· 

Wacker durch die Datenmisere

Die Corona-Evaluationskommission hat ihren Bericht vorgelegt. Seine Bedeutung liegt weniger in der Wirkungsanalyse einzelner Maßnahmen als im Aufzeigen des politischen Versagens beim Pandemie-Monitoring.

EIGENTLICH WAR DIE DEBATTE um den Corona-Evaluationsbericht schon lange nicht mehr zu retten, und das war nicht die Schuld der Sachverständigenkommission. Höchstens, wenn man ihren Mitgliedern, allesamt hochrangigen Wissenschaftlern, vorwerfen wollte, dass sie trotz allem versucht haben, ihren Job zu machen.

 

Die Politik hatte den Ausschuss eingesetzt, Bundesregierung und Bundestag hatten wie im Infektionschutzgesetz vorgesehen ihre Mitglieder je zur Hälfte ausgewählt, um die Maßnahmen der Pandemiepolitik in den vergangenen zwei Jahren auf ihre Wirksamkeit hin zu evaluieren. Dieselbe Politik, die es trotz zahlloser Appelle teilweise genau derselben Experten seit März 2020 mehrheitlich nicht für nötig gehalten hatte, die nötige repräsentative Datengrundlage für eine solche Evaluation zu schaffen.

 

Da stellt sich schon die Frage, wie ernst gemeint der Auftrag war. Zumal die Kommission von Anfang an und auch in ihrem heute veröffentlichten Bericht darauf hinwies, dass sie für eine umfassende Evaluierung "weder personell ausgestattet war noch einen ausreichend langen Evaluationszeitraum zur Verfügung hatte". 

 

All das, so schien es in den vergangenen Wochen, wurde in der Öffentlichkeit allerdings weniger der dafür verantwortlichen Politik angelastet, sondern den sich allesamt ehrenamtlich engagierenden Wissenschaftler:innen, weil die ja voraussichtlich einen wenig fundierten Bericht präsentieren würden. Mitglieder waren so bekannte Namen wie die Soziologin Jutta Allmendinger, der Virologe Hendrik Streeck, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts RWI, Christoph Schmidt, oder der Charité-Vorstandsvorsitzende Heyo Kroemer.

 

Ernüchterndes Desinteresse
der Gesundheitsminister

 

Trotzdem wurden der Kommission pauschal vorgefertigte Meinungen unterstellt und einzelne wurden gar zu Sprachrohren derjenigen Parteien erklärt, die sie jeweils nominiert hatten. Dabei verabschiedeten alle Experten den gesamten Evaluationsbericht gemeinsam. Eine Ausnahme hiervon findet sich auf der allerletzten Seite: Der Epidemiologe Klaus Stöhr habe erst ab 10. Juni an den Beratungen teilnehmen können, steht da, so dass "nicht in allen Punkten Konsens erzielt" habe werden können.

 

Ernüchternd erscheint gerade angesichts dieser großen Einigkeit der Experten, dass auch SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, selbst bislang nicht als Förderer repräsentativer Erhebung von Infektionsdaten aufgefallen, seit Wochen jede Gelegenheit nutzte, um die Bedeutung des Evaluationsberichts herabzudimmen, etwa zu "auch nur einem weiteren Baustein". Und dass er infolge dessen gar nicht erst so tat, als wolle er mögliche Corona-Maßnahmen für den Herbst unter den Vorbehalt der Evaluation stellen. So erarbeitete sein Haus schon vergangene Woche einen Referentenentwurf für die Infektionsschutz-Novelle im Herbst, den die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften bis Dienstagabend kommentieren sollte – also noch vor Veröffentlichung des Evaluationsberichts. 

 

Und die Gesundheitsminister der Länder beschlossen nur wenige Stunden, nachdem die Kommission ihren 160-seitigen, detailreichen Bericht präsentiert hatte, ihren Maßnahmen-Forderungskatalog für den kommenden Herbst. Auf die Frage einer Journalistin, was davon zu halten sei, antwortete Jutta Allmendinger mittags in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts: "Diese Frage sollten Sie den Gesundheitsministern stellen."

