Der neue IQB-Bildungstrend zeigt: Deutschlands Viertklässler können heute deutlich schlechter lesen, schreiben, zuhören und rechnen als 2016. Eine Folge der Corona-Pandemie? Ja, sagt IQB-Direktorin Petra Stanat. Aber nicht nur: Deutschlands Grundschulen hätten grundsätzlich ein "Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem".
Petra Stanat ist Psychologin, Bildungsforscherin und seit 2010 Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
Foto: IQB Berlin.
Frau Stanat, der IQB-Bildungstrend ist für die Bildungspolitik ein entscheidender Gradmesser. Vergangenes Jahr haben Sie zum dritten Mal nach 2011 und 2016 fast 27.000 Viertklässler aus ganz Deutschland auf ihren Leistungsstand in den Fächern Deutsch und Mathematik getestet. Ein Jahr später als ursprünglich geplant, wegen Corona. Immerhin können Sie dank der Verspätung jetzt ziemlich gut einschätzen, was die Pandemie für den Bildungserfolg der Kinder bedeutet hat, oder?
Es gab zuvor schon erste Lernstandsanalysen aus einzelnen Bundesländern, aus Hamburg etwa. Hinzu
kommen Ergebnisse der Grundschulstudie Iglu, allerdings nur fürs Lesen. In allen Fällen deutete sich ein Rückgang des mittleren Leistungsstands an, und der bestätigt sich nun leider auch mit unserer großen Stichprobe, die bundesweit repräsentativ ist. Der Negativtrend zeigt sich durchgängig über alle getesteten Bereiche hinweg, also Lesen, Zuhören, Orthographie und Mathematik, und er ist deutlich. Die Viertklässler lagen 2021 um ein Viertel- bis Drittelschuljahr hinter ihren Vorgängern im Jahr 2016 zurück, beim Zuhören war der Rückstand mit einem halben Jahr am größten. Allerdings muss ich einschränkend sagen: Wir können nicht bestimmen, wieviel von dieser Entwicklung tatsächlich auf pandemiebedingte Einschränkungen zurückzuführen ist.
Warum nicht?
Erstens weil zwischen 2016 und 2021 noch mehr passiert ist als die Corona-Pandemie. Und zweitens weil schon zwischen 2011 und 2016 ein Trend rückläufiger Schülerleistungen feststellbar war, wenn auch schwächer und nicht durch die Bank. Im Lesen waren die Ergebnisse 2016 im Vergleich zu 2011 noch weitgehend stabil. Dieses Mal sehen wir aber auch hier einen deutlichen Rückgang, und in den übrigen Kompetenzbereichen hat sich die Abwärtsbewegung erheblich verstärkt. Unter anderem deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Entwicklung etwas mit den pandemiebedingten Einschränkungen zu tun hatte, vor allem mit den zeitweiligen Schulschließungen und der Umstellung auf Fern- und Wechselunterricht.
Aber das ist eine Vermutung?
Das ist eine Vermutung, aber eine gut begründete. Studien in anderen Ländern wie die Vereinigten Staaten, die Schweiz oder die Niederlande berichten ähnliche Veränderungen, die sie auf die pandemiebedingten Schulschließungen zurückführen, und es ist nicht davon auszugehen, dass ausgerechnet Deutschland von solchen Effekten verschont geblieben ist. Außerdem zeigt auch ein von uns gemeinsam mit Kooperationspartnern durchgeführter, noch nicht veröffentlichter Vergleich von Mathe-Leistungsdaten, die 2019 und 2021 erhoben worden sind, dass es genau in diesem Zeitraum einen kräftigen Rückgang gegeben hat. Hinzu kommt aber: Wir haben an Deutschlands Grundschulen auch unabhängig von Corona ein Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem. Der IQB-Bildungstrend untersucht ja unter anderem, wie hoch der Anteil der Schüler ist, die die Mindeststandards erreichen, und das Ergebnis ist so eindeutig wie ernüchternd: Die durchgängige Sicherung dieses grundlegenden Kompetenzniveaus gelingt unserem Bildungssystem nicht. Das Ziel, dass zumindest basale Kompetenzen von allen Schülerinnen und Schülern beherrscht werden, wird seit vielen Jahren verfehlt. Jetzt aber eben noch deutlicher, weil die Pandemie die Schieflage verschärft hat. >>
Rückgänge auf breiter Front
Das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) ist ein An-Institut der Berliner Humboldt-Universität, das die Kultusministerkonferenz finanziert. Es hat unter anderem den Auftrag, regelmäßig zu überprüfen, ob die am IQB entwickelten und von der KMK beschlossenen Bildungsstandards von den Schülerinnen und Schülern erreicht werden. Die Bildungsstandards definieren, welche Kompetenzen Kinder und Jugendlichen zu bestimmten Zeitpunkten in ihrer Schullaufbahn haben sollten.
