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Bitte Luft holen

Die Hochschulrektoren wollen nächste Woche Reformvorschläge zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz beschließen. Die Reaktionen auf die Pläne fallen teilweise heftig aus. Und nun?

DIE EMPÖRUNG IST GEWALTIG, vor allem in den sozialen Medien und vor allem auf Twitter, wo auch der Hashtag "#IchBinHanna" seinen Ursprung hatte. Ein "Skandal" seien die Überlegungen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, eine "Verschlimmbesserung" des schon schlimmen Status Quo. Und das sind noch die netten Kommentare.

 

Am Dienstag hatten HRK-Präsident Peter André Alt und die für die Universitäten zuständige HRK-Vizepräsidentin Anja Steinbeck im Interview erläutert, welche Vorschläge die deutschen Unichefs voraussichtlich nächste Woche beschließen werden. Wesentliche Elemente: zehn statt der bislang zwölf Jahre als maximale Befristungszeit und für Doktoranden mindestens drei, möglicherweise auch vier Jahre lange Erstverträge.

 

Tatsächlich sieht eine mutige Strukturreform anders aus. Es handelt sich, um das neuerdings so beliebte Innovationssprech zu benutzen, um das Gegenteil einer disruptiven Innovation, weil es im bestehenden Denken verhaftet bleibt. "Inkrementell" ist der Fachbegriff dafür, bestenfalls ein Schritt nach vorn. Viele (nicht nur befristet angestellte) Wissenschaftler:innen empfinden den Vorschlag allerdings eher als Schritt zurück. Noch dazu kommt ihnen die Sprache, in der er präsentiert wurde, mitunter unangemessen gönnerhaft vor, und all das sagen sie auf Twitter und anderswo deutlich.

 

Eine Reform gegen die Hochschulrektoren 

wird nicht gelingen

 

Das ist nicht nur in Ordnung, das ist als Teil einer öffentlichen Debatte wichtig. Auch die immer wieder zu hörenden Streikaufrufe sind legitim, wenn auch nicht zwangsläufig realistisch. Doch bei aller Enttäuschung angesichts der Rektoren-Vorschläge nach jahrelangen Diskussionen, nach über einem Jahr "#IchBinHanna" und jüngsten Signalen aus der Ampel-Koalition, die Befristungspraxis an deutschen Hochschulen deutlich eindämmen zu wollen: Persönliche Angriffe und ethisch-moralische Verurteilungen der HRK-Repräsentanten helfen dem Ziel einer wirklichen Reform nicht weiter.

 

Dennoch gibt es auch davon seit Erscheinen des Interviews genügend Beispiele. "Dekadent", "wissenschaftsfeindlich", ja "zynisch" seien die Vorschläge, kann man auf Twitter lesen. "Diese Menschen", gemeint sind Alt und Steinbeck, drehten "völlig frei", ihre Vorschläge zeigten ihre Faulheit, man fühle sich von der eigenen Rektorin "hintergangen". Sogar niedere Motive werden vermutet: Es falle schwer, schreibt jemand, "diese Reaktion auf den Aktivismus der letzten Jahre nicht als disziplinarische Vergeltung zu sehen. Die abgehobenen Eliten sagen uns, dass sie das Leben jederzeit verschlechtern können, also haltet die Klappe."

 

Die Wahrheit ist: Eine Reform gegen die Hochschulrektoren, das zeigt deren Widerstand gegen das neue Berliner Hochschulgesetz, wird nicht gelingen – sogar, wenn sie gesetzlich abgesichert ist. Und persönliche Angriffe und Herabwürdigungen sowie das Absprechen von Empathie oder wissenschaftsfreundlicher Motive werden die Rektoren bestimmt nicht offener machen für den jetzt notwendigen Dialog.

 

Hilfreich wäre stattdessen, um einer möglichen Lösung unter Einbeziehung der Hochschulleitungen näher zu kommen, auch deren Zwänge zu sehen und in ihren Auswirkungen einzuschätzen. Es gibt ja nicht nur GEW, Mittelbauinitiativen oder "#IchBinHanna", so beachtlich deren Dynamik und ihr Sympathisantenkreis mittlerweile auch sein mag. Es gibt auch eine große Zahl von Professoren, viele davon besonders arriviert und einflussreich, die jegliche Grundsatzveränderung als schädlich für die Wissenschaft ablehnen. Sie sind eine Macht an den Universitäten, mit denen die Rektoren sich ebenfalls arrangieren müssen.

 

Dasselbe gilt für eine (Landes-)Politik, die zum Teil populistisch bessere Arbeitsbedingungen beschwört und von den Hochschulleitungen verlangt, die geforderten Bemühungen aber finanziell kaum unterstützt, sie teilweise durch Einsparungen oder bestimmte Regularien sogar unterminiert. Und wenn die Ampelkoalition den GEW-Slogan "Dauerstellen für Daueraufgaben" zur Maxime erklärt, ist der Hinweis, es gebe jetzt ja die derzeit knapp zwei Milliarden Euro Bundesmittel über den Zukunftsvertrag dauerhaft, ein bisschen dünn.

 

Der Vorschlag der HRK kann und 
sollte nicht ihr letztes Wort sein 

 

Ein Kommentator schrieb auf Twitter zum Interview, die HRK sei ein Arbeitgeberverband, das merke man mal wieder. Im Vergleich zum Wirrwarr von Interessen und Zuständigkeiten an Hochschulen zwischen Statusgruppen, Fächerkulturen, Fachbereichen und politischen Ebenen ist das Dasein eines Arbeitgeberverbandes, der sich meist nur einer Gewerkschaft gegenübersieht, indes als unterkomplex zu bezeichnen. Dabei versteht sich von selbst, dass in dem Konflikt um künftige Karrierewege jede Seite der Meinung ist, dass ihre Position auch und vor allem der Zukunft und der Qualität der Wissenschaft am besten dient.

 

Keine Frage: Das, was die Rektoren voraussichtlich vorlegen werden, kann und sollte nicht ihr letztes Wort sein. Doch hilft es beim Bemühen um eine bessere Lösung für Wissenschaftler, Wissenschaft und Hochschulen, zu verstehen, wie die HRK-Vorschläge zustandekommen. Und warum diejenigen, die sie vorschlagen, durchaus auch das Richtige tun wollen können – in jedem Fall aber nicht das Ziel "Auspressen" und "Arschtritt"-Verteilen (auch das Vokabeln aus den sozialen Medien) haben.

 

Worin jetzt die wirkliche 

Herausforderung besteht

 

In einem Kommentar wie diesem anzumerken, eine mutige Strukturreform sehe anders aus als der HRK-Vorschlag, ist übrigens auch viel leichter, als selbst einen zu präsentieren, der am Ende breite Akzeptanz findet, funktioniert und bei möglichst vielen Vorteilen möglichst wenige Nachteile mit sich bringt.

 

Deshalb werde ich jetzt auch kein weiteres Modell vorschlagen, denn es liegen bereits genügend Problembeschreibungen und auch immer mehr Konzeptvorschläge auf dem Tisch, die sich in ihrer Radikalität und ihren möglichen Auswirkungen stark unterscheiden.

 

Die wirkliche Herausforderung besteht meines Erachtens zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr im Formulieren neuer Ideen. Sondern im Moderieren des gerade begonnenen BMBF-Dialogprozesses, der, um erfolgreich zu sein, am Ende dem System – und damit auch den Hochschulrektoren – mehr Bewegung bei gleichzeitiger Gesichtswahrung ermöglichen sollte. Das klingt nach Chefsache. Und zwar für Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger.



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Kommentare: 13
  • #1

    MüderProf (Donnerstag, 30 Juni 2022 10:23)

    Dass sich das deutsche Universitätssystem in seinem Kern verändern wird, ist offensichtlich. Wie bei des Kaisers neuen Kleidern weigern sich die verschiedenen Universitätsstände, das Unvermeidliche zu akzeptieren:

    1. Der Mittelbau auf PraeDoc-Ebene hat noch nicht verstanden, dass er abgeschafft werden muss, um die unbefristeten PostDoc-Verträge zu finanzieren. Er wird in einem dritten Ausbildungszyklus nach der Bachelor- und Masterphase auf Stipendienbasis studieren.

    2. Die PostDocs haben noch nicht verstanden, dass sie als PostDocs im Mittelbau nicht erwünscht sind. D.h. entweder sie gehen "nach oben" auf den Tenure Track oder "raus".

    3. Die Professoren haben noch nicht verstanden, dass das System der Lehrstühle und Institute vorbei ist, weil Tenure-Entscheidungen nur auf Fachbereichsebene getroffen werden können.

    Die Universitätswelt, auf die wir zusteuern, ist die anglo-amerikanische mit einer Professor:innen-Hierarchie von Assistant über Associate bis Department Chair. So ist das Leben.

  • #2

    JP Teitinger (Donnerstag, 30 Juni 2022 12:43)

    Dass eine Reform nicht "gegen die Hochschulleitungen" gelingen kann, ist ein ziemlich schräger Gedanke. Da wird nun ausgerechnet die Seite zum Kompromiss und zur Mäßigung aufgerufen, die am kürzeren Hebel sitzt.
    Fakt ist doch: Die Hochschulleitungen handeln seit vielen Jahren gegen die Interessen der Beschäftigten. Sie vertreten sich selbst, nicht die Hochschulen als Ganze, beanspruchen aber stets, für die gesamten Universitäten zu sprechen. Und sie präsentieren nun erneut Vorschläge, die genau so zu deuten sind.
    Die Äußerungen und das Auftreten der HRK-Spitze kann man kaum anders bezeichnen als provokant. Dass die Betroffenen sich darüber empören ist nur recht und billig.
    Aufrufe zur Mäßigung sind da fehl am Platz. Es gibt seit vielen Jahren eine gemäßigte Debatte, viele konstruktive Vorschläge wurden gemacht. Die Hochschulleitungen haben gezeigt, dass sie diese konstruktiven Vorschläge nicht aufgreifen, sondern immer wieder hintertreiben oder ausbremsen wollen. Das BerlHG ist das jüngste, offensichtlichste Beispiel. Und es beweist genau das Gegenteil dessen, was im Text behauptet wird:
    Veränderung geht nur gegen die Hochschulspitzen. Die Uni-Beschäftigten erkennen das immer deutlicher und artikulieren es auch.

  • #3

    Roman Stilling (Donnerstag, 30 Juni 2022 13:19)

    @#1 Müder Prof:
    Ich kann ihrem Kommentar nicht ganz folgen. Die einzelnen Beobachtungen für die verschiedenen Ebenen scheinen sich zu widersprechen. Und die Schlussfolgerung, wie strebten auf das angloamerikanische System zu, erscheint auch nicht plausibel.
    Ich kann mir leicht eine ganz andere Zielrichtung vorstellen. Bei der Einstufung der Promotion als dritter Ausbildungsstufe nach Bachelor und Master würde ich mitgehen, das scheint faktisch bereits der Fall in vielen Bereichen. Aber den Schritt Postdocs, müssten zwangsläufig "up or out" mitmachen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich wäre gern langfristig Postdoc geblieben, mit vernünftiger Perspektive und für die wachsende Expertise angemessen bezahlt. Der Druck der durch das aktuelle Up-or-Out Modell entsteht ist überhaupt nicht sinnvoll. Up muss natürlich eine Option bleiben, sie sollte aber nicht der vorgezeichnete Karriereweg mit nur einer einzigen Alternative (Out) sein.
    Ich habe selbst immer wieder erlebt, wie sehr Labs von der Expertise abhängen, die sie selbst aufbauen/ansammeln, und die dann immer wieder kurzfristig wegbricht. Wie das gute Forschung ermöglichen soll, hat mir bisher noch niemand überzeugend erklären können...

  • #4

    Müder Prof (Donnerstag, 30 Juni 2022 14:36)

    @#Roman Stilling: Vielen Dank für Ihre Anmerkung.

    Ich habe in meinen Kommentar das Interview mit der HRK und die aktuelle Diskussion an der HU Berlin einbezogen.

    Die Einschätzung, dass die PostDoc-Phase in ein up or out mündet, war aus meiner Sicht nicht normativ gedacht (dass es so sein soll), sondern faktisch (dass es so sein wird). Grund ist, dass ein entfristeter Mittelbau eine Art Zwitterwesen darstellt, der weder zum Professorium noch zum Mittelbau in der Qualifizierungsphase gehört. Die Entfristung gelingt derzeit in Form einer Lehrkraft für besondere Aufgaben mit einer Lehrverpflichtung von 14-18 SWS. Ich habe selten eine LfbA getroffen, die damit glücklich gewesen wäre ("zuwenig Zeit für Forschung", "Lehrsklave" etc.

    Steigt man als "Assistant" im Tenure Track ein, bedeutet die Entfristung den Status "Associate" und kann bei aussergewöhnlichen Leistungen den "Chair" bedeuten.

    Finde ich alles nicht unlogisch, sondern wahrscheinlich.

  • #5

    Michael Liebendörfer (Donnerstag, 30 Juni 2022 14:46)

    Man muss anerkennen, dass einige Hannas hier um ihre berufliche Zukunft bangen und für sie somit wesentlich mehr auf dem Spiel steht als für die Vertretung der HRK.

    Auf der anderen Seite scheint mir, dass die Konfrontation mit der HRK und die Reduktion auf zwei Streitparteien von einigen Hannas letztlich auch nur das ausdrückt: es geht um das eigene (wissenschaftliche) Überleben.

    Eine vernünftige Moderation kann ich mir kaum vorstellen, ohne dass weitere Interessen und Gruppen berücksichtigt werden, die in der Diskussion bisher allenfalls als Schlagworte fallen, aber nicht vertieft erörtert wurden: Studierende (Lehrqualität), Geldgeber wie Stiftungen, Ministerien oder die DFG (projektförmige Wissenschaft, Auftragsforschung) und auch die guten Absolvent:innen, die aufgrund der unklaren Perspektiven eine Wissenschaftskarriere gar nicht erst versucht haben (insb. in Fächern mit gutem Arbeitsmarkt).

    Und man muss fachspezifische Lösungen überlegen. Leute zu promovieren gehört bisher zum Auftrag der Universitäten und wird oft mit Geld belohnt. Wenn man sich in manchen Fächern damit tatsächlich für nichts als einen überfüllten Arbeitsmarkt in der Wissenschaft qualifiziert, dann kann sich die Gesellschaft das investierte Geld auch sparen.

    Und man wird wohl kaum einen für alle angenehmen Konsens finden. Denn fast egal, welche der im Raum stehenden Vorschläge am Ende umgesetzt würde: die meisten aktuellen Hannas wären dann nicht prekär in der Wissenschaft beschäftigt, weil sie überhaupt nicht (mehr) in der Wissenschaft beschäftigt wären.

  • #6

    Geld? (Donnerstag, 30 Juni 2022 15:47)

    @Roman Stilling
    "Ich wäre gern langfristig Postdoc geblieben, mit vernünftiger Perspektive und für die wachsende Expertise angemessen bezahlt." - nachvollziehbar
    "Ich habe selbst immer wieder erlebt, wie sehr Labs von der Expertise abhängen, die sie selbst aufbauen/ansammeln, und die dann immer wieder kurzfristig wegbricht. Wie das gute Forschung ermöglichen soll, hat mir bisher noch niemand überzeugend erklären können... " - völlig korrekt
    Aber: Welche Stellen bekommt die nächste, die übernächste und die überübernächste Kohorte, bis die Dauerstellenpostdocs in Rente gehen? Wenn man mehr Stellen schafft, müssen die auch finanziert werden. Bei gewisser Risikoabschätzung geht das auch dauerhaft über immer wieder befristet reinkommende Mittel. Aber das Personal muss auch untergebracht werden. Hochschulbau kostet, dauert und muss unterhalten werden. Gerade für experimentell arbeitende Wissenschaften ist das HomeOffice maximal anteilig eine Alternative, wenn überhaupt. Der Aufbau eines richtigen Mittelbaus mit ausgewiesener Expertise und langfristiger Perspektive funktioniert nur, wenn der erste Bottleneck schon vor der Annahme zur Promotion eingezogen wird.

  • #7

    asdf (Donnerstag, 30 Juni 2022 22:25)

    Ich bin beim Kommentar von JP Teitinger bzgl. der Opposition zu den Rektoren.

    Es erschließt sich mir ferner nicht, warum in beinah JEDEM anderen Arbeitsverhältnis in D der Grundsatz zur unbefristeten Einstellung gilt, aber in den Hochschulen nicht. Als ob deren gesellschaftliche Funktion sich auf Innovation und Professurkaderschmiede beschränken würde, dem sich alles andere unterzuordnen hat... Als ob es keine anderen Institutionsformen gibt, die Forschung betreiben und trotzdem unbefristete Stellen besetzen... Als ob es keine Arbeitnehmerrechte in Deutschland gäbe... Als ob es nicht endlich mal an der Zeit wäre, diesem Freibrief zur Willkür ein Ende zu bereiten.

    Man stelle sich mal vor, man müsste sich vor der Personal-Einstellung und innerhalb der Probezeit tatsächlich Kümmern, oder gar darüber hinaus eine Vorgesetztenfunktion ausfüllen, die diesen Namen verdient. Unvorstellbar, dass lebenslanges Lernen nicht nur für alle Menschen außerhalb der Hochschule gelten könnte. Bald wird noch gefordert, dass Leitungspersonen an Hochschulen zu Führungs-, Management- und Verwaltungs-Weiterbildungen verpflichtet werden. Ja wo kämen wir denn da hin?! Womöglich könnte an diesem ominösen New Public Management auch etwas Positives dran sein. Man muss ja vorsichtig sein in diesen Zeiten, in denen so viele Wahrheiten einfach vom Sockel fallen.

  • #8

    Literaturwissenschaftlerin (Freitag, 01 Juli 2022 13:54)

    Volle Zustimmung für @JP Teitinger. Dem ist nichts hinzuzufügen. Hoffentlich begreifen auch das Ministerium / der Gesetzgeber das.

  • #9

    JP Teitinger (Freitag, 01 Juli 2022 16:48)

    @Geld??
    "Welche Stellen bekommt die nächste, die übernächste und die überübernächste Kohorte, bis die Dauerstellenpostdocs in Rente gehen?"

    Warum wird diese Frage nicht überall gestellt, wo unbefristete Stellen vollkommen gängig sind?
    Auch bei unbefristeter Beschäftigung gibt es jede Menge Gründe, zu wechseln: Aufstieg mit anderen Aufgaben, bessere Bedingungen woanders (man stelle sich vor, es gäbe wirklich einen Lockwettbewerb um die Besten!), Umzug mit Partner*in aus anderer Branche, Neuorientierung mit anderen Interessen uvm.
    Das passiert in allen möglichen Bereichen ganz gewöhnlich. In der Wissenschaft genauso.
    Nur: Es gäbe den Wechsel, weil die Betroffenen ihn *wollen*, nicht weil sie dazu gezwungen werden. Das ist der entscheidende Unterschied.

    Woher kommt bloß diese Vorstellung, Beschäftigte in der Wissenschaft seien veränderungsunwillige oder -unfähige, immobile Sesselkleber?
    Letztlich ist die einzige Ursache für solches Verhalten die Prekarität selbst. Wer endlich eine sichere Stelle ergattert, gibt sie so schnell nicht wieder her, weil es woanders in der Regel nur unsichere, befristete Stellen gibt (oder man wegen WissZeitVG diese gar nicht erst bekommen darf). Wären stabile Beschäftigungen die Norm statt die Ausnahme, müsste man die Leute schlicht nicht rausschmeißen, um Mobilität und Fluktuation zu erreichen.
    Wenn jemand "angekommen ist" und bis zur Rente auf derselben Stelle bleiben möchte, ist das übrigens kein bisschen verwerflich.

  • #10

    UniVerwaltungsMA (Montag, 04 Juli 2022 09:23)

    Kurze Frage an @JPTeitinger, @asdf, @Literaturwissenschaftlerin, @RomanStilling: Gibt es denn Vorbild-Modelle in anderen Ländern für Ihre Vorstellungen?

    Ich kann (als nicht promovierter "Laie" in der Frage) Ihre Wünsche nachvollziehen. Rational aber leuchten, aufgrund der verschiedenen Realitätszwänge, die Argumente von @Geld und @MüderProf ein.

    Außer es gibt BestPractice-Modelle anderswo, die funktionieren? Vorbilder helfen beim Wandel!

  • #11

    JPTeitinger (Montag, 04 Juli 2022 14:09)

    @UniVerwaltungsMA
    Es gibt funktionierende Strukturen, die viele (nicht alle!) der Schwierigkeiten abmildern, etwa im Benelux-Raum, in Skandinavien, in Großbritannien, den USA und durchaus auch schon hier und da in Deutschland. Man muss das Rad nicht neu erfinden.
    Was früher der "Akademische Rat" war (muss natürlich nicht verbeamtet sein), was heute "Lecturer" oder "Senior Lecturer" sind, Universitair Hoofddocent in den Niederlanden usw. - Positionen also, die unbefristet besetzt sind, ohne dass es Professuren sein müssen. Und Positionen, die nicht als "Ausstattung" wie der Privatbesitz von Professor*innen behandelt werden.
    Im Detail muss man hinschauen, welche genauen Aufgaben diese Stellen jeweils beinhalten, aber klar ist:
    Fluktuation gibt es in diesen Ländern überall. Man kann wohl kaum behaupten, dass dort die wissenschaftliche Dynamik erlahnt ist, dass keine neuen Ideen oder keine jungen Leute nachrücken. Mobilität durch Dauerbefristung und Rauswurf zu erzwingen erscheint gerade aus Perspektive dieser Länder schlicht völlig absurd.

  • #12

    Roman Stilling (Montag, 04 Juli 2022 14:20)

    @Geld? --> das, was JPTeitinger sagt ;-)
    Ergänzend: Ja klar, verschiebt sich der Bottleneck nach vorher, nämlich ans Ende der Promotion. So wie es in allen anderen Arbeitsbereichen auch der Fall ist: Nach der Ausbildung wird man nicht selbstverständlich im selben Betrieb (oder auch nur derselben Branche) übernommen. Es wird auch weiterhin Mobilität und Dynamik im Arbeitsmarkt Wissenschaft geben, aber natürlich gibt es dann Verschiebungen, wenn Postdocs eine Dauerperspektive haben. Das ändert an der Finanzierung überhaupt nichts.
    Das Argument der Wissenschaft ist halt bisher: Es darf keine Dauerstellen geben, weil nur der konstante Austausch andauernde Kreativität garantieren würde. Das ist weder empirisch untermauert noch besonders plausibel und steht den von mir und anderen (auch hier) genannten erheblichen Nachteilen (ständiges Abwandern gerade aufgebauter Expertise, Dauer-Belastung der Arbeitskräfte, Abbruch aufgrund von Frustration statt Selektion der besten Köpfe, etc.pp.) dieser traditionellen Modells gegenüber.

    @UniVerwaltungsMA - ich kenne jetzt aus dem Stegreif kein Land, in dem es großartig anders wäre. Wissenschaft ist sehr stark globalisiert und aus einer tradition gewachsen. Heißt, es könnte sein, dass es da kein anderes Vorbild gibt und man sich die Idealbilder schon selbst schaffen muss. ;-)
    Ich glaube aber in einigen Fachgebieten gibt es mehr Flexibilität als in anderen ((Bio}Medizin ist sicher anders als Physik, so jedenfalls meine Erfahrung, die natürlich täuschen kann).

  • #13

    NLerfahrung (Mittwoch, 06 Juli 2022 19:01)

    @JPTeitinger:
    Es mag sein, dass die Strukturen z.B. in den Niederlanden eine frühere Entfristung erlauben (das aber auch erst seit dem letzten Jahr) und nebenbei aufgrund des Stufenmodells (ähnlich wie im TV-L) durchaus auch finanziell ein interessanteres Modell vorliegt als es in vielen deutschen Bundesländern für Professoren existiert, wo ja oft nur durch einen weiteren Ruf bessere Konditionen verhandelt werden können.

    Aber: Aus eigener Erfahrung kann ich sehr wohl sagen, dass gerade in den Niederlanden doch immer noch ein sehr hierarchisches Denken vorherrscht und man z.B. als Universitair Docent dort deutlich weniger unabhängig arbeitet als man es (je nach Professor) in Deutschland teilweise schon als PostDoc und definitiv als Juniorprofessor macht (Beispiel: in den Niederlanden ist man ca. 6-8 Jahre UD / Assistant Prof und die meisten Universitäten haben dieser Berufsgruppe noch kein Promotionsrecht verliehen, obwohl es gesetzlich zugelassen wäre).

    Ob man also Entfristung gegen Hierarchie eintauschen möchte, sollte man sich gut überlegen. Ich bin froh, aus den Niederlanden zurück zu sein...