.000 Schülerinnen und Schüler, welchem Bedarf an Lehrkräften und Sozialarbeiter entspricht das?
Auf Deutschland bezogen knapp 7000 Lehrerinnen und Lehrer und mindestens 400 Schulsozialarbeiter. Für Schleswig-Holstein allein brauchen wir zunächst mindestens 250 Lehrkräfte zuzüglich etwa 60 Schulsozialarbeitern und 30 Schulpsychologen extra.
"Wir aktivieren gerade alle uns
zur Verfügung stehenden Kanäle"
Wobei das schon sehr auf Kante gerechnet ist, wenn Sie nur eine Lehrkraft pro 60 Schülerinnen und Schüler ansetzen. Tatsächlich beträgt das Zahlenverhältnis an deutschen Schulen im Schnitt nämlich 1 zu 15. Aber selbst wenn man nur von den erwähnten 250 neuen Lehrerinnen und Lehrer für Schleswig-Holstein ausgeht: Wo wollen Sie die auf die Schnelle hernehmen?
Wir aktivieren gerade alle uns zur Verfügung stehenden Kanäle, von Lehramtsstudierenden in oberen Semestern über Seniorenlehrkräfte bis hin zu Pädagogen, die ihr Stundendeputat aufstocken wollen. Da gibt es immer noch Potenzial, natürlich nicht unendlich, aber immerhin. Das Gleiche gilt für Schulsozialarbeiter und Schulpädagogen. Uns hilft, dass wir in Schleswig-Holstein im Gegensatz zu anderen Bundesländern nie die Ausbildungskapazitäten für Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache (DAZ) heruntergefahren haben. Besonders freut mich außerdem, dass uns bereits Bewerbungen von 32 ukrainischen Lehrkräften vorliegen und wir acht schon einstellen konnten. Die Zahl der Stellen für ukrainische Lehrkräfte ist nach oben offen, wir hoffen also auf noch mehr. Wir werden versuchen, sie vor allem da einzusetzen, wo viele ukrainische Schülerinnen und Schüler sind. Denn natürlich konzentrieren sich die Geflüchteten stärker am Hamburger Rand und in den größeren Städten als in Nordfriesland oder in Dithmarschen.
Die ukrainische Generalkonsulin Irina Tybinka forderte Anfang März in unmissverständlichen Worten von der Kultusministerkonferenz, die ukrainischen Kinder und Jugendlichen nicht in Willkommensklassen zu packen, sondern sie möglichst viel auf Ukrainisch und nach ukrainischen Lehrplänen zu unterrichten.
Das wäre weder realistisch noch sinnvoll. Es besteht eine große Einigkeit in der KMK, dass die geflüchteten Schülerinnen und Schüler zunächst entweder in Willkommensklassen oder in den unteren Jahrgängen in den Regelklassen mit zusätzlichen Deutschkursen beschult werden. Bei uns in Schleswig-Holstein befinden sich diese in den sogenannten DAZ-Zentren, das sind schulartenübergreifende Schulverbünde. Sobald die Kinder und Jugendlichen über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen, wechseln sie in die Regelklassen. Denn darauf kommt es an: ihnen den Zugang zum deutschen Bildungssystem zu ermöglichen. Jüngere Schüler werden deshalb teilweise auch von Anfang an in die Regelklassen gehen können. Wir werden an DAZ-Zentren, wo ausreichend ukrainische Lehrkräfte vorhanden sind, einzelne Schulfächer auch in ukrainischer Sprache anbieten. Gerade um die Abschlussjahrgänge machen wir uns intensiv Gedanken. Ich verstehe, dass die ukrainische Regierung Wert auf die Pflege der ukrainischen Sprache und Identität legt.
Die ukrainische Regierung will die Priorität aber andersherum: zuerst Ukrainisch, dann der Rest. Damit die Kinder und Jugendlichen für die ukrainische Schule und Gesellschaft anschlussfähig bleiben.
Die ukrainische Regierung will wie schon zu Corona-Zeiten nun auch die Schulabschlüsse für die Klassen 9 und 11 pauschal anerkennen, so dass diese Anschlussfähigkeit gewährleistet ist. Außerdem hätte das ukrainische Schuljahr ohnehin nur bis zum 31. Mai gedauert, insofern verpassen die Schülerinnen und Schüler vorerst nicht ganz so viel ukrainischen Schulstoff. Ich sehe derzeit aber ein ganz anderes Problem.
"Die schlichte Wahrheit ist: Wir brauchen
dringend mehr Therapieplätze"
Und das wäre?
Viele Kinder und Jugendliche kommen mit traumatischen Erlebnissen zu uns nach Deutschland, sie bedürfen dringend einer therapeutischen Unterstützung. Doch sind die Behandlungskapazitäten schon jetzt erschöpft, weil die Coronakrise auch hierzulande erhebliche psychische Beeinträchtigungen verursacht hat, die zum Teil therapiert werden müssen. Wir erproben gerade mit recht gutem Erfolg Modelle, bei denen Lehrkräfte und Sozialarbeiter laientherapeutisch tätig werden, auf der Grundlage eines Leitfadens, den das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein erstellt hat. Aber die schlichte Wahrheit ist: Wir brauchen dringend mehr Therapieplätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch in der Psychotherapie. Die Wartezeit auf eine Therapie beträgt zum Teil über ein Jahr und hat sich im Vergleich zur Vor-Coronazeit verdoppelt. Eine gute Möglichkeit wäre es, mit Blick auf die Schulsozialarbeit sehr schnell in die Umsetzung des Startchancen-Programmes zu gehen.
Wo sollen die Therapeuten dafür herkommen?
Da ist der Bund gefordert. Karl Lauterbach muss handeln. Viele Psychotherapeuten haben nur eine Teilzeitzulassung. Über das Instrument der Ermächtigung muss das Bundesgesundheitsministerium zumindest zeitweise die Möglichkeit eröffnen, diese Teilzeitzulassungen aufzustocken. Das ist extrem wichtig, hier dürfen wir keine Zeit verlieren. Denn wir wissen: Die meisten psychischen Erkrankungen auch im Erwachsenenalter haben ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend.
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