 

Noch absurder aber ist, dass der FDP ihr Pochen, vor neuen Maßnahmen-Debatten die gemeinsam beschlossene wissenschaftliche Evaluation abzuwarten, von ihren Koalitionspartnern als Verantwortungslosigkeit, ja Wissenschaftsfeindlichkeit vorgehalten wurde. 

 

Die Kommission hat sich nicht
beeindrucken lassen und geliefert

 

Doch die Mitglieder der Kommission haben sich nicht beeindrucken lassen und trotzdem genau das geliefert, was sie liefern konnten – was Teile der Politik aber offenbar gar nicht mehr hören wollten: eine schonungslose Einschätzung der deutschen Datenerhebungsmisere und eine zurückhaltende, in Teilen aber dennoch deutliche Analyse dessen, was trotzdem an Evaluation möglich war.  

 

Der entscheidende Satz findet sich denn auch gleich in der Executive Summary: "Die Erfüllung des Auftrags und Anspruchs durch die Evaluationskommission wurde erheblich dadurch erschwert, dass sie zur Bewertung der auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützten Maßnahmen erst im Nachhinein aufgefordert wurde. Ferner fehlte eine ausreichende und stringente begleitende Datenerhebung, die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen."  

 

Es wäre anders möglich gewesen, wenn die Verantwortlichen in Bund und Länder es wirklich gewollt hätten. Denn der überragend wichtige Bedarf an Daten war früh klar. So heißt es beispielsweise in einem Eintrag in diesem Blog vom 30. März 2020: "Noch immer agiert die Politik mit ihren Corona-Maßnahmen weitgehend im Blindflug." Repräsentative Infektionsdaten seien "ausschlaggebend, „um die tatsächlich notwendigen Maßnahmen und, mittelfristig, ihre Wirkung ablesen zu können". Ähnlich haben zu diesem frühen Zeitpunkt auch schon zahlreiche Wissenschaftler:innen argumentiert.

 

Wenig später legten erste Länder, Großbritannien zum Beispiel, ihre Corona-Panels auf. Lauterbachs Ministerium teilte dagegen noch im Februar 2022 mit, es sehe keine Notwendigkeit für ein solches Studiendesign. "Ein gesichertes Bild des Infektionsgeschehens und der in der Bevölkerung vorhandenen Immunität wird in Deutschland über ein Bündel an Surveillance-Tools und Erhebungen erreicht."

 

Was die Experten zu
den Schulschließungen sagen

 

Die wichtigste Botschaft der Expertenkommission lautete daher heute: Es ist nie zu spät. Zwar werden sich für die Vergangenheit keine Daten mehr generieren lassen, aber die Pandemie ist noch nicht zu Ende, mehr Wissen und systematische Erhebungsinstrumente sind deshalb auch künftig wichtig. Für neue Wellen und für neue Pandemien. 

 

Beispielhaft lässt sich diese Logik des Evaluationsbericht am Beispiel der Schulschließungen nachvollziehen. So heißt es auch zu ihnen zunächst, ihr genauer Effekt auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus sei "trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen, auch, weil im schulischen Bereich verschiedene NPI (=nicht pharmazeutische Interventionen, JMW) eingesetzt wurden und damit die Effekte der Einzelmaßnahmen nicht evaluiert werden können".

 

Dagegen seien die physische und psychische Belastungen der Kinder wie auch ihrer Eltern "empirisch gut belegt", die Betroffenheit unterscheide sich dabei deutlich nach dem sozioökonomischen Status der Familien, auch seien gerade leistungsschwache Schülerinnen und Schüler von Schulschließungen besonders negativ betroffen.

 

Entsprechend lautet der Rat der Experten, eine eigene Expertenkommission zur Evaluation gewünschter und nicht erwünschter Auswirkungen der Schulschließungen einzurichten. Vor allem aber auch "klare und wissenschaftlich fundierte Handlungsrichtlinien zum zukünftigen Umgang bei Pandemien" zu erarbeiten, in deren Zentrum die prioritäre Berücksichtigung des Kinderwohls liegen müsse. 