Zum Zweck dieses Bildungsmonitorings testet das IQB alle fünf Jahre eine bundesweit repräsentative Stichprobe von Viertklässlern auf ihren Leistungsstand in Deutsch und Mathematik, dieses Mal nahmen 27.000 Grundschüler am den Bildungstrend-Überprüfungen teil. Auch die Kompetenzen der Neunklässler werden bundesweit repräsentativ und und regelmäßig überprüft: alternierend alle drei Jahre in Sprachen (Deutsch, Englisch Französisch) einerseits und in Mathe, Biologie, Chemie und Physik andererseits.
Schon die IQB-Bildungstrends 2015 (Neunklässler) sowie 2016 (Viertklässler) und 2018 (Neunklässler) waren vor allem bei den Grundschülern durchwachsen ausgefallen und zeigten je nach Bundesland deutliche Abwärtsbewegungen, teilweise aber auch Stagnation.
Diesmal sind die Rückgänge bei den Viertklässlern auf Bundesebene durchgängig. Der Anteil der Kinder, die nicht die einmal die Mindeststandards schaffen, hat sich gegenüber 2011 teilweise verdoppelt und liegt je nach untersuchtem Kompetenzbereich bei fast einem Drittel. Das durchschnittlich erreichte Niveau der Kompetenzen sank zwischen 2016 und 2021 im Lesen um 22 auf 471 Punkte, beim Zuhören um 28 auf 456, bei der Rechtschreibung um 27 auf 473 und in Mathe um 21auf 462 Punkte. 30 Kompetenzpunkte entsprechen in etwa dem Fortschritt eines halben Schuljahrs.
Die auf die einzelnen Bundesländer herunter-gebrochenen Ergebnisse folgen im Oktober.
>> Bitte machen Sie das konkret.
Insgesamt erreichen in Mathematik knapp 22 Prozent der Kinder nicht mehr die Mindeststandards, also die zweite von fünf Kompetenzstufen. Damit ist der Anteil fast doppelt so hoch wie 2011. Im Bereich der Rechtschreibung verharren sogar 30 Prozent der Kinder auf der untersten Kompetenzstufe, das sind acht Prozentpunkte mehr als 2016.
Inwiefern ist das neben dem Leistungs- auch ein Gerechtigkeitsproblem?
Die Abhängigkeit des Lernerfolgs vom sozioökomischen Hintergrund der Familien hat sich verstärkt. Dieser Zusammenhang war auch vor Corona schon ausgeprägt, ist zwischen 2011 und 2016 aber wenigstens nicht noch enger geworden. Das war 2021 anders. Und auch Kinder aus Einwandererfamilien sind noch stärker zurückgefallen.
Die Schulen haben zwischen 2016 und 2021 unter anderem hunderttausende Geflüchtete aufgenommen.
Tatsächlich hatten wir 2021 vier Prozent Schülerinnen und Schüler in unserer Stichprobe, die nach Deutschland geflüchtet sind. Und insgesamt ist der Anteil von Kindern aus Einwandererfamilien gegenüber 2016 nochmal um fast 5 Prozentpunkte angestiegen. Das ist erheblich, die Heterogenität der Schülerschaft ist groß wie nie, und es sind die im Ausland geborenen Kinder, deren Leistungen sich am stärksten verschlechtert haben. Am kritischsten ist hier der Bereich Zuhören.
"Wir haben die Kinder, die wir haben, und wir brauchen sie alle, denn sie werden unsere Zukunft gestalten.
Wenn sie nicht ausreichend gefördert werden, ist das nicht ihnen zuzuschreiben, sondern unsere Verantwortung, es besser zu machen."
