Der Vizepräsident der Humboldt-Universität, Ludwig Kronthaler, über seinen Rücktritt, über den von ihm befürchteten Schlamassel für Berlins Wissenschaft – und welche Ideologie er hinter dem neuen Hochschulgesetz sieht.
Ludwig Kronthaler, 64, ist seit 2017 Vizepräsident für Haushalt, Personal und Technik der Humboldt-Universität zu Berlin, vorher war er unter anderem Generalsekretär der Max-Planck-Gesellschaft. Foto: HU Berlin.
Herr Kronthaler, warum haben Sie Anfang April Ihren Rücktritt als Vizepräsident der Humboldt-Universität (HU) angekündigt?
Weil ich die Novelle des Berliner Hochschulgesetzes (BerlHG) in ihrer Gesamtheit für schädlich für die Wissenschaft halte, gerade auch für die HU, und nicht an ihrer Umsetzung mitwirken möchte. Mein Rücktritt richtet sich nicht gegen die Humboldt-Universität und schon gar nicht gegen ihre Mitglieder, sondern gegen die Art von Politik, für die das neue BerlHG steht.
Und welche Politik ist das?
Eine Wissenschaftspolitik des Durchregierens, der Beschränkung von Hochschulautonomie und der Beschneidung der Wissenschaftsfreiheit. Ich verstehe den gesetzgeberischen Anlass für diese große Novelle nicht: Die Wissenschaft in Berlin hat sich in den letzten 10 Jahren hervorragend entwickelt. Warum muss man sie jetzt in ein enges Korsett stecken, das ihr die Luft zum Atmen nimmt und sie absehbar beschädigen wird?
Das sind harsche Worte.
In der Tat, aber ich kann Ihnen jeden meiner Vorwürfe belegen. Zunächst zum Durchregieren: Mit der Novelle werden kraft Gesetzes nun auch die letzten Kuratorien der Berliner Hochschulen aus ihrer Verantwortung als Dienstvorgesetzte der Hochschulleitungen entlassen und diese der Senatsverwaltung weisungsgebunden unterstellt. Das Prinzip der Staatsferne, das man in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg ganz bewusst etabliert hat, um einen Durchgriff des Staates auf die Hochschulen zu verhindern, wird aufgegeben. Warum glaubt man auf das Prinzip der Staatsferne verzichten zu können? Weil die vermeintlich "richtige" Regierung die Macht zum Durchregieren hat?
"Ich empfinde es als persönliche Belastung, in
meiner Dienstausübung jetzt von der Senatsverwaltung Anweisungen erhalten zu können."
Sie sehen sich als künftiger Befehlsempfänger von Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote?
Ich bin 2016 unter anderen Bedingungen zur Wahl angetreten und habe mich 2021 unter anderen Bedingungen zur Wiederwahl gestellt. Insofern empfinde ich es tatsächlich als persönliche Belastung, in meiner Dienstausübung jetzt von der Senatsverwaltung Anweisungen erhalten zu können. Das wird auch der HU auf Dauer nicht guttun. Und das berührt dann übrigens auch schon den zweiten Punkt meiner Kritik.
Die Einschränkung der Hochschulautonomie?
Die ja weit über die Dienstvorgesetzten-Frage hinausgeht. Nehmen Sie die Struktur- und Entwicklungspläne der Hochschulen, deren Erstellung zu den ureigenen Aufgaben und Rechten der Wissenschaft gehören sollte. Nun müssen wir künftig bei allem, was wir planen und auch ändern wollen, den Bedarf aller anderen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstitute mitbedenken. Ob wir das "gut und angemessen" getan haben, darüber befinden nicht wir, sondern die Senatsverwaltung für Wissenschaft. Dieser müssen die Strukturentwicklungspläne zwar "nur" vorgelegt werden. Sie kann dann aber nach eigenem Ermessen zum Beispiel darüber entscheiden, ob sie Stellen zur Besetzung freigibt oder eben nicht. Und eben jetzt auch Dienstanweisungen erteilen. Das wird nicht zu einer wissenschaftsadäquaten Planung führen, sondern zu hunderttausend Kompromissen, in denen die sich durchsetzen, die am lautesten schreien.
Wer schreit denn am lautesten?
Das werden wir sehen. Ganz selten die Besten in der Wissenschaft. Jedenfalls macht das die Hochschulen unfähig, in Autonomie eine eigene Strategie zu entwickeln. Aber das neue Hochschulgesetz lähmt uns weiter, weil es künftig jede Reform der inneren Organisation der Hochschulen, so sinnvoll sie auch sein mag, nahezu unmöglich macht. Wörtlich heißt es im Gesetz (Paragraf 7a): "Unzulässig sind Abweichungen, die darauf abzielen, die den Hochschulmitgliedern nach diesem Gesetz eingeräumten Mitwirkungsrechte einzuschränken." Das ist aber praktisch immer der Fall, sobald auch nur eine Zuständigkeit von einem Gremium, zum Beispiel vom Akademischen Senat in das Kuratorium oder die Hochschulleitung verschoben werden soll. Da geht jetzt praktisch gar nichts mehr.
"Die Folgenabschätzung für neue Forschungsergebnisse gehört zur Grundaufgabe der Wissenschaft, in Eigenverantwortung. Und da sollte sie auch bleiben."
Und Sie hören sich immer noch nicht so an, als sei es das mit Ihrer Kritik gewesen.
Richtig. Das neue BerlHG schränkt ganz entscheidend und verfassungswidrig die Wissenschaftsfreiheit ein. Das Gesetz bestimmt, dass Forschung friedlichen Zwecken dienen "soll". Klingt harmlos, heißt aber, dass alles unterlassen werden muss, was das Potenzial zu "Dual Use" hat. Wenn Forschungsergebnisse also potenziell auch vom Militär eingesetzt werden könnten, verbieten sich dann Forschungsprojekte von Anfang an? Denn "soll" heißt "muss", wenn es keine gut begründeten Ausnahmen gibt. Das verunsichert die Wissenschaft. Was ist denn, wenn jemand an neuen Technologien der Fernerkundung forscht oder an Verfahren, um Oberflächen von Radioaktivität zu befreien? Oder eben Grundlagenforschung betreibt, zweckfrei nach neuen Erkenntnissen sucht, deren Nutzungspotenzial man noch gar nicht kennen kann? Und wer entscheidet, was erlaubt ist und was nicht? Die Senatsverwaltung? Auf der Grundlage welcher Expertise?
Aber es muss doch der Politik erlaubt sein, offensichtlich unethische Forschung zu verhindern.
Als die Politik 2002 die Forschung mit embryonalen Stammzellen untersagt hat, hat sie für einen einzigen konkreten Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit ein eigenes Gesetzgebungsverfahren gemacht. Und das ist auch der einzig korrekte, verfassungskonforme Weg der Güterabwägung. Im Gegensatz zu dieser pauschalen, beliebig interpretierbaren Formulierung im BerlHG – die unbestimmt ist und überbordend zugleich. Die Folgenabschätzung für neue Forschungsergebnisse und Technologien gehört zur moralisch-ethischen Grundaufgabe der Wissenschaft, und zwar in ihrer Eigenverantwortung. Und genau da sollte sie auch bleiben.
Lassen Sie uns an der Stelle mal einen Punkt machen. Wenn Sie das neue Berliner Hochschulgesetz von Anfang bis Ende empörend finden, warum haben Sie mit Ihrem Rücktritt überhaupt so lange gewartet? Die damalige HU-Präsidentin Sabine Kunst ist schon zum Jahresende 2021 gegangen. Und alle von Ihnen erwähnten Bestimmungen stehen in der am 24. September im Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedeten Fassung.
Den Gedanken habe ich damals bereits erwogen, aber ich wollte die HU nicht mehr als notwendig belasten, indem ich gleichzeitig mit Frau Kunst zurücktrete. Außerdem wollte ich der angekündigten Reparatur eine Chance geben. Jetzt zeigt sich: Das Reparaturgesetz ist enttäuschend. Es greift nicht nur viel zu kurz, in Teilen bedeutet es sogar eine weitere Verschärfung.
"Der Paragraf 110 verkörpert auf ikonische Weise
die in Berlin verbreitete Ideologie."
Angekündigt war von Anfang an allerdings auch nicht eine Reparatur des gesamten Gesetzes, sondern lediglich des Paragrafen 110, den die Hochschulen besonders stark kritisiert hatten und den auch Sabine Kunst als expliziten Grund für ihren Rücktritt nannte.
Er verkörpert auf ikonische Weise die in Berlin verbreitete Ideologie. Diese Ideologie geht so: Für uns kommt es nicht in erster Linie auf wissenschaftliche Leistungsfähigkeit an, sondern für uns haben arbeits- und sozialpolitische Ziele Priorität. Wir wollen, dass sich alle an den Hochschulen Arbeitenden wohl fühlen und möglichst auf Dauer bleiben können. Individuelle Ansprüche gehen vor wissenschaftliche Exzellenz und Zukunftsfähigkeit des Wissenschaftssystems. Wettbewerb schadet bei einer solchen Haltung nur.
Ist das nicht überzeichnet dargestellt?
Ich überzeichne nicht, ich spitze zu. Dieselbe Ideologie findet sich überall im Gesetz, der Text ist da schon von den Längen her entlarvend. Die Regelungen zu den Zuständigkeiten und Kompetenzen der selbstständigen Beauftragten für Diversität, Antidiskriminierung und Gleichstellung sind in der Relation zu anderen Regelungen extrem umfangreich formuliert. Alle diese Aspekte sind bereits in allgemeinen Gesetzen geregelt, die auch die Hochschulen binden: Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz des Bundes, das Landesgleichstellungsgesetz, das Landesgleichberechtigungsgesetz, das Landesantidiskriminierungsgesetz, das Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin.
Was aber offensichtlich nicht reicht, wenn man sich die Situation in den Hochschulen anschaut.
Es ist wichtig, dass die Fairness in der Wissenschaft gefördert wird. Denn natürlich gelingen wissenschaftliche Spitzenleistungen vor allem dann, wenn man mit den eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen zufrieden ist. Umgekehrt führt Zufriedenheit aber nicht notwendig zu wissenschaftlichen Spitzenleistungen. Und es macht einen Unterschied, ob wir dazu die allgemeinen Gesetze zu beachten haben oder ob diese Aspekte als gleichberechtigte Hauptaufgaben der Hochschulen neben der Wissenschaft formuliert werden. Dann werden sie zum Selbstzweck und zur Selbstbeschäftigung – und die raison d`être der Hochschule, ihre Wissenschaftlichkeit tritt in den Hintergrund.
Nochmal zurück zu Ihrer Rücktritts-Ankündigung. Als Grund dafür nennen Sie das Gesetz in einer Gesamtheit – von dem die Senatsverwaltung sagt, es sei seit 2020 im Wesentlichen im Einklang mit den Hochschulleitungen ausgearbeitet worden. Von Forderungen nach mehr Autonomie und Gestaltungsraum sei da nie die Rede gewesen.
Das ist nicht wahr! In der Tat hat eine Delegation der Hochschulen im Sommer 2020 über Monate praktisch jede Woche mit der Senatskanzlei zusammengesessen und den ursprünglichen Gesetzentwurf rauf und runter diskutiert. Da waren auch Kröten drin, doch am Ende entstand eine Fassung, bei der die Hochschulen gesagt haben: In Gottes Namen, dann soll es eben so sein, insgesamt können wir damit leben. Dann passierte lange nichts mehr. Bis im Frühjahr 2021 die Senatskanzlei dem Abgeordnetenhaus einen deutlich veränderten und zulasten der Wissenschaft verschärften Gesetzentwurf vorlegte. Gegen den die Hochschulleitungen sich heftig gewehrt haben, auch öffentlich, das kann ich Ihnen sagen. Diese Kritik empfanden die im Weggehen begriffenen Herren Müller und Krach....
der ehemalige Regierende Bürgermeister und sein Wissenschaftsstaatssekretär...
...als derart unangemessen, dass sie darauf nicht eingegangen sind und sie haben das Gesetzgebungsverfahren einfach laufen lassen, auch als ihre Steuerungsverantwortung gefragt gewesen wäre.
"Damit verabschiedet sich Berlin aus der internationalen Netzwerkbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses."
Sie meinen den Paragraf 110, Absatz 6, Satz 2.
Ich meine diese Nacht- und Nebelaktion, als quasi in einer Redaktionssitzung von ein paar Parlamentariern eine hochschulpolitische Revolution ins Gesetz geschrieben wurde: Postdocs nur noch mit Dauerbeschäftigung. Die Hochschulen sind gar nicht mehr zur Stellungnahme eingeladen worden. Das hat zu einer so großen Empörung unter den Hochschulleitungen geführt, dass alle anderen kritischen Punkte der Gesetzesnovelle erstmal in den Hintergrund getreten sind. Also all die Punkte, die ich hier kritisiere.
Vorhin haben Sie gesagt, die sogenannte Reparaturnovelle habe die Regelung sogar noch verschärft, inwiefern?
In der ursprünglichen Fassung vom 24. September stand, dass die Anschlusszusage einer festen Stelle für Postdocs nur gilt, wenn es sich bei dem "im Arbeitsvertrag genannten Qualifikationsziel um eine Habilitation, ein Habilitationsäquivalent, den Erwerb von Lehrerfahrung und Lehrbefähigung oder um sonstige Leistungen zum Erwerb der Berufungsfähigkeit" handelt. Im Reparaturgesetz ist diese Einschränkung entfallen, so dass auch Postdocs, die gar keine wissenschaftliche Karriere in Berlin anstreben, sondern einfach auf den international üblichen "Lehr- und Wanderjahren" sind, in Berlin nicht mehr befristet beschäftigt werden dürfen. Damit verabschiedet sich Berlin teilweise aus der internationalen Netzwerkbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Dafür gilt jetzt eine Übergangsregelung und es wurde klargestellt, dass die Regelung nicht für Mittel aus Bundes- und Länder-Programmen gilt, also etwa aus der Exzellenzstrategie. So dass der Exzellenzverbund Berlin University Alliance (BUA) seinen wegen des BerlHG verhängten Einstellungsstopp aufheben kann.
Das ist in der Tat ein positiver Aspekt. Aber die angekündigte Übergangregelung, dass der Paragraf erst für alle nach dem 1. Oktober 2023 eingestellten Postdoktoranden in Kraft treten soll, wird ja von Abgeordneten der Regierungsfraktionen schon wieder in Frage gestellt. Und ich möchte das hier noch einmal unterstreichen: Das Präsidium der HU hat begründete Zweifel daran, ob das Land an dieser Stelle über eine Gesetzgebungskompetenz verfügt und deshalb gegen das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben. Das sollte man nicht vergessen.
Nachdem Sie Ihren Rücktritt angekündigt hatten, sagte Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote im Abgeordnetenhaus, Sie hätten sie im Vorfeld "kein einziges Mal kontaktiert, um Bedenken zum BerlHG zu äußern".
Dass die Hochschulen sich seit September nicht mit Kritik am Hochschulgesetz als Ganzes geäußert haben, stimmt nicht. Die Präsidien haben wiederholt und sehr klar gesagt, was sich ihres Erachtens mindestens ändern muss. Daraufhin bekamen sie aber keine Reaktion, sondern es folgte ein Reparaturgesetz, das sich nur auf Artikel 110, Absatz 6 Satz 2 bezog. Damit, dass ich sie nicht persönlich angerufen habe, hat Frau Senatorin Gote allerdings Recht. Was hätte ich ihr aber auch sagen sollen? "Entweder ändern Sie das Gesetz, oder ich trete zurück?" So einen Einfluss habe ich nicht.
"Ich werde der Ermutigung durch Frau Gote nachkommen und ihr noch einmal die aus meiner Sicht wichtigsten Reparaturbedarfe der Novelle mitteilen."
