Ein offener Brief von Jugendorganisationen protestiert gegen drohende Bildungskürzungen. Das Frustrierende: Er wird keine Wellen auslösen. Unsere Gesellschaft hat sich an die Bildungsmisere gewöhnt.
Untere dem Hashtag #stopthecuts fordert ein breites Bündnis eine bessere Bildungsfinanzierung.
ES IST KEIN AUFSCHREI, der für Furore sorgen wird. Er wird keine gesellschaftlichen Debatten auslösen, keine Rechtfertigungsversuche bei den verantwortlichen Politikern, nicht einmal ein paar billige Akte der Symbolpolitik. Und das sagt eigentlich schon alles.
Ein breites Bündnis der Jugendorganisationen verschiedener Parteien, Gewerkschaften und Verbände, von Schüler- und Studierendenvertretungen hat einen offenen Brandbrief geschrieben, gerichtet an die Bildungs- und Wissenschaftsminister von Bund und Ländern, an die Bundestagsabgeordneten und an Bundesfinanzminister Christian Lindner. "Gemeinsam gegen die Bildungskrise", steht drüber und der Hashtag "#stopthecuts".
"Der Zustand des Bildungswesens ist ein Skandal", lautet der erste Satz, dann folgt eine Aufzählung der Missstände von maroden Schulen über fehlende Lehrkräfte und überfüllte Hörsäle bis hin zu prekären Arbeitsbedingungen vieler Lehrender. "Von Legislatur zu Legislatur" seien die Probleme verschleppt worden, "so dass heute allein für die dringend notwendige Sanierung von Gebäuden und Infrastruktur 103 Milliarden Euro fehlten. Weitere 55 Milliarden Euro müssten allein für das Personal in Schule, Kita und Wissenschaft investiert werden."
Als ein Haupthindernis zu einer besseren Bildungsfinanzierung und, in der Folge, zu mehr Bildungschancen für alle haben die Unterzeichner die Schuldenbremse ausgemacht. Die müsse weg, denn "ausgerechnet unter dem Deckmantel der Generationengerechtigkeit wird hier über das letzte Jahrzehnt hinweg die Zukunft junger Generationen kaputtgespart".
Die Schuldenbremse ist nicht
das eigentliche Problem
Indes: So politisch unwahrscheinlich die zur Abschaffung nötige Grundgesetz-Änderung erscheint, sie wäre noch einfach im Vergleich zu dem, was eigentlich das Problem ist. Die Unterfinanzierung des Bildungssystems hat nicht erst mit der Einführung der Schuldenbremse begonnen, sie dient jetzt nur als willkommene Ausrede. In Wirklichkeit finden Deutschlands Bildungspolitiker seit Jahrzehnten im politischen Verteilungskampf keinen Hebel. Weil ihnen dafür der Rückhalt einer alternden Gesellschaft fehlt, die den Einsatz gegen steigende Benzinpreise belohnt, für soziale Sicherheit und steigende Renten. Bei nicht zu hohen Steuern und Sozialabgaben, versteht sich.
Die aber kaum zur Kenntnis nimmt, dass Erzieherinnen vielerorts regelmäßig zehn, zwölf Kleinkinder allein betreuen müssen und dabei fördern sollen. Dass in Schulen teuer angeschaffte Tablets verstauben, weil keiner da ist, um sie zu warten, und dass Seminarräume gesperrt werden müssen, weil die Decke runterkommt.
Insofern ist den Briefeschreibern eindeutig zuzustimmen, wenn sie – mit Verweis auf das beschlossene Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – sagen: An dem Geld, um mehr in Bildung zu investieren, habe es nie gefehlt, "sondern schlicht am politischen Willen".
Und, noch wichtiger, an dem Willen der gesellschaftlichen Mehrheit, die Politik mit dieser verfehlten Prioritätensetzung nicht durchkommen zu lassen. Wenn die junge Generation schon in wirtschaftlich guten Zeiten nicht die Lobby hatte, um Deutschlands Bildung aus der Unterfinanzierung zu holen, was bedeutet das für die Zeiten, die jetzt kommen?
Es wäre schön, den Briefeschreibern
Mut zusprechen zu können
Genau das ist die Sorge, die die Schreiber angesichts der, wie sie schreiben, "aktuellen Haushaltsdebatten im Bund" und der "Kürzungspläne vieler Länder" umtreibt und genau jetzt zu ihrem offenen Brief veranlasst hat: Ausgerechnet die Jugend, die in der Coronakrise mit am stärksten belastet wurde durch die Kontaktbeschränkungen, durch monate- bzw. semesterlangen Distanzunterricht, könnte jetzt wiederum durch besonders heftige Einsparungen im Bereich von Bildung, Jugendhilfe und Wissenschaft die Zeche zahlen. Für all die Corona-Rettungspakete, von denen sie selbst wenig abbekommen hat. Für wegbrechende Steuereinnahmen und für die neuen Prioritätensetzungen der Bundesregierung infolge des Ukrainekrieges.
Es wäre schön, den Briefeschreibern Mut zusprechen zu können. Zum Beispiel mit dem Verweis darauf, dass die Ampel mit großen Ambitionen gestartet ist. Ihr Koalitionsvertrag las sich in Teilen wie das Versprechen eines, auch finanziellen, Bildungsaufbruchs. Doch was bleibt jetzt noch davon?
Die Gefahr, dass auch der Aufschrei des offenen Briefs verhallt, ist groß. Unsere Gesellschaft hat sich an die Bildungsmisere gewöhnt. Sie sieht ihre Unerhörtheit kaum noch. Und das ist vielleicht der größte Skandal von allen.
Dieser Kommentar erschien heute in leicht kürzerer Fassung zuerst im ZEIT-Newsletter Wissen3.
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