Was sind eigentlich Forschungsmuseen? Und warum könnten sie bei der Transformation der Wissenschaft eine besondere Rolle spielen? Ein Gespräch zwischen der Chefin des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, Alexandra Busch, und Johannes Vogel, dem Direktor des Museums für Naturkunde Berlin.
"Bottled specimens" – an Exponaten mangelt es dem Berliner Naturkundemuseum nicht.
Frau Busch, was ist eigentlich ein Forschungsmuseum?
Alexandra Busch: Das Besondere an Forschungsmuseen ist, dass sie nicht nur bewahren, sammeln und Ausstellungen kuratieren, sondern dass sie zugleich intensiv objektbasiert forschen.
Was bedeutet das zum Beispiel für Ihr Museum, das Römisch-Germanische-Zentralmuseum (RZGM), Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie, in Mainz, das voller archäologischer Fundstücke ist, angefangen von der Altsteinzeit bis zum Hochmittelalter?
Busch: Unsere Einrichtung ist einst aus der Idee entstanden, an einem Ort Kopien aller wichtigen Objekte und Denkmäler der antiken Welt zusammenzubringen, um sie in ihrer Funktion, Bedeutung und in ihren Zusammenhängen miteinander vergleichen zu können, und damit zugleich die Epochen und Gesellschaften, aus denen sie stammen. Normalerweise liegen Exponate, wie wir sie haben, in vielen unterschiedlichen Museen auf der Welt verstreut. Durch unsere Sammlung können wir kulturelle Entwicklungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Museum erlebbar machen. Allerdings lassen sich unsere Kopien nicht auf ihre materielle Zusammensetzung analysieren. Dass machen wir dann in Zusammenarbeit mit anderen archäologischen Museen anhand von deren Sammlungen.
"Wir fassen alles, was wir an
Objekten haben, an. Im Zweifel
schneiden wir auch mal ein Stück raus."
Herr Vogel, an Original-Exponaten haben Sie im Museum für Naturkunde Berlin nun keine Knappheit, oder?
Johannes Vogel: Und genau darum können wir in unserem Museum all das tun, was in nicht forschenden Museen ausgeschlossen wäre. Wir fassen alles, was wir an Objekten haben, an. Im Zweifel schneiden wir auch mal ein Stück raus, um es zu untersuchen. Das sind für uns keine Heiligtümer. Unser wohl bekanntestes Forschungsobjekt war das Dinosaurier-Skelett Tristan Otto, ein Exponat von unschätzbarem Wert, und trotzdem haben wir in seinen Zahnschmelz gebohrt. Wir wollten herausfinden, ob T. rex wirklich Jäger waren oder doch eher nur Aasfresser. Oder nehmen Sie die riesige Meteoritensammlung bei uns im Haus, da kostet ein Gramm viele tausend Euro. Aber wenn es die Forschungsfrage hergibt, wird das halt verbraucht.
Busch: Ab dem späten 19. Jahrhundert wurden auch immer mehr Originale gesammelt, mit denen gehen wir genauso um, d.h. auch wir betreiben mitunter invasive Forschung, so will ich das mal nennen, wenn es dem Erkenntnisgewinn dient.
Vogel: Trotzdem müssen wir natürlich immer abwägen: Ist es eine neue Erkenntnis wert, dass wir Schaden an einem Objekt anrichten oder es im Extremfall sogar zerstören? Keiner würde wohl um der Forschung willen einen Quadratzentimeter aus der Mona Lisa herausschneiden.
Alexandra Busch studierte Archäologie der Römischen Provinzen, Alte Geschichte und Ur- und Frühgeschichte an der Universität zu Köln, wo sie auch
promovierte. Seit 2014 war sie Direktorin für Sammlungen, Bibliothek, Archive und IT sowie Leiterin des Kompetenzbereichs Römische Archäologie am Römisch-Germanischen Zentralmuseum, seit 2018 ist
sie Generaldirektorin am RGZM.
Foto: RGZM_Steidl.
Viele große deutsche Forschungsmuseen gehören zur Leibniz-Gemeinschaft. Warum ist das so?
Busch: Weil unser Auftrag so gut zum Leitmotiv der Leibniz-Gemeinschaft passt: Theoria cum praxi. Das bedeutet: Forschung mit Anwendungsbezug, das geht auch und gerade bei Forschungsmuseen. Indem wir Objekte und ihre Erforschung in einen Kontext stellen mit aktuellen Fragestellungen der Gesellschaft.