Frau Gote hätte sich offenbar über ein persönliches Wort gefreut.
Ich schätze den Mut von Frau Gote, diese Aufgabe hier in Berlin übernommen zu haben, und beneide sie nicht, dass sie die Verantwortung für den absehbaren Schaden für die Wissenschaft trägt, ohne an der BerlHG-Novelle persönlich mitgewirkt zu haben. Im Übrigen glaube ich mittlerweile nicht mehr, dass es noch möglich sein wird, diese Novelle substanziell zu verändern. Ich würde mir wünschen, dass man noch zur Besinnung und Berlin als Wissenschaftsstandort aus diesem ganzen Schlamassel herauskommt. Aber wie das gehen soll, da bin ich ratlos. Gleichwohl werde ich der persönlichen Ermutigung durch Frau Gote nachkommen und ihr noch einmal die aus meiner Sicht wichtigsten Reparaturbedarfe der Gesetzesnovelle mitteilen.
Mit Verlaub: Wenn man Ihnen zuhört, hat man nicht den Eindruck, dass Sie der Initiative "#IchBinHanna" und ihren Forderungen mit besonders viel Respekt begegnen.
Und ich habe nicht den Eindruck, dass gesehen wird, was die Hochschulen schon alles geändert haben. 2016 wurde das Konzept zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der HU durch den Akademischen Senat beschlossen. 2017 wurde durch die Universitätsleitung das Personalentwicklungskonzept zur Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses verabschiedet. Die Inhalte wurden weitestgehend umgesetzt und umfassen: strukturierte Doktorandenausbildung, Betreuungsvereinbarungen, Trennung von Betreuung und Begutachtung, Auswahl der Promovierenden im Vier-Augen-Prinzip. Die Richtlinie der Präsidentin sieht vor, dass hinreichend lange Vertragszeiten für die Qualifizierung vorgesehen werden müssen und ordnet im Minimum drei Jahre für die Promotion an, was bereits Wirkung zeitigt.
"#IchBinHanna" geht es aber vor allem auch um klare Karriereperspektiven nach der Promotion. Was haben Sie da zu bieten?
Aber die HU hat doch geliefert! Und zwar überobligatorisch. Mit dem Land wurde im Hochschulvertrag 2018 bis 2022 vereinbart, dass die Quote der Dauerbeschäftigung im wissenschaftlichen Mittelbau bis 2022 auf 35 Prozent steigen soll. An der HU haben wir bereits 40 Prozent erreicht! Wenn jetzt das Land handstreichartig und einseitig eine sofortige Quote von 100 Prozent vorschreibt, wird doch das Land vertragsbrüchig und nicht die HU. Dies unabhängig davon, dass die vorgeschriebene Quote von 100 Prozent zum Ende der kontinuierlichen Qualifizierungsmöglichkeit an den Berliner Hochschulen führt und nachfolgende Jahrgänge kreativer Genies nicht mehr an den Start lässt. Und deshalb auch gegen die bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt. Vielleicht sollte man aber auch endlich eines der Kernprobleme ansprechen: Die Grundfinanzierung der Hochschulen durch die Länder ist nicht auskömmlich und wurde seit Jahren um jeweils befristete Forschungsfinanzierung mit Drittmitteln des Bundes ergänzt. Es gibt deutlich mehr Postdocs auf Drittmittel- als auf Haushaltsstellen, die dann zusätzlich auf haushaltsfinanzierte Dauerstellen/Professuren der Hochschulen drängen, deren Grundfinanzierung rückläufig war und ist. Solange sich am Verhältnis von Grund- und Drittmittelfinanzierung nichts substanziell ändert, führen Änderungsversuche wie im Paragraf 110 des BerlHG nur zu Problemen an anderen Stellen.
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Karl Raimund (Mittwoch, 13 April 2022 11:05)
Die größten Kritikpunkte sind in (fast) allen anderen Bundesländern schon lange bewährter Standard - ohne dass die Forschung eingestellt würde oder das Abendland unterging. Ich frage mich, was Herrn Kronthaler wirklich zum Rücktritt bewogen haben mag...
Ein Postdoc der HU Berlin (Mittwoch, 13 April 2022 12:13)
Ich stimme meinem Vorkommentator #1 zu: Wer glaubt, der einzige VP zu sein, der mit bestimmten Einschränkungen der Hochschul- bzw. Präsidiumsautonomie leben zu müssen (nach z.T. Mißbrauch dieser, wie z.B. aus NW berichtet wurde), sollte sich möglicherweise besser informieren (lassen). Und sich auch die Synopsen von LHG-Novellen mehrerer anderer Länder anschauen, selbst wenn er kurz vor der Rente steht - oder schleunigst in diese gehen.
Außerdem sehe ich - neben einigen hier im Interview von Kronthaler geäußerten z.T. extrem undifferenzierten Formulierungen - auc einige Faktendarstellungen als in der Sache höchst fragwürdig an. Ein Beispiel: So ist nicht etwa an der HU ein Anteil von "bereits 40 Prozent erreicht" (an den entfristeten WiMi-Haushaltsstellen, und nur diese sind ja überhaupt betroffen), wobei er die Berechnungsgrundlage hierfür schuldig bleibt. Vielmehr stieg der Anteil nach offziellen Zahlen zwischen 2018 und 2020 lediglich von 25,3 auf 26,4 Prozent und verfehlt damit die seit etlichen Jahren von der HU selbst mit dem Land in den Hochschulveträgen vereinbarten 35% nach wie vor deutlich (genauer siehe auch https://www.jmwiarda.de/2022/03/10/teurer-paragraf/). Wenn es in diesem Tempo weitergehen würde, erreicht die HU das vor etlichen Jahren selbst vereinbarte Ziel in welchem Jahr?
