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"Ein Schlag ins Gesicht"

CHE-Chef Frank Ziegele über immer neue Forderungen an die Hochschulen, fehlende Wertschätzung für das Geleistete und Visionen, die man ernst nehmen kann.

Frank Ziegele ist Professor für Hochschul- und Wissenschaftsmanagement an der Hochschule Osnabrück und Geschäftsführer des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Foto: Sirko Junge.

Herr Ziegele, der Wissenschaftsrat (WR) hat ein faszinierendes Papier zur Hochschulbildung im 21. Jahrhundert beschlossen. Im Kern steht die Vision eines "akademischen Mentorats", das der WR als "regelmäßige Studiengespräche zwischen Lehrenden und Studierenden" beschreibt, als Begleitung studentischen Lernens "gemäß den individuellen Voraussetzungen und Interessen". Klingt toll, oder?

 

Das ist toll, das kann ich als Vision nur unterstützen. Was mich aber stört: dass in letzter Zeit wieder einmal alles Mögliche an Reformen von den Hochschulen gefordert wird, dabei aber oft unter den Tisch fällt, was sie schon alles leisten. Sie sollen die Lehre studierendenzentrierter gestalten, ja, einen "Qualitätssprung" vollziehen. Sie sollen mehr Tempo machen beim Technologietransfer, sie sollen ihre Karrierewege erneuern und transparenter gestalten. Und so weiter und so weiter.

 

Was ist verkehrt an solchen Forderungen?

 

Nichts. Oder sagen wir besser: Jede einzelne hat ihre Berechtigung. Aber bleiben wir beim Wissenschaftsrats-Papier: Die öffentlichen Bildungshaushalte geraten in vielen Ländern unter Kürzungsdruck, auch der Bundeshaushalt wird enger, und genau in diese kritische Lage hinein fordert das Gremium eine solche Mammutreform, die nur mit derzeit illusorisch viel zusätzlichem Geld zu erreichen wäre. Das muss doch bei vielen an den Hochschulen das Gefühl verursachen: Wir strampeln schon mit aller Kraft, und anstatt dafür Anerkennung zu erhalten, heißt es immer nur: Das reicht nicht, das reicht nicht.

 

"Eine Bestätigung für alle, die meinen, dieses Bildungswesen sei finanzpolitisch gesehen ein schwarzes Loch." 

 

Was wäre denn die Alternative? 

 

Es wäre fairer, gleichzeitig die Fortschritte herauszustellen, die die Hochschulen in den vergangenen Jahren gemacht haben. Und damit auf die enorme Dynamik hinzuweisen, die im System steckt. Wenn man die Leistungen der Hochschulen ständig für unzureichend erklärt, liefert man Finanzpolitikern das Argument frei Haus, dass all das Geld, was sie bereits in die Hochschulen gesteckt haben, deren Trägheit nicht beseitigen konnte. Dann könnten sie auf die Idee kommen, dass noch mehr Geld reinzustecken keinen Sinn ergäbe. 

 

Der Wissenschaftsrat lobt aber durchaus das Erreichte.

 

Der schon. Aber neulich haben zum Beispiel Jugendorganisationen in einem Brandbrief an die Politik geschrieben, der Zustand des Bildungswesens sei ein "Skandal". Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die in diesem Bildungswesen arbeiten, und eine Bestätigung für alle, die meinen, dieses Bildungswesen sei finanzpolitisch gesehen ein schwarzes Loch. Und was das sehr gute Papier des Wissenschaftsrats angeht: Wenn Sie all die darin enthaltenen Vorschläge für die Verbesserung der Hochschullehre zusammenrechnen – mehr Qualität und Personal, aber nicht weniger Studienplätze, kleinere Gruppen, Mentorate – dann bräuchte das etliche Milliarden mehr im Jahr. Mit solchen Forderungen allein helfe ich den Hochschulen aber überhaupt nicht. Denen hilft nur, wenn ich jeden einzelnen Zwischenschritt zu einem großen Ziel mit der nötigen realistischen Finanzierung unterlege.

 

Und bis dahin darf man eklatante Schieflagen etwa bei Diversität und Bildungsgerechtigkeit nicht mehr kritisieren, weil das schlechte Stimmung macht?

 

Das darf und das muss man. Allerdings sollte man dann auch gleichzeitig sagen, was alles gut läuft. Gerade bei der Lehre haben die Hochschulen eine große Innovationskraft bewiesen. Sie haben flächendeckende Verbesserungen erreicht, vor allem in der Studieneingangsphase. Es gibt neue Studieneignungstests und zusätzliche Beratungsangebote, zahlreiche neue Kooperationen in der Lehre mit internationalen Partnerhochschulen. Es gibt viel mehr duale Studierende, mehr Studierende ohne Abitur oder in Teilzeit.