"Die großen Fragen unserer Zeit klärt man
nicht aus einer Disziplin heraus, sondern
nur im Verbund, im Austausch."
Vogel: Alle Leibniz-Forschungsmuseen haben sich 2012 im Austausch mit Bund und Ländern ein Eckpunkte-Papier gegeben, das an jedem unserer Museen die Entwicklung massiv vorangebracht hat. Wir mussten alle unsere Hausaufgaben machen und sagen, was wir zum Wohl der Gesellschaft beitragen können. Zum Beispiel die schrittweise Digitalisierung aller Sammlungen, was den Aufbau einer immensen digitalen Infrastruktur erfordert. In allen Leibniz-Forschungsmuseen zusammen liegen 120 bis 150 Millionen Objekte, die wir sowohl der Gesellschaft als auch der Wissenschaft frei und offen zugänglich machen wollen. Das schaffen wir natürlich nur mit der nötigen Unterstützung durch die Politik, zum Beispiel durch den Bund-Länder geförderten Aktionsplan Forschungsmuseen. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe. Bei vielen Objekten, auch bei uns im Berliner Naturkundemuseum, ist die Frage, wie sie nach Deutschland gekommen sind, und ob das zu Unrecht geschehen ist. Und dann geht es an allen Forschungsmuseen ganz stark darum, mehr Menschen für einen Besuch zu begeistern, sie enger an unsere Museen zu binden. Leibniz als gemeinsame Klammer hilft uns: Wir sind keine Einzelkämpfer mehr, uns verbindet die von gesellschaftlichen Fragen getriebene Forschung, die, obwohl wir Museen sind, nicht so sehr bewahrend ist, sondern nach vorn schaut.
Busch: Genau! Und die großen Fragen und Probleme unserer Zeit klärt man nicht aus einer Disziplin heraus, sondern nur im Verbund, im Austausch zwischen und über Disziplinen hinweg. Vor 2012 hatten wir alle historisch gewachsen ganz unterschiedliche Konzepte und Ansätze in unseren Häusern, und keiner konnte wirklich definieren, was ein Forschungsmuseum ist. Das hat sich grundlegend geändert. In wie vielen Sitzungen haben wir zusammengesessen, Johannes, und uns zusammengerauft. Was haben wir diskutiert über die Frage, was ein Forschungmuseum ausmacht und was wir leisten können. Das ging von neuen Formen der Teilhabe von Museumsbesucher:innen und Bürger:innen an unserer Forschung – bis hin zu der Erkenntnis, dass wir alle gerade zu den Debatten zum Klimawandel und gesellschaftlichen Veränderungen viel beizutragen haben.
Zum Klimawandel? Als Archäologisches Museum?
Busch: Gerade als archäologisches Forschungsmuseum. Zum Zusammenspiel von klimatischen Veränderungen, deren Einfluss auf Natur und Tierwelt und dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck, der dadurch entsteht. Umgekehrt natürlich auch über den Einfluss des Menschen auf die Natur. Wir können als Forschungsmuseen in unsere Archive und Sammlungen schauen und dabei extrem lange Zeiträume in den Blick nehmen. Etwa unter der Fragestellung, wann genau eigentlich das Anthropozän begonnen hat. Da gibt es ja sehr unterschiedliche Ideen, aber unsere Forschung legt nahe, dass wir das Anthropozän schon viel früher ansetzen müssen, weil wir schon in einer sehr frühen Phase der Menschheitsgeschichte substanzielle Eingriffe des Menschen in die Natur nachweisen können. Eingriffe, die einen nachhaltigen Effekt hatten. Und die wiederum Erkenntnisse für unser heutiges Handeln als Gesellschaft zulassen.
Vogel: Spannend finde ich auch die Konservierungsforschung, die einige unserer Museen betreiben. Plastik ist für uns oft eher Abfall, aber Plastik ist auch Ausdruck unserer modernen Epoche. Viele für die Zukunft zu bewahrende zeitgenössische Exponate bestehen daraus. Wie können wir Plastik langfristig konservieren? Das sind Themen, Querschnittsthemen, die uns alle bewegen, und der Geist, der sich aus unserer Zusammenarbeit entwickelt hat, ist vielleicht noch mehr wert als die ganze Strategie, die da seit 2012 niedergeschrieben wurde.