Was Kronthaler wirklich zum Rücktritt bewegt haben mag, bleibt jedenfalls in der Sache weiter unklar - bestärkt aber gerade damit die Vermutungen, dass er schlicht amtsmüde ist und die anstehenden Herausforderungen scheut - und das schon länger (siehe auch Kommentierung zu https://www.jmwiarda.de/2022/04/01/hu-vizepr%C3%A4sident-kronthaler-tritt-zur%C3%BCck/).
Sunzi (Mittwoch, 13 April 2022 12:34)
Kronthaler hat insoweit Recht, als diese Gesetzgebung ausdrückt, daß die Politik den Unileitungen mißtraut. Nur sollte er sich fragen, woher dieses Mißtrauen kommt: Die Unileitungen haben sich doch in den letzten Jahren immer selbstherrlicher von der eigentlichen Forschung & Lehre abgekoppelt, vor allem ihre eigene Macht gemehrt und sich mit Prestigeprojekten gebrüstet, während andere die Arbeit gemacht haben. Ich erinnere z.B. an den peinlichen Auftrieb Berliner Wissenschaftsfunktionäre nach dem Nobelpreis für Charpentier.
Dieses Verhaltensmuster war mitnichten "wissenschaftsadäquat". Jetzt wird die Macht der Unileitungen eben gestutzt; das ist eine rationale politische Reaktion.
Frank Ziegele (Mittwoch, 13 April 2022 13:29)
„Standard in anderen Bundesländern“ stimmt nicht. Die anderen Länder bewegen sich weiter in Richtung Autonomie der Hochschulen, zuletzt beispielsweise Hessen. Überregulierung bremst die Hochschulen aus.
Carl Gustaf (Mittwoch, 13 April 2022 14:06)
Zwei interessante Entwicklungen: Während man in Bayern politisch auf eine größere Autonomie der Hochschulen hinarbeitet, nimmt man in Berlin die Hochschulen politisch an die "kurze Leine".
Herr Kronthaler hat das Alter, um ohne Einbußen in der Karriere die Fundamentalkritik in Form eines Rücktritts zum Ausdruck zu bringen. Es schadet weder ihm noch der Einrichtung.
Die Kritik an den Fehlentwicklungen (nicht nur in Berlin) ist jedoch in fast allen Punkten angebracht.
Daniel Nüst (Mittwoch, 13 April 2022 14:10)
Zu den 'international üblichen "Lehr- und Wanderjahren"' kann ich der Argumentation nicht folgen und finde es schade, dass hier Scheinargumente stehen gelassen werden. Wenn das doch üblich ist, und die Leute wandern wollen, dann werden sie sich auch von unbefristeten Stellen wieder weg bewerben! Ein Blick in die Industrie, wo studierte in der Mehrheit unbefristet angestellt ist, zeigt doch, dass trotzdem Bewegung im Arbeitsmarkt ist und die "Genies" von denen gesprochen wird auch bereits sind neue Stellen anzutreten.
"Netzwerkbildung" geht nur durch befristete Arbeitsverhältnisse und Nomadentum? Diese Sichtweise funktioniert nur, wenn man Lebensläufe nach den Namen der Stationen und Institutionen der Koautor*innen bewertet, nicht nach dem Inhalt der geleisteten Arbeit.
Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 13 April 2022 14:38)
Liebe Leserinnen und Leser,
ich freue mich wie immer über engagierte Diskussionen und Kritik! Aber bitte keine Kritik ad hominem. Deshalb habe ich bei "Noch 'ne Hanna" einen Satz entfernen müssen.
Beste Grüße
Ihr Jan-Martin Wiarda
Noch 'ne Hanna (Mittwoch, 13 April 2022 14:40)
@Karl Raimund:
Es ist nur eine Mutmaßung, aber ich vermute, dass die erwähnte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Der Grund: Die HU und damit auch Frau Kunst hatte gar nicht die
notwendige Grundrechtsträgereigenschaft für diese spezifische Verfassungsbeschwerde. Nach dem Gutachten von Ruffert rügt die HU, dass der Landesgesetzgeber eine Regelung im Arbeitsrecht und damit
außerhalb seiner Kompetenz getroffen hat. Diese spezifische Rüge ist nicht mehr vom Schutzbereich des Art. 5(3) GG erfasst, weil es eben nicht um die Wissenschaftsfreiheit geht, sondern - wie gerade
Herr Ruffert ja immer wieder betont hat - um Arbeitsrecht. Das BVerfG hat zwar das "Recht" der Universitäten bestätigt, das wissenschaftliche Personal zu befristen, daraus folgt aber nicht, dass die
begrenzte Grundrechtsträgereigenschaft der HU als juristischer Person beliebig ausdehnbar ist, weil sonst die Gefahr bestünde, dass der Sinn des Grundgesetzes ins Gegenteil verkehrt wird: Die HU ist
grundsätzlich grundrechtsverpflichtet, nicht grundrechtsberechtigt, so dass die betroffenen Grundrechte der Mitarbeiter*innen abzuwägen sind. Die Fraktionen der CDU und FDP im Berliner
Abgeordnetenhaus haben jetzt noch einmal eine wahrscheinlich zulässige Normenkontrollklage beim Berliner Landesverfassungsgericht eingereicht. Aus dem Interview
kann man die Schnappatmung regelrecht rauslesen und wie Sie ganz richtig festgestellt haben, hat die Berliner Politik lediglich unfaire Wettbewerbsvorteile der Berliner Universitäten in der ExStra
gegenüber anderen Bundesländern beseitigt. Man möchte es nicht wahrhaben, aber die "Exzellenz" ist durch großzügige Deputatsreduktionen und weitgehende Autonomie in der Leistungsbezügevergabe
tatsächlich käuflich, zu Lasten kleinerer Universitäten in Bundesländern mit geringer ausgeprägter Hochschulautonomie. Ich musste mich mit der Materie befassen, weil ich zeitgleich mit der HU
Verfassungsbeschwerde eingereicht habe und dabei speziell die (mMn) teilweise grundrechtswidrige Amtsführung des Bremer Kollegen von Herrn Kronthaler gerügt habe.