Bei der Präsentation der ersten Pisastudie 2001 versuchten einige Politiker Deutschlands miserables Abschneiden mit Hinweis auf die Leistungen der "Ausländerkinder" zu relativieren: Die zögen den ansonsten respektablen Schnitt nach unten. Befürchten Sie, das versucht jetzt wieder jemand – nach dem Motto: Wir haben halt so viele Geflüchtete aufgenommen, kein Wunder, dass der Trend nach unten geht?
Über solche unterkomplexen Narrative scheint die Bildungspolitik hinweg zu sein. Alle Kinder sind unabhängig von ihrer Herkunft Teil unserer Gesellschaft. Wir haben die Kinder, die wir haben, und wir brauchen sie alle, denn sie werden unsere Zukunft gestalten. Wenn sie nicht ausreichend gefördert werden, ist das nicht ihnen zuzuschreiben, sondern unsere Verantwortung, es besser zu machen. >>
Was sagt die Politik?
KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) sprach in ihrer ersten Reaktion von gravierenden Folgen der Corona-Pandemie bei den Viertklässlern. "Die Ergebnisse zeigen, dass besonders Kinder von den pandemiebedingten Schulschließungen betroffen waren, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten können. Dies unterstreicht einmal mehr die Bedeutung von schulischem Lernen für die Bildungsgerechtigkeit." Die Schülerinnen und Schüler bräuchten den Präsenzunterricht in der Schule und langfristig angelegte Maßnahmen, um die pandemiebedingten Lernrückstände aufzuholen. Deshalb hätten die Bundesländer die Bundesregierung gebeten, das Corona-Aufholprogramm um 500 Millionen Euro aufzustocken und zu verlängern.
"Die großen Schulleistungsstudien zeigen aber auch, dass schon vor der Pandemie seit 2011 negative Trends festzustellen sind", fügte Prien, im Hauptberuf Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, hinzu. "Wir müssen daher den eingeschlagenen Weg konsequent weiter
gehen und die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen stärken."
Hamburgs SPD-Bildungssenator Ties Rabe sagte: "Die IQB-Studie bestätigt erneut die Zweifel vieler Kultusminister, dass der deutsche Corona-Sonderweg mit den meisten Schulschließungen aller westeuropäischen Länder wirklich richtig war." Der Bund dürfe sich jetzt nicht wegducken in Bezug auf das Corona-Aufholprogramm sowie die zügige Ausarbeitung eines dauerhaften Nachfolgeprogramms zur Verbesserung der Startchancen für benachteiligte Schüler.
Auch der CDU-Kultusminister von Hessen, Alexander Lorz, stimmte in die Forderungen nach einem längeren und umfangreicheren Corona-Aufholprogramm ein und betonte: "Die nun vorliegenden Ergebnisse sind eine Verpflichtung für uns als Politik, bei allen zukünftigen Pandemie-Entscheidungen noch mehr als zuvor die Interessen der jungen Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund zu stellen."
>> Was ist mit dem ebenso erwartbaren Argument, man müsse die starken Rückgänge der Schülerleistungen im Kontext der Pandemie sehen? Könnte das zur Ausrede für die Bildungspolitik werden, keine grundlegenden Konsequenzen zu ziehen?
Es wäre falsch wenn verantwortliche Politiker daraus ableiten würden, ein temporäres Aufholprogramm allein könnte die Lösung sein. Die Probleme gerade im unteren Leistungsbereich, also bei den leistungsschwächeren Schülern, sind, ich sagte es, nicht temporär, sondern über einen längeren Zeitraum entstanden. Deshalb werden Einzelmaßnahmen, punktuelle Projekte oder kurzzeitigen Bund-Länder-Vorhaben nicht durchschlagend helfen, sondern wir brauchen eine strategische und nachhaltige Weiterentwicklung der Förderung all jener Kinder, die nicht die Mindeststandards erreichen.
Was heißt in diesem Zusammenhang "strategisch"?
Als Anfang der 2000er Bildungsstandards eingeführt wurden, wollte man damit die schulische Praxis verändern. Die Wahrheit aber ist: Die entwickelten Kompetenzstufen-Modelle, die auch Mindeststandards definieren, spielen in der schulischen Praxis keine Rolle. Es finden kaum systematische Diskussionen darüber statt, was wirklich alle Kinder können sollten am Ende der Grundschule, um in der Sekundarstufe I gut weiterlernen zu können, und was getan werden muss, um dies sicherzustellen. Die Wissenschaft stellt für manche Kompetenzbereiche, etwa für die Entwicklung von Lesekompetenz, Instrumente für eine zielgenaue Diagnostik und Förderung zur Verfügung, die aber längst noch nicht überall genutzt werden, und für manche Kompetenzbereiche fehlen solche Instrumente auch noch ganz. Wir müssen die von allen zu erreichenden Kompetenzziele klarer definieren, eine darauf bezogene Diagnostik etablieren und auf dieser Grundlage strategisch didaktische Schlussfolgerungen ziehen.