Johannes Vogel studierte an der Universität Bielefeld Biologie und Jura. Nach der Promotion arbeitete er im Natural History Museum in London, wo er von 2004 bis 2012 Chefkurator der botanischen Abteilung war. Seit Februar 2012 ist Vogel Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin.
Foto: Hwa Ja-Götz _MfN.
Ist ja toll, wenn es zwischen den Forschungsmuseen gut läuft. Aber bleibt man dann nicht doch wieder unter sich, in dem Fall innerhalb der Museums-Community?
Busch: Ganz und gar nicht! Ich habe eben das Thema Teilhabe erwähnt. Da läuft viel zum Beispiel mit Bildungswissenschaftler:innen zusammen, sogar nationale und internationale Tagungen organisieren wir gemeinsam, mit Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Lateinamerika, aus dem Nahen Osten. Denn die Frage, wie wir soziale Barrieren abbauen, wie wir über die traditionellen Museeumsbesuchenden hinaus weitere gesellschaftliche Gruppen erreichen und Partizipation ermöglichen, das beschäftigt ja nicht nur uns, sondern Kolleginnen und Kollegen überall auf der Welt.
Es geht im Kern um ein neues Verständnis von Wissenschaftskommunikation, oder?
Vogel: Genau! Und das gilt nicht nur für uns Forschungsmuseen, sondern für die Wissenschaft als Ganzes. Ich hoffe allerdings, dass wir als Forschungsmuseen da besondere Impulse geben können, weil wir frühzeitig die Forschung zur Wissenschaftskommunikation hochgefahren haben. Wir wollen unsere Museen zu außerschulischen Lernorten machen, wir wollen Citizen Science, Bürgerwissenschaft betreiben.
Das sagt sich so leicht.
Vogel: Wir wollen nicht nur sagen, wie Wissenschaft geht und zu sein hat, wir wollen uns auch belehren und unterstützen lassen. Wir wollen mit neuen Kommunikationsformaten experimentieren und diese auf ihren Impact überprüfen. Die Wissenschaft muss sich als Ganzes öffnen. Als Forschungsmuseen haben wir den großen Vorteil, dass wir schon offene Türen haben und als Orte der Begegnung in der Wahrnehmung der Bevölkerung verankert sind. Das heißt aber noch nicht, auch das hat Alexandra Busch gerade gesagt, dass wir schon alle Menschen erreichen. Wir müssen besser darin werden, nicht nur die angestammten bildungsbürgerlichen Publika zu erreichen, die schon immer zu uns gekommen sind. Sondern Menschen, die früher nie auf die Idee gekommen wären, ins Museum zu gehen. Dazu müssen wir uns in der Präsentation unserer Angebote und Ausstellungen auf ihre Bedürfnisse einrichten, nicht auf die Bedürfnisse der Wissenschaft.
Busch: Das ist eine der wertvollsten Entwicklungen in der Wissenschaft in den letzten zehn, 15 Jahren. Dass zwischen Wissenschaft und Wissenstransfer, zwischen Forschung und Wissenschaftskommunikation ein reziprokes, sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis entsteht. Nur sehen das leider noch nicht alle Forschenden so.
Weil in der Wissenschaft andere Metriken und Leistungsbewertungen zählen als der Austausch mit der Öffentlichkeit.
Vogel: Da wird oft ein Gegensatz konstruiert, der in Wirklichkeit gar keiner ist. Als Teil der Leibniz-Gemeinschaft werden auch wir Forschungsmuseen knallhart wissenschaftlich evaluiert – nach denselben Metriken wie ein Max-Planck-Institut. Die wissenschaftliche Leistung, die Qualität der Publikationen, die wir abliefern, muss top sein, sonst fliegen wir bei Leibniz raus. Gleichzeitig gehört bei uns der Austausch mit der Öffentlichkeit zum Auftrag als Institution. Dadurch ziehen wir nicht nur Wissenschaftler:innen an, die exzellente Forschende sind, sondern auch welche, die für sich die Verpflichtung annehmen, Forschungsergebnisse in die Gesellschaft hinein zu vermitteln. Natürlich muss man als Museumsdirektor trotzdem noch hier und da ein bisschen stupsen und helfen. Aber am Ende kommt dabei das Beste aller Möglichkeiten aus den interdisziplinären Teams heraus.