Karl Raimund (Mittwoch, 13 April 2022 15:30)
@Ziegele: auch in Hessen sind Universitäten dem Ministerium nachgeordnete Behörden - sprich: weisungsgebunden. Und auch in Hessen sind die Aufgaben der Hochschulgremien klar festgelegt und zugewiesen. Das mag auf den einen oder anderen wie "durchregieren, beschränken und beschneiden" erscheinen. Letztlich ist es aber lediglich das Ende der Gutsherrenart. Bürokratie ist nicht das Gegenteil von Freiheit. Bürokratie ist das Gegenteil von Willkür...
Thomas Grünewald (Mittwoch, 13 April 2022 16:45)
Die formale Autonomie der Hochschulen ist im Ländervergleich relativ. Mehr als darauf kommt es auf das Vertrauen zwischen Land und Hochschulen an. Wer Verantwortung für die Karrieren von PostDocs wahrnehmen will, braucht viel Geld und gute strukturelle Lösungen. Beides findet sich nur im Zusammenwirken von Land und Hochschulen. Fehlt das Vertrauen, unterbleibt der Schulterschluss, und am Ende wenden sich die guten Leute ab.
Ich war mal Hannes (Mittwoch, 13 April 2022 17:04)
Jüngst stieß ich auf ein sehr interessantes Dokument aus dem Jahre 1997 vom leider viel zu früh verstorbenen Hartmut Boockmann: "Göttingen. Vergangenheit und Gegenwart einer europäischen Universität", Vandenhoeck & Ruprecht. Diese ca. 90 Seiten erklären ziemlich gut, was eine Universität ist bzw. sein sollte. Der Mediävist Boockmann war in den 90'er Jahren auch für einige Jahre nach der Wende an der Humboldt-Universität tätig.
Ein anderes hochinteressantes Buch ist "Die Humboldt- Universität Unter den Linden, 1945 bis 1990", Zeitzeugen -
Einblicke - Analysen" von Girnus und Meyer aus dem Leipziger Universitätsverlag 2010.
Datenversteher (Donnerstag, 14 April 2022 13:03)
Die Frage von Nummer 2 zur Datengrundlage lässt sich durch einen Blick ins Gesetz leicht beantworten. Das Ziel von 35% Dauerbeschäftigung nach Kapitel V Ziffer 1.7 des Hochschulvertrages im
„akademischen Mittelbau“ bezieht sich auf „hauptberufliches wissenschaftliches und künstlerische Personal“. Das definiert § 92 Abs. 1 BerlHG wie folgt:
„(1) Das hauptberuflich tätige wissenschaftliche und künstlerische Personal der Universitäten besteht aus den Professoren und Professorinnen, den Juniorprofessoren und Juniorprofessorinnen, den
Hochschuldozenten und Hochschuldozentinnen, den wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie den Lehrkräften für besondere Aufgaben.“ Zur Teilmenge des „akademischen
Mittelbaus“ gehören daher neben den wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeitern auch die Lehrkräfte für besondere Aufgaben und auch die Hochschuldozentinnen und Hochschuldozenten. Und hierauf
beziehen sich die genannten 40% an der HU.
Tobias Denskus (Donnerstag, 14 April 2022 16:10)
Laut Wikipedia arbeiten mehr als 3700 Menschen an der HU. Seltsam, dass sich ausser dem Rektorat niemand fuer Wissenschaftsfreiheit und gegen politische Uebergriffigkeit einsetzen möchte, wo doch die Uni in ihren Grundfesten erschuettert worden zu sein scheint...das legt den Verdacht nahe, dass es trotz anderer juristischer Interpretationen so schlimm nicht sein kann und es andere Motive fuer Ruecktritte gibt. Und bitte, bitte hört endlich mit diesem "unbefristete Stellen machen faul/träge/Netzwerke kaputt" Unsinn auf. Ich bin seit 8 Jahren in Schweden auf einer unbefristeten Vollzeitstelle und wir stellen regelmässig neue Kolleginnen ein, weil Fluktuation ein ganz normaler Vorgang im öffentlichen Dienst ist-vom Post-Doc bis zur Professorin...