 

Weil die Zahl der Studienanfänger in den vergangenen 15 Jahren so stark gestiegen ist, ebenso deren Heterogenität.

 

Genau! Und die Hochschulen sind mit der Diversität umgegangen, und zwar sehr erfolgreich. Oder nehmen sie die unfassbar schnelle und reibungslose Umstellung auf reine Online-Lehre zu Beginn der Corona-Pandemie, das hatte doch keiner so erwartet. Ich könnte mit meiner Aufzählung noch ewig so weitermachen. Mein Punkt ist: Die Hochschulen haben dank ihrer gewachsenen Autonomie und zusätzlicher Mittel eine enorme Entwicklung durchgemacht, und ich glaube, die Haushaltspolitiker werden noch mehr Geld in die Hochschulen geben, wenn man ihnen das Vertrauen in deren weitere Entwicklung vermittelt.  

 

"Wer eine Vision hat und sie ernstnimmt,
kann nicht nur erzählen, das sei alles mittel-
bis langfristig zu verstehen." 

 

Nun ja. Die Abbrecherquoten zum Beispiel haben all die von Ihnen erwähnten Innovationen in der Lehre nicht senken können.

 

Aber das Argument muss doch andersherum gehen: Die Hochschulen haben ein derartiges Wachstum an Studierenden und Vielfalt gestemmt, ohne die Abbrecherquoten nach oben zu treiben. 

 

Währenddessen ist es ihnen nicht gelungen, den Anteil von Studienanfängern aus Nicht-Akademikerhaushalten wesentlich zu erhöhen. 

 

Das ist richtig, die soziale Zusammensetzung der Studierenden hat sich kaum verändert – was aber bei einer Million zusätzlichen Studierenden bedeutet, dass trotzdem deutlich mehr Erstakademiker ins Studium gekommen sind. Die sozialen Bildungshürden, das zeigt sich derweil immer deutlicher, befinden sich nicht vor allem zu Studienbeginn, sondern schon in der Kita und in den Schulen.

 

Was hätten Sie sich vom Wissenschaftsrat gewünscht?

 

In dem Papier stecken alle guten Ideen drin, Sie haben am Anfang selbst wichtige genannt. Aber der Teil, der sich mit ihrer Umsetzung beschäftigt, ist zu kurz geraten. Das sind nur ein paar wenige Seiten. Und da zeigt sich das ganze Problem, finde ich. Wer eine Vision hat und sie ernstnimmt, kann nicht nur erzählen, das sei alles mittel- bis langfristig zu verstehen. Eine tragfähige Vision muss man zusammen mit ihrer Umsetzung kommunizieren, was von dem Paket kommt 2022, was 2023, 2024 und so weiter. Was kostet es, wer zahlt, und was passiert mit dem Geld. Wissenschaftsrat und Hochschulpolitik müssen hier zusammenspielen. Sonst frustriert man die Hochschulen nur. Die schaffen die Umsetzung schon! Aber nur, wenn wir sie für das würdigen, was sie schon erreicht haben, und ihnen mehr davon zutrauen. Diese Botschaft verstehen dann auch die Haushaltspolitiker.



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Kommentare: 4
  • #1

    Noch 'ne Hanna (Mittwoch, 08 Juni 2022 09:19)