Das nehme ich Ihnen dann doch nicht ganz ab, dass ausgerechnet die Forschungsmuseen voll mit Alleskönnern sind.
Busch: Das Entscheidende ist ja gerade, dass nicht alle alles gleich gut können müssen! Der Wissenschaftler, der ein Paper in einem Top-Journal schreibt, ist vielleicht nicht top darin, seine Erkenntnisse so zu vermitteln, dass auch Leute sie verstehen, die nicht zehn Jahre lang die entsprechende Disziplin studiert haben. Macht aber nichts. Denn wir rekrutieren an den Forschungsmuseen zusätzlich eben auch Leute, die in der Lage sind, diese Übersetzungsleistung zu erbringen. Die Kunst ist, als wissenschaftliche Institution die Leistung beider Gruppen gleichermaßen zu würdigen.
"Bitte zieht den Organisationen, die versuchen,
die Gesellschaft zusammenzuhalten,
jetzt nicht den Teppich weg!"
Wir erleben gerade einen politischen Paradigmenwechsel, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg. Fürchten Sie, dass Sie diesen Paradigmenwechsel bald auch in den Haushalten ihrer Museen spüren werden?
Busch: Ich will meine Antwort bewusst nicht mit dem Finanziellen anfangen. Wir erleben gerade in Europa-, ja weltweit, dass unsere Gesellschaften auseinanderfallen. Wir sehen eine zunehmende Radikalisierung, wir stellen fest, wie Menschen sich durch gefühlte Wahrheiten verführen lassen. Das zeigt doch den dringenden Bedarf, dass Wissenschaft die Menschen erreicht. Und zwar nicht nur das durch Wissenschaft generierte Wissen, sondern auch der Prozess der Erkenntnisgewinnung, die Förderung von Reflexion und kritischem Urteilsvermögen.
Vogel: Als Menschen brauchen wir Orte, an denen wir Gemeinschaft bilden und diskutieren können. Die gibt es immer weniger. Wo kommen wir denn noch zusammen? In Shopping Malls? In Fußballstadien? Die eignen sich nicht wirklich zum Dialog.
Busch: Museen sind genau diese wunderbar geeigneten Orte, an denen Menschen neue Dinge kennenlernen und Zusammenhänge verstehen. Und jetzt komme ich doch zum Geld: Es wäre grundfalsch, wenn die Politik genau dort sparen würde, wo es um die Ansprache der Gesellschaft in ihrer ganzen Breite geht.
Vogel: Kann ich noch ein aktuelles Beispiel geben? 20 Prozent unserer Besuchenden sind neuerdings Ukrainer. Geflüchtete haben bei uns freien Eintritt. Und wo gehe ich als Familie hin, wenn ich ein bisschen Ablenkung brauche? Na, dahin, wo die Dinosaurier sind. Frauen, Kinder, Großeltern, sie finden Audioguides in Russisch und Ukrainisch. Unsere Bude ist voll. Bitte zieht den Organisationen, die versuchen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, jetzt nicht den Teppich weg!
Das klingt jetzt doch sehr dramatisch. Hat das Museum für Naturkunde Berlin nicht erst vor wenigen Jahren von Bund und Ländern hunderte von Millionen Euro für Sanierung und Ausbau zugesagt bekommen?
Vogel: Dafür sind wir unheimlich dankbar, zumal nicht nur das Berliner Naturkundemuseum so großzügig vom Bund und Sitzland gefördert wird, sondern auch das Deutsche Museum in München, Senckenberg in Frankfurt und Görlitz, Museum König in Bonn, RGZM Mainz und das Nationalmuseum in Nürnberg. Das sehe ich als eine Anerkennung der Leistung der Leibniz-Forschungsmuseen. In unserem Fall sind die Staatsverträge alle geschlossen. Und solange wir nicht noch tiefer in die Krise hineingezogen werden, gehe ich fest davon aus, dass die Politik Wort hält. Umgekehrt leisten wir aber auch viel für unser Geld! Bei uns am Naturkundemuseum geht es nicht um irgendwelchen Luxus, sondern um den Dialog mit und den Wissenstransfer zwischen Gesellschaft und Politik. Es geht um Innovation, Digitalisierung, um die Beseitigung von Kriegsschäden und eines nach 1945 fortgesetzten Baurückstandes.
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