HU Prof (Donnerstag, 14 April 2022 16:16)
Was in der §110er Diskussion häufig vergessen wird: was für die Geisteswissenschaften an der HU erstrebenswert erscheint, ist in den Naturwissenschaften z.T. völlig anders. In meiner Arbeitsgruppe gibt es 10 Leute mit 7 Nationalitäten. Bildungsinländer: nur zwei. Deutsch wird bei uns fast nie gesprochen. Eine Daueranstellung an der Uni und insbesondere in Berlin ist nur für eine Minderheit überhaupt erstrebenswert. Meine ehemaligen Mitarbeiter verdienen zumeist mehr Geld als ich und haben eine bessere Work-Life Balance. Ich habe schlaflose Nächte weil ich nicht weiss wie ich meinen Postdoc kurzfristig vor Arbeitslosigkeit retten soll. Wir haben im Institut in 03/2021 eine Entfristung eines Postdocs beschlossen. Wird leider von der Senatsverwaltung nicht ausgeführt, da zu teuer, obwohl das Institut die zusätzlichen Mittel aufbringt. So sieht die Realität hinter dem Gesetz aus. Es geht nur um linkes Image.
Ulrike Quapp (Donnerstag, 14 April 2022 20:16)
Messerscharfe, klare Analyse von Kronthaler. Bravo.
Jede Hochschule könnte dankbar sein für solch einen Vizepräsidenten.
St. L. (Donnerstag, 14 April 2022 21:57)
Es ist nur eine Vermutung. Aber kann es nicht auch sein, dass Kronthaler den Rücktritt in Erwartung eines möglichen Konflikts zu von Blumenthal in Erwägung gezogen hat? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Neubesetzung in der Leitungsspitze einen (schweren) Konflikt zwischen Präsident*in und Kanzler*in nach sich gezogen hat. Der Zeitpunkt und die Umstände für einen ehrenvollen Abschied waren mehr als günstig.
Hanno Bruckner (Freitag, 15 April 2022 10:57)
Ich kenne jedenfalls kein Bundesland, in dem die Qualifizierung von Postdocs effektiv aufgegeben würde und diese nur noch dauerhaft beschäftigt werden dürfen. Ich kenne kein Bundesland, in dem Drittmittelanträge für Forschung nur nach Genehmigung durch die Hochschulleitung gestellt werden dürften; in dem die internen Verantwortlichkeiten derart zersplittert sind und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Und man sollte im Ländervergleich vielleicht auch an „best practice“ Maß nehmen und nicht an „worst practice“.
Herrn Kronthalers Entscheidung kann ich von daher gut verstehen.
Literaturwissenschaftlerin (Freitag, 15 April 2022 18:16)
Allen, die in dieser Kommentarspalte Kronthalers "messerscharfe" Analyse loben, sei folgender Twitter-Thread von Michael Gerloff empfohlen, der jeden einzelnen Satz Kronthalers auseinandernimmt:
https://mobile.twitter.com/michael_gerloff/status/1514968629493829633
(Allen anderen natürlich auch.) Unter vielem anderen besonders befremdlich ist Kronthalers Verhältnis zur Demokratie, hochschulintern wie -extern.
Hanno Bruckner (Freitag, 15 April 2022 21:04)
Unter #7 wurde die Regel ausgegeben: Keine Kritik „ad hominem“.
Warum gehen dann solche nicht belegten und persönlich diffamierenden Behauptungen von #18 zum Demokratieveständnis hier durch?
Es ist zu durchsichtig und billig auf persönliche Diffamierung überzugehen, wenn die sachlichen Argumente schwinden.
Jan-Martin Wiarda (Freitag, 15 April 2022 21:43)
@Hanno Bruckner:
Vielen Dank für Ihre Kritik! Es handelt sich immer um eine Ermessensentscheidung, die ich nach bestem Wissen und Gewissen und mit der mir zur Verfügung stehenden Zeit treffe. Ich versuche, Kritik und Auseinandersetzungen zu Positionen und Meinungen zuzulassen. Persönliche Angriffe und Abwertungen möchte ich auf meinem Blog nicht sehen. Im Einzelfall können Sie meine Entscheidungen sicher (und auch zu Recht) kritisieren; zudem bin ich allein nicht immer in der Lage, auch alle externen Inhalte, auf die verlinkt wird, in jedem Detail zu überprüfen. Alternativ müsste ich grundsätzlich jede externe Verlinkung in den Kommentaren ausschließen. Ich bitte Sie deshalb einfach wie immer in diesem Blog, möglichst wertschätzend miteinander umzugehen. Das prägt den Stil in diesem Blog, und das soll auch so bleiben.
Beste Grüße
Ihr Jan-Martin Wiarda
Falstaff (Sonntag, 17 April 2022 16:11)
Die von #18 erwähnten Argumente von Herrn Gerloff sind
meines Erachtens nicht unbedingt überzeugend. Noch deftiger werden die Argumente in den Forderungen zur
Abwahl von Frau Kunst und dem aktuellen Kanzler der HUB
durch einen Referentinnen-Entwurf. Was ist nur aus dieser
einst stolzen Universität in den letzten 30 Jahren geworden?
Demokratieverfechter (Sonntag, 17 April 2022 17:02)
Dass "Kronthalers Verhältnis zur Demokratie" in #18 als "befremdlich" wahrgenommen wird, verwundert mich nicht. Ich empfinde es auch nicht als persönlich diffamierend und es ist auch keine bloße Behauptung, sondern für mich eine nachvollziehbar begründete Argumentation, dass hier das Demokratieverständnis Kronthalers als fragwürdig empfunden wird. Denn dieser sieht schließlich im Kern als Problem an, dass "von ein paar Parlamentariern eine hochschulpolitische Revolution ins Gesetz geschrieben wurde". Was glaubt er, wer in einer parlamentarischen Demokratie die Gesetze verabschiedet - und wenn die Exekutive dies nicht vorbereitet, wie in diesem Fall - ggf. auch selbst schreibt? Und zwar unabhängig davon, ob manche dies als Revolution empfinden mögen?
Die Professoren und ein paar Professorinnen wie an der Uni hier jedenfalls nicht, auch wenn ihm die de facto existierende feudale Ständedemokratie an der Uni offenbar mehr legitimiert vorkommt als die im "Rest" der deutschen Gesellschaft geltende parlamentarische Demokratie, wo das Grundprinzip gilt, dass jede(r) Bürger(in) eine gleich viel zählende Stimme hat.
Ulrike Marx (Dienstag, 19 April 2022 11:00)
Die Gestaltungskompetenz des (Landes-)Gesetzgebers ist weit, aber nicht unbegrenzt. Gesetzliche Eingriffe müssen 1. willkürfrei sein und 2. sich im Rahmen der Landesgesetzgebungskompetenz bewegen. Zu 1. hat das Abgeordnetenhaus im gewählten Verfahren die Vorschrift des § 110 Abs. 6 Satz. 2 erst in zweiter Lesung und ohne jegliche Aufklärung des Sachverhaltes und ohne Anhörung der Hochschulen überraschend aufgenommen und dabei auch die eigene Geschäftsordnung (§§ 30 ff.) verletzt. Der Berliner Landesverfassungserichtshof hatte in seiner Entscheidung vom 22.10.1996 (VerfGH 44/96 Rn. 24 ff) gefordert: „…dass die Belange von Wissenschaft, Forschung und Lehre angemessen sorgfältig ermittelt und gewichtet und dass die vom Staat beabsichtigten Maßnahmen mir ihnen abgewogen werden“ müssen. Dass das Gesetz ohne die erforderliche Sachaufklärung und ohne Anhörung der Hochschulen - also willkürlich - und „schlampig“ gemacht wurde zeigt sich schon daran, dass nach kurzer Zeit ein „Reparaturgesetz“ auf den Weg gebracht werden muss, um die schlimmsten Verwerfungen zu beseitigen. Zu 2: Man muss nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner „Mietendeckel“ lesen und auf Wissenschaft übertragen um zu verstehen, dass der Landesgesetzgeber keine Gesetzgebungskompetenz hat, weil diese beim Bund läge (Wissenschaftszeitvertragsgesetz).
TD (Freitag, 22 April 2022 13:26)
Wenn die wiss. Qualität ("Genialität") nur durch Befristung gewährleistet ist, warum sind dann Professuren entfristet?
Der Grund für die Befristungen ist natürlich, dass man auf halben Stellen billige Arbeitskräfte unendlich zur Verfügung hat. Indirekt wird das ja mit dem Argument "Drittmittel" angedeutet. Alles andere ist Heuchelei.
In der Wissenschaft tätiges Elternteil (Sonntag, 24 April 2022 11:54)
#23: Ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner „Mietendeckel“ o.W. auf Wissenschaft übertragbar ist, halte ich für fraglich. Ohnehin wirkt die ganze Argumentation von Ulrike Marx sehr formaljuristisch. Sie erinnert mich an die Argumentation von Berliner Immobilienbesitzenden und ihren hochbezahlten Anwälten, die sich aus dem Eigentum ergebende Verpflichtungen als unzumutbar ansehen. Und mit allen Möglichkeiten, die das Recht Vermögenden bietet, dagegen angehen, ohne die Folgen für den "Rest" der Berliner Einwohner auch nur ansatzweise in den Blick zu nehmen. Daher ist der gewählte Vergleich mit dem Mietendeckel sehr erhellend.
Im heutigen Tagesspiegel (S. 8) ist übrigens ein sehr gut recherchierter Artikel zur Situation von Familien in Berlin, die als Mieter zunehmend beengt wohnen müssen. Denen würde eine funktionierende Mietenbegrenzung sehr helfen, da es selbst für Mittelschichtsfamilien kaum noch größere Wohnungen gibt, geschweige denn für die tendenziell deutlich armutsgefährdeteren Alleinerziehenden und andere ärmere Familien.
Und dann wundern sich Vermögende, die ja oft auch Immobilienbesitzende und Akademikerkinder sind (welche in der Wissenschaft allein aufgrund ihrer Herkunft eine x-mal größere Chance auf eine Professur haben)*, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung größer wird. Und die Politik daraufhin nicht (mehr) so stark wie z.T. in der Vergangenheit die Interessen von Immobilienlobby und gut vernetzten Akademikerkinder-Profs im Blick hat, sondern es z.T. "wagt", auf die vorhandene Unzufriedenheit mit Gegenmaßnahmen wie Mietendeckel, LHG-Novellen u.ä. zu reagieren.
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*https://www.zeit.de/2017/22/soziale-herkunft-eltern-bildung-studium