Gerade gingen die Tests zu Ende, kommendes Jahr werden die Ergebnisse der nächsten internationalen Vergleichsrunde veröffentlicht. Die meisten Forscher erwarten, dass es deutlich nach unten geht. Doch Entscheidendes ist anders als nach Pisa 2000.
WAS WAR DAS FÜR EIN AUFSCHREI, Ende 2001, als die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie veröffentlicht wurden. Eine "Bildungskatastrophe" verkündete der Tagesspiegel. Jeder fünfte Neuntklässler in Deutschland könne nicht richtig lesen. "Deutsche Schüler schneiden im internationalen Vergleich miserabel ab", konstatierte die Financial Times Deutschland. Die Titelseiten der Tageszeitungen schrien "Desaster", die deutschen Schulen befänden sich auf einem "Abstiegsplatz", sie seien "im internationalen Vergleich mangelhaft".
Fast durchgängig fanden sich die deutschen Schüler im letzten Drittel des 32 Länder umfassenden OECD-Schulleistungsvergleichs wieder, beim Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften. Was eigentlich, nachdem die internationale Grundschulstudie Timss schon Jahre zuvor ähnlich ernüchternde Ergebnisse zu Tage befördert hatte, keinen mehr hätte überraschen sollen. Trotzdem wurde erst die Pisastudie zum Auslöser des seitdem sprichwörtlichen "Schocks". Und zum Ende der – aus heutiger Sicht überraschenden, aber damals verbreiteten – bildungspolitischen Selbsttäuschung, Deutschland verfüge über eines der besten Schulsysteme weltweit.
Kakophonie aus Schuldzuweisungen
und Scheinaktionismus
Entsprechend lesen sich auch die damaligen politischen Reaktionen heute wie eine Kakophonie aus Schuldzuweisungen und Scheinaktionismus. Es müsse wieder "mehr Disziplin in die Schulen", ein Kindergarten-Pflichtjahr sei nötig, eine Verkürzung der Schulzeit, eine grundlegende Reform der Lehrerbildung. FDP-Chef Guido Westerwelle nannte die Kultusministerkonferenz eine "schnarchnasige Einrichtung", sie sei schuld an den schlechten Ergebnissen. Die WELT schrieb, schlecht integrierte Ausländerkinder drückten die deutschen Werte, Lehrerverbände warnten, die Lehrer verantwortlich zu machen, und kritisierten ihrerseits das Desinteresse vieler Eltern.
Doch kam etwas in Gang. Deutschland stellte sich der Erkenntnis, dass zu viele Schüler abgehängt wurden, vor allem aus sozial benachteiligten Elternhäusern und Einwandererfamilien – und dass es Aufgabe von Schulen und Bildungspolitik sei, gerade gegen diese eklatanten Bildungsungerechtigkeiten etwas zu tun. Die empirische Bildungsforschung erlebte einen enormen Aufschwung, weil man hin- und nicht mehr wegschauen wollte. Ganztagsschulprogramme, Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten, Begabtenförderung, der flächendeckende Ausbau von Kitas, nur noch 12 Jahre bis zum Abitur und der Versuch, neben den Gymnasien mit den Sekundarschulen (je nach Bundesland heißen sie anders) eine neue Schulform jenseits von Haupt- und Realschulen zu etablieren: All das ist nur ein Ausschnitt der vielen bildungspolitischen Reformen, die nach 2001 folgten.
Nicht alle waren aus heutiger Sicht sinnvoll oder nachhaltig, und irgendwann wurden es so viele, dass vor etwa zehn Jahren ein Meinungsumschwung einsetzte: Gute Bildungspolitik sei eine solche, die die Schulen wieder mehr in Ruhe lasse. Auch müsse man ja nicht die Daten aller Vergleichsarbeiten öffentlich machen.
Währenddessen verbesserte sich die Performance der deutschen Schüler in den internationalen Studien langsam, aber stetig. So dass die Bundesrepublik in den 10er Jahren etwa bei Pisa nicht mehr unter, sondern deutlich über dem Durchschnitt der Teilnehmerstaaten lag. Die Zahl der Kitakinder verdoppelte sich, die Bildungschancen von Migranten stiegen. Für ein großes Land eine beachtliche Entwicklung. Nur: Was genau der Grund dafür war, konnte keiner wirklich sagen. Und: Seit Jahren zeigt die Leistungskurve bei praktisch allen aussagekräftigen nationalen und internationalen Vergleichstests schon wieder nach unten.
Ende 2023 erscheinen die Ergebnisse der inzwischen achten Pisa-Runde. Aus 32 Teilnehmerländern sind 86 geworden, was die weltweite Bedeutung der Studie zeigt. Auch fast 8.000 15-Jährige aus Deutschland haben teilgenommen, die Tests gingen gerade zu Ende, jetzt startet die Auswertung. Und welchen Bildungsforscher man fragt, kaum einer rechnet mit positiven Nachrichten. Nicht wenige aber mit einem erneuten Absturz Deutschlands.
Die Schulschließungen haben keine neuen
Probleme geschaffen, sie haben sie verschärft
Es könnte sein, dass von Bildungspolitikern dann als Hauptgrund die Schulschließungen wegen Corona angeführt werden. Oder auch der Zustrom von Geflüchteten seit 2015. Doch die Wahrheit ist: Die Leistungen deutscher Schüler bröckelten bereits wieder, als die Geflüchteten zahlenmäßig noch nicht ins Gewicht fielen. Und die Schulschließungen wegen Corona haben keine neuen Probleme geschaffen, sie haben sie nur – womöglich dramatisch – verschärft. Wie stark, dafür gibt es Anhaltspunkte, aber noch keine ausreichend guten Daten, auch weil nur wenige Bundesländer sie, Stichwort Schulen in Ruhe lassen, systematisch erhoben haben.
Deutschlands Bildungssystem hat trotz aller Beschwörungen und zwischenzeitlicher Erfolge nie den Aufbruch geschafft, den sich nach 2001 alle erhofft hatten. Das sogenannte "untere Fünftel", also der Anteil derjenigen Schüler, die nicht richtig lesen und schreiben können, ist heute fast genauso groß wie vor 20 Jahren. Und es setzt sich weiter zu großen Teilen aus Kindern von Einwanderern und Bildungsbenachteiligten zusammen. Hinzu gekommen ist ein Lehrermangel, der je nach Bundesland so gewaltig ist, dass er etwa in Berlin inzwischen nicht einmal mehr mit Quereinsteigern aufzufangen ist.
Und es gibt noch einen großen Unterschied zur Situation vor dem Schock von 2001: Damals dachten viele, Deutschlands Schulen seien super. Heute herrscht eher die Meinung, Deutschlands Schulen seien ohnehin nicht mehr zu retten. Es scheint, als hätten viele über die Jahre angesichts immer neuer Negativnachrichten mit Schulterzucken hingenommen, dass das Bildungssystem und die mangelnde gesellschaftliche Priorisierung von Bildung halt so sind und immer so sein müssen.
Insofern ist es, unabhängig von den zu erwartenden Ergebnissen, fraglich, ob sich der Aufschrei von einst wiederholen wird. Man würde es sich so sehr wünschen.
Der Kommentar erschien heute in leicht gekürzter Fassung zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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