 

Politisch hatten die Regierungschefs von Bund und Ländern flächendeckenden Schulschließungen schon Anfang Juni eine grundsätzliche Absage erteilt. Jutta Allmendinger hingegen sagte auf Nachfrage, man könne nichts ausschließen für die Zukunft, man sei sich aber in der Kommission einig gewesen, dass Schulschließungen das allerletzte Mittel zur Pandemie-Eindämmung sein müssten. 

 

Am überzeugtesten waren die Experten in ihrer Aussage zur Wirksamkeit von Lockdowns: Sie könnten die Infektionsdynamik kurzfristig kräftig dämpfen, je früher in einer Welle, desto besser. Wobei es sich um ein Bündel gleichzeitiger Maßnahmen und Schließungen handle, deren Effekte nicht einzeln auseinandergerechnet werden könnten. Je länger Lockdowns anhielten, desto mehr lasse ihre Eindämmungswirkung allerdings nach, weil die Menschen weniger mitmachten, und die nicht erwünschten Begleitwirkungen und Schäden nähmen zu. 

 

Maskenpflicht in Schulen könne "nicht
abschließend beurteilt werden"

 

Zur Frage von Öffnungen nach der 2G-/3G-Regel äußert sich die Kommission zurückhaltend. Wegen der auch hier "defizitären Datenlage" könne keine klare wissenschaftliche Aussage zur Wirksamkeit vor allem über einen Zeitraum über drei Monate hinaus getroffen werden. Da auch Geimpfte sich leicht mit der Omikron-Variante infizieren können, lautet die Empfehlung denn auch, bei hohem Infektionsgeschehen zur Eindämmung eine Testung unabhängig vom Impftstatus zur Zugangsvoraussetzung etwa im Einzelhandel zu machen.  

 

Bei den Masken unterscheidet die Kommission zwischen der Evidenz, dass sie korrekt getragen ein wirksames Mittel der Pandemiebekämpfung seien, und der Feststellung, dass sie im Alltag oft nicht korrekt getragen würden. Nämlich eigentlich nur in den Fällen, in denen sie freiwillig aufgesetzt würden. "Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske hat einen verminderten bis keinen Effekt." 

 

In Hinblick auf die besonders umstrittene Maskenpflicht in Schulen stellt der Bericht fest, das Alter der Kinder spiele eine Rolle der Wahrscheinlichkeit von Infektionen, aber auch weitere Hygienemaßnahmen in den Schulen und das soziale Milieu. Auch hier lägen keine randomisierten Studien vor, die einen Effekt des Maskentragens eindeutig belegten oder widerlegten, so dass dieser "nicht abschließend beurteilt" werden könne. Eine Normierung für Kindermasken wird aber dringend empfohlen.

 

Und nun? Nun werden diejenigen, die schon vorher die Arbeit der Kommission kritisch gesehen haben, womöglich sagen, die Experten relativierten die Bedeutung von Corona-Schutzmaßnahmen. Doch das wäre ein billiger Vorwurf, wenn die Kommission doch das Einzige tut, was die wissenschaftliche Korrektheit erfordert: die vorhandene Datenlage sichten und nur die auf deren Grundlage möglichen Aussagen machen. Alles Andere wäre nicht Empirie, sondern Bauchgefühl. 

 

Die Politik ist auf sich
selbst zurückgeworfen

 

Wenn die Datenlage zu den Schäden einiger Corona-Maßnahmen wie Schulschließungen besser ist als die zu ihrem möglichen Nutzen, so ist das nicht ein Versäumnis der Expertenkommission, sondern der Politik. Die deshalb am Ende bei vielen Entscheidungen zu den Pandemie-Maßnahmen im Herbst auf sich selbst zurückgeworfen sein wird. Weshalb es sogar eine gewisse Stimmigkeit hat, wenn die Gesundheitsminister heute schon die Weichen für den Herbst stellen sollten.

 

Klar sind dabei zwei Dinge. Erstens: Egