Nach ihrem Versagen bei der Etablierung einer Impfpflicht für die Erwachsenen trägt die Politik eine klare moralische Verantwortung: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nie wieder für den Corona-Schutz der Älteren herangezogen werden.
AM ENDE SPIELT es kaum eine Rolle, wer welchen Anteil an der Verantwortung für das Impflicht-Desaster trägt. Zuvor bereits auf die Minimalvariante für Menschen über 60 zusammengeschrumpft, ist sie am Donnerstag im Bundestag gescheitert, wahrscheinlich endgültig. Daran änderten auch zunächst noch anderslautende Beteuerungen etwa von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wenig.
Dank einer FDP-Spitze, die sich mit ihrem Nein gegen den von ihren Koalitionspartnern unterstützten Antrag stellte und die Begründung dafür in einer langen Erklärung lieferte, unterschrieben unter anderem von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger? Dank einer Union, die wohl auch aus (wahl-)taktischen Gründen nicht bereit war, dem von Kanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach unterstützten Gesetzentwurf zuzustimmen? Dank SPD und Grünen, die als Retourkutsche ihrerseits anschließend nicht dem Unionsantrag zustimmten, obwohl dieser über einen "gestuften Impfmechanismus" zumindest die Perspektive auf eine Impfpflicht für besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen erhalten hätte? Nicht zu vernachlässigen auch der verheerende Eindruck, den der in Bezug auf künftige Corona-Regeln irrlichternde Lauterbach in den Tagen vor der Abstimmung hinterlassen und damit viel Unmut in Öffentlichkeit und Parlament verursacht hatte.
Es passte zu dem Gesamtbild, dass sich das politische Berlin nach dem Aus für die Impfpflicht ausgiebig mit der Debatte beschäftigte, wie groß die politische Niederlage für Lauterbach und für Bundeskanzler Olaf Scholz denn nun ausfalle.
Denn die eigentliche Niederlage erlitten jene, die in den Krankenhäusern seit Monaten mit dem Ansturm ungeimpfter Corona-Patienten kämpfen. Und daneben vor allem diejenigen, denen im Herbst wieder Lockdown-Szenarien drohen. Die Lauterbach in seiner ersten Reaktion auf die gescheiterte Abstimmung auch gleich wieder trotzig heraufbeschwor. Wen es dann, das lehrt die Pandemie-Erfahrung der vergangenen zwei Jahre, erneut besonders treffen würde? Die Kinder und Jugendlichen.
Monatelanger Distanzunterricht
und die strengsten Testpflichten
Es gehört zu den bitteren, obgleich nicht wirklich überraschenden Erkenntnissen des vergangenen Donnerstags: Die deutsche Politik ist mehrheitlich nicht bereit, der ungeimpften Minderheit ab 60 die verhältnismäßig kleine – vor allem aber angesichts ihrer persönlichen gesundheitlichen Gefährdung verhältnismäßige! – Zumutung einer Impfpflicht auszusetzen. Es ist dieselbe Politik, die vor allem zum Fremdschutz der Menschen ab 60 die Kinder und Jugendlichen erst monatelang im Distanzunterricht zu Hause hocken ließ. Um ihnen dann als einziger Altersgruppe und als längstes mehrmals in der Woche eine Testpflicht zu verordnen. Von den umfangreichen Einschränkungen ihrer sozialen Teilhabe ganz abgesehen. Wenn also im Herbst wieder Corona-Einschränkungen kämen, kann man sich ausrechnen, wer als erstes und besonders hart von ihnen getroffen würde.
So gibt es für all jene, die am Donnerstag nicht für eine Impfpflicht gestimmt haben, nur eine vor ihrem Gewissen zu verantwortende Konsequenz. Sie stehen gegenüber der jungen Generation in der Verantwortung, im Herbst alle aufkommenden Debatten über Einschränkungen für Kinder und Jugendliche – für Kitas, Schulen, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen – im Keim zu ersticken. Diese Verantwortung erstreckt sich auch auf alle Politiker von SPD, Grünen und Union, die zwar jeweils für ihren eigenen Impfpflicht-Antrag gestimmt, aber den der politischen Konkurrenz abgelehnt und damit im Endeffekt zum Debakel beigetragen haben.
Im Grunde ist es ja so, und es ist bestürzend, dass man überhaupt immer wieder daran erinnern muss: Lockdown-Maßnahmen und damit grundlegende Grundrecht-Einschränkungen sind gar nicht mehr gerechtfertigt, solange die Lage in den Krankenhäusern beherrschbar bleibt und die Impfung weiter so gut wirkt, dass sie zwar höchstens kurzfristig einen (gewissen) Ansteckungsschutz bietet, aber das Komplikationsrisiko für Geimpfte stark minimiert. Das gilt auch und gerade im Herbst – selbst wenn die Infektionszahlen und mit ihnen auch die schweren Verläufe vorrangig bei Ungeimpften wieder steigen sollten. So bitter das für die durch das Impfpflicht-Debakel im Regen stehengelassenen Ärzte und Pflegekräfte auch ist.
Falls aber der politische Druck dann doch wieder übermächtig werden sollte, die ungeimpften Alten zu schützen, dann muss bei allen Einschränkungen, die beschlossen werden, klar sein: Die Erwachsenen haben es versemmelt, die Erwachsenen müssen die Folgen tragen. Es wäre in der Pandemie in dieser Klarheit zum ersten Mal.
Nachtrag: Impfpflicht-Gegner begründen ihr Nein auch damit, dass die Impfung zumindest bei Omikron hauptsächlich einen Selbstschutz, aber kaum einen Fremdschutz vunerabler Gruppen biete – weshalb es sich um eine individuelle Entscheidung handeln müsse. Selbst wenn das mit dem kaum vorhandenen Fremdschutz so sein und auf Dauer (auch bei Weiterentwicklung von Virusvarianten und Impfstoff) so bleiben sollte, ist das Argument kaum stichhaltig, falls doch eine Vielzahl von Infektionen das Gesundheitssystem aller überlasten sollte. Und in jedem Fall würde nicht zusammenpassen, worum es mir in meinem Artikel geht: eine Impfpflicht scheitern und dann die sozialen Konsequenzen wieder zuerst und vor allem von den Kindern und Jugendlichen tragen zu lassen.
Fallende Corona-Zahlen, die Folge von weniger Tests und die Sonderkonjunktur der Älteren
DAS MINUS ist weiter kräftig. Im Wochenvergleich ging die Sieben-Tages-Inzidenz der gemeldeten Corona-Neuinfektionen um gut 24 Prozent auf 1.080 heute morgen zurück. Voraussichtlich noch diese Woche dürfte die 1.000er-Grenze unterschritten werden. Und die Zahlen sinken in allen Bundesländern stark – mit Ausnahme Hamburgs, wo die Inzidenz sogar um fast fünf Prozent auf 1.141 gestiegen ist.
Weil sich die Hansestadt zum Corona-Hotspot erklärte und deshalb noch mehr testet? Wenn, dann nur teilweise. Denn die Testpflicht in Restaurants und Einzelhandel ist auch in Hamburg bereits am 2. April gefallen. In den Kitas und Schulen hingegen wird mit dreimal die Woche noch häufiger getestet als in manch anderem Bundesland.
So ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen an allen nachweislich Neuinfizierten in Hamburg in der gestern zu Ende gegangenen Kalenderwoche von 15,4 auf 17,7 Prozent gestiegen, zeigen noch unvollständige Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Während er bundesweit weiter leicht zurückging: von 15,9 auf 15,4 Prozent.
Interessant ist als Gegenschnitt zu Hamburg der Blick nach Schleswig-Holstein, das die Testpflicht in Schulen bereits am 21. März beendet hat. Dort sank der Anteil der unter 15-Jährigen in der vergangenen Kalenderwoche weiter von 15,5 auf 14,0 Prozent.
Was aber bedeutet das? Es bedeutet logischerweise, dass die Dunkelziffer unter Schülerinnen und Schüler bei Abschaffung der Tests steigt. Es bedeutet aber auch, dass ihre Corona-Zahlen damit erstmals seit langem
wieder vergleichbarer werden mit den übrigen Altersgruppen, die nie vergleichsweise häufig getestet wurden. Und siehe da: Der Anteil der unter 15-Jährigen nähert sich mit Einschränkung oder Abschaffung der Pflichttests wieder ihrem Anteil an der Bevölkerung (bundesweite 13,8 Prozent) an. Was dafür spricht, dass es eben keine Corona-Sonderkonjunktur unter Schülern gibt.
Die existiert allerdings unter älteren Menschen. Ihr Anteil der über 60-Jährigen an allen gemeldete Neuinfektionen steigt und steigt. Mittlerweile liegt er bundesweit mit 16,2 Prozent deutlich über dem der unter 15-Jährigen (15,4 Prozent) – nach nur 7,5 Prozent im Januar ( bei damals 28 Prozent bei Kindern und Jugendlichen).
Auch wenn die 7-Tages-Inzidenz der über 60-Jährigen pro 100.000 immer noch unter dem Bevölkerungsschnitt liegt (und die der unter 15-Jährigen leicht darüber): Die Krankenhaus-Zahlen zeigen ebenfalls, wo der Augenmerk der Gesundheitspolitik hingehört. 66,3 Prozent der in Kalenderwoche 13 mit einer Corona-Infektion Eingewiesenen waren über 60. Und 6,5 Prozent unter 15. Ungeimpfte über 60-Jährige wurden laut RKI rund zehnmal so häufig eingeliefert wie geboosterte.
In keiner Altersgruppe ist der Unterschied zwischen Geimpfte und Ungeimpften so groß. Was ein hervorragendes Argument für eine Impfpflicht für über 60-Jährige gewesen wäre. Aber das Thema hat sich ja nun erledigt. Der Hinweis, bei welcher Altersgruppe neue Corona-Maßnahmen anzusetzen wären, falls die Politik sie jemals wieder in Erwägung zieht, dagegen nicht. Das war freilich nie anders. Nur hat die Politik die Kinder trotzdem stets besonders belastet.
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Uli (Montag, 18 April 2022 08:17)
Grundsätzlich Summe ich voll zu: Die Kinder dürfen nicht mehr belastet werden.
Das erreicht man aber nicht durch eine schlecht begründete Impfpflicht oder durch einen bockigen Minister. Denn folgendes wurde im Artikel vergessen: 1. Bis diese wirkt, ist die natürliche Immunisierung auch bei den über 60jährigen vermutlich so weit fortgeschritten, dass eine Impfpflicht nicht mehr viel bringt.
Zudem durch Omicron die Anzahl an Hospitalisierungen insgesamt lange nicht mehr so hoch ist wie davor. 2. Die Booster werden auch von Fachleuten kritisch gesehen. Ab der vierten Impfung ist der Schutz nicht mehr so hoch und es treten mehr Nebenwirkungen auf. Zudem sind Nebenwirkungen bei uns schlecht erfasst; an der Charité geht man von 70% Untererfassung aus. Das ist eine schlechte Basis für eine Impfpflicht.
Besser wäre es, die Vulnerablen in den Fokus zu nehmen.
Also etwas zu tun, dem man sich immer verweigert hat: 1. die Maßnahmen auf die über 60jährigen konzentrieren und 2. die natürliche Immunisierung anerkennen.
So wie unter 18jährige zu ihrem eigenen Schutz um 22 Uhr aus der Disko geworfen werden, müssten bei steigender Gefahr über 60jährige ohne Immunitätsausweis (egal ob Impfung, PCR oder Antikörper und egal wie alt) an riskanten Orten zu ihrem eigenen Schutz abgewiesen werden.