Unter anderem dazu sollen die gerade vom BMBF ausgeschriebenen Kompetenzzentren für digitale Bildung dienen. Sie sollen die Zusammenarbeit zwischen Bildungsforschung und Bildungspraxis stärken. Wie steht es denn um den Link zwischen Forschung und Politik? Nutzen die Bildungsminister all die Daten, die sie geliefert bekommen, um auf ihrer Grundlage evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen?
Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Insgesamt scheint die strategische Nutzung unserer Daten zur politischen Planung zugenommen zu haben. Und ich erwarte mir da weitere Fortschritte, vor allem weil die Kultusministerkonferenz eine Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) eingerichtet hat, von der sich sie sich evidenzbasiert beraten lassen will. Zum Arbeitsplan der SWK gehört aktuell, ein Gutachten zur Grundschule zu verfassen, das genau diese Frage beantworten soll: Was müssen wir tun, um Schülerinnen und Schüler so zu fördern, dass möglichst viele von ihnen die Mindeststandards erreichen?
"Wir wollten wegen der Dringlichkeit der Frage, welcher Lernstand nach den Pandemie-Einschränkungen erreicht wurde, nicht so lange warten und haben den Ländern vorgeschlagen, mit ersten groben Auswertungen so früh wie möglich herauszukommen."
Sie sagen, die strategische Nutzung der Daten durch die Kultusminister habe insgesamt zugenommen. Gleichzeitig haben viele Länder die Vergleichsarbeiten in der Corona-Zeit ausgesetzt. Und während der IQB-Bildungstrend normalerweise die Ergebnisse für jedes einzelne Bundesland ausweist, gibt es dieses Mal nur bundeseinheitliche Zahlen.
Ja, aber letzteres kann man den Kultusministern nicht zum Vorwurf machen. Auch vor Corona erfolgte die Veröffentlichung der Ergebnisse unserer Bildungstrends immer im Oktober des Folgejahres, das wäre also erst in drei Monaten gewesen. Wir wollten aber wegen der Dringlichkeit der Frage, welcher Lernstand nach den pandemiebedingten Einschränkungen erreicht wurde, nicht so lange warten und haben den Ländern vorgeschlagen, mit einem ersten Bericht und ersten groben Auswertungen so früh wie möglich herauszukommen. Ich finde, diese Transparenz sind wir der Öffentlichkeit schuldig. Und für die bildungspolitische Planung ist diese Information ja auch wichtig. Daher hat die Politik das, wenn auch vielleicht nicht begeistert, mitgetragen. Die Länderergebnisse erscheinen dann wie immer im Oktober.
Nach der erste Pisastudie 2001 ging es erst rauf mit den Schülerleistungen, dann seit etwa 2011, 2012 zunächst seitwärts, später immer deutlicher runter. Warum ist das so?
Ich kann Ihnen zwei mögliche Erklärungen bieten. Zum einen hatte die Bildungspolitik nach den enttäuschenden Pisa-Ergebnissen umfangreiche Anstrengungen unternommen und Reformen umgesetzt. Die haben sich zumindest teilweise ausgezahlt. >>
>> Nach einigen Jahren hat die Bildungspolitik dann so einen Gegenwind aus den Schulen und aus der Elternschaft bekommen hat, dass sie die Reformen eingestellt hat. Die Schulen sollten auch mal zur Ruhe kommen, hieß es.