    Man könnte geneigt sein, den Aussagen aufgrund ihrer beeindruckenden Banalität zuzustimmen - wenn sie nicht ausgerechnet vom CHE kommen würden. Denn Herr Ziegele fordert ja nicht Wertschätzung für die Arbeit der Menschen ein, die Universitäten durch ihren Einsatz in F&L zu Universitäten machen, sondern er will durch Gleichsetzung der Universitäten mit den Rektor*innen und Präsident*innen Anerkennung für eine behauptete Leistung der Rektor*innen und Präsident*innen - und diese Anerkennung soll durch Verzicht auf Aufsicht ausgedrückt werden, um den Leitungen so die Autonomiespielräume zu erhalten, mit denen sie schon in der Vergangenheit nicht umgehen konnten. Wenn die Politik den Menschen, die die Universitäten zu Universitäten machen, Anerkennung zollen würde, dann würde sie die Globalhaushalte abschaffen und Stellenpläne einführen - denn nur so könnte sie den exzessiven Missbrauch des Sonderbefristungsrechts, den die Rektor*innen nicht eigenverantwortlich verhindern können und wollen, begrenzen. Die Politik fordert von den Rektor*innen nicht, dass sie die wissenschaftlichen "Karrierewege transparenter" gestalten sollen, sondern dass sie umgehend gegen den von ihnen geduldeten und beförderten Missbrauch des Sonderbefristungsrechts vorgehen sollen. Und die Politik ist da auch sehr deutlich: Bettina Stark-Watzinger hat die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft als "ausbeuterisch" beschrieben. Da passt es ins Bild, dass das CHE, welches in den letzten Jahren Treiber der immer offensichtlicheren Fehlentwicklung war, jetzt behauptet, es drohe die Kürzung von Mitteln und diese drohende Mittelkürzung verkenne die Leistungen der Hochschulrektor*innen in Randbereichen abseits der originären Hochschulaufgaben Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung. Niemand hat die Rektor*innen gezwungen, wie aufmerksamkeitsdefizitäre Kinder ständig neue Fässer in den Bereichen Transfer, Weiterbildung, Wissenschafts- und Hochschulkommunikation und Internationalisierung aufzumachen - tatsächlich wurde von ihnen nur erwartet, dass sie ihren gesetzlichen Auftrag gut erfüllen, wozu auch gehört, neuen Herausforderungen in den Kernbereichen, wie der Digitalisierung, angemessen zu begegnen. Wenn sie sich auf ihren gesetzlichen Auftrag konzentriert hätten, wären die öffentlichen Universitäten von der Pandemie nicht so kalt erwischt worden, was gerade den Befürwortern der unternehmerischen Hochschulen bewusst sein sollte: Da die privaten Hochschulen aufgrund des Wettbewerbdrucks schon früher angefangen haben, sich mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu befassen, konnten sie die Disruption durch die Pandemie sehr viel besser bewältigen als die öffentlichen Hochschulen, die erneut auf ihre bereits ausbeuterischen Arbeitsorganisation setzen mussten. Mit seiner Forderung nach mehr Anerkennung versucht Herr Ziegele zu verdecken, dass die Hochschulrektor*innen in den letzten Jahren mehrfach bewiesen haben, dass sie mit der unbeaufsichtigten, unregulierten Autonomie, vor allem in Form von Globalhaushalten, nicht umgehen können, sondern zur Klientelpolitik und damit zur einseitigen Überbetonung der Interessen der Professor*innen zu Lasten aller anderen Hochschulangehörigen neigen. Wofür genau erwarten die Hochschulrektor*innen denn bitte schön Wertschätzung und Anerkennung, wenn die Leistungen, auf die Herr Ziegele verweist, wie z.B. die Bewältigung steigender Studierendenzahlen, doch von den Mitarbeitenden mit persönlichem Einsatz weit über die vertraglichen Vereinbarungen hinaus erbracht wurden? Von genau jenen Mitarbeitenden, die die Hochschulrektor*innen jetzt mit einen paar Coachings zu alternativen Karrierewegen abspeisen wollen.

  • #2

    So einfach geht es nicht (Mittwoch, 08 Juni 2022 12:43)

    @Noch'ne Hanna:
    Die Identifikation von Universitäten und Hochschulen mit
    ihren Führungspersonen kann man aber aus dem Text vom
    CHE-Vertreter so nicht heraus lesen.

  • #3

    Ruth Himmelreich (Donnerstag, 09 Juni 2022 09:54)

    "Bewältigung steigender Studierendenzahlen, doch von den Mitarbeitenden mit persönlichem Einsatz weit über die vertraglichen Vereinbarungen hinaus erbracht wurden" - dazu nur eine Randbemerkung: bei der von den Hannas gewünschten Festanstellung könnte man problemlos eine "Tätigkeit im Bereich der Lehre" festlegen, was dann je nach Bundesland eine Lehrverpflichtung so um die 20 SWS bedeutet, nicht die vergleichsweise komfortablen 4 SWS für die befristeten Mitarbeitenden...

  • #4

    WM (Donnerstag, 09 Juni 2022 10:42)

    Entschuldigung, Hanna, aber das ist ein sehr naiver Kommentar, der an der Wirklichkeit vorbeigeht. Die Mär von den bösen Hochschulleitungen, die auf jeden Trendzug aufspringen wollen und die armen Hochschulen überlasten mit ihren ambitionierten Anforderungen. Von wegen eigentlich sollen Schuster doch nur bei ihren Leisten bleiben. Ich empfehle dazu mal mit eine Unterhaltung mit den jeweiligen Wissenschaftsministerien, wie die das so sehen. Vielleicht wird dann auch klar woher die manche Notwendigkeiten kommen. Diese Anforderungen werden im übrigens auch aus guten Gründen an die Hochschulen gestellt, die sich wahrscheinlich auch nicht rühren würden, gäbe es diesen Druck nicht. Aber da lastet einges an Forderungen auf den Hochschulleistungen diese umzusetzen - am besten ohne neue Mittel.