Ich bin auch nicht sicher, ob noch mehr Reformen nötig gewesen wären, um den Aufwärtstrend zu halten. Richtig aber wäre es in jedem Fall gewesen, die eingeführten Maßnahmen und Instrumente konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln. So zum Beispiel die Vergleichsarbeiten, deren Potenzial in vielen Ländern nicht ausgeschöpft wird und die Niedersachsen sogar abgeschafft hat. Länder wie Hamburg oder auch Baden-Württemberg gehen da mit gutem Beispiel voran, indem sie die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten systematisch in Strategien der Weiterentwicklung von Schule und Unterricht einbeziehen. Ganz ungünstig ist es, wenn viele Einzelmaßnahmen getroffen werden, die unverbunden nebeneinander stehen und die Erkenntnisse der Bildungswissenschaften nicht ausreichend nutzen. Das hat beispielsweise die sogenannte Köller-Kommission vor zwei Jahren für Berlin festgestellt und eine kohärente Verknüpfung der Vielzahl von Einzelmaßnahmen empfohlen, die das Land im Bereich der Unterrichtsentwicklung eingeführt hat.
Welche Erklärung für das Auf und Ab haben Sie noch?
Worauf der frühere deutsche Leiter der Pisastudie, Jürgen Baumert schon vor vielen Jahren hingewiesen hat, ohne dass es ausreichend zur Kenntnis genommen wurde: Die Zusammensetzung der Schülerschaft hat sich grundlegend verändert und verändert sich immer weiter. Heute gibt es unter anderem viel mehr Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, als 2001. Auf diese zunehmende Vielfalt hat das Bildungssystem nicht konsequent genug reagiert. Und dann haben wir die Heterogenität noch weiter erhöht, indem die Inklusion in den Schulen vorangetrieben wurde. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte das für einen richtigen Weg, aber er muss durch entsprechende Unterrichtsmodelle und Unterstützungsmaßnahmen flankiert werden, damit Inklusion für alle gelingen kann. Und wir müssen unbedingt den Elementarbereich, den Bildungsauftrag der Kitas, stärken. Die Bildungspläne sind da, aber an der Umsetzung fehlt es. Der Elementarbereich muss dafür sorgen, dass auch Kinder, die zu Hause wenig Anregung erhalten, sprachliche und mathematische Basiskompetenzen erwerben. Hier ist noch viel zu tun.
"Wenn der Begriff Bildungsnotstand nötig ist, um den nötigen Schub zu geben, verwende ich den gern."
Frau Stanat, seit Jahren rückläufige Schülerleistungen, wachsende soziale Disparitäten und ein Schulsystem, das nicht angemessen mit der wachsenden Heterogenität umgehen kann. Dazu der massive Lehrkräfte- und Erzieher:innenmangel: In den 60er Jahren riefen Pädagogen den Bildungsnotstand aus und machten so enormen Druck auf die Kultuspolitik. Wäre es nicht längst Zeit, es heute wieder zu tun?
Ich weiß nicht, ob solche alarmistischen Schlagworte wirklich helfen, aber die Herausforderungen sind in der Tat sehr groß. Wichtig ist, dass wir mit der Weiterentwicklung der Unterrichtsqualität vorankommen. Gerade haben wir die Bildungsstandards für die Fächer Deutsch und Mathematik auf den neusten Stand gebracht. Die KMK hat sie letzte Woche verabschiedet und nun müssen sie in den Ländern so implementiert werden, dass sie auch wirklich im Unterricht ankommen. Hierbei können die Vergleichsarbeiten hilfreich sein, wenn sie entsprechend weiterentwickelt und systematisch genutzt werden, dafür benötigen Schulen und Lehrkräfte Unterstützung. Und wir müssen, wie gesagt, den Fokus auf das Erreichen der Mindeststandards stärken. Wenn der Begriff Bildungsnotstand nötig ist, um diesen Entwicklungen den nötigen Schub zu geben, verwende ich den gern.
Bräuchten wir bei allem guten Willen und allen diagnostischen Instrumenten nicht vor allem erstmal ausreichend Lehrer, um den nötigen Unterricht zu erteilen?
Beides ist wichtig: Der Unterricht muss gesichert sein, und er muss gut sein. Es müssen dringend zusätzliche Lehrkräfte gewonnen werden, aber der Mangel ist groß. Und solange wir zu wenige Lehrkräfte haben, müssen kluge Prioritäten gesetzt werden, damit auf jeden Fall die Basis aller schulischer Bildung, die grundlegenden Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Sprechen und Zuhören sowie Mathematik, in hoher Qualität sichergestellt werden. Das erfordert ein gut begründetes strategisches Vorgehen von den Kultusministern und großes Engagement aller Akteure. Ein weiterer Kraftakt, den wir der nachwachsenden Generation schuldig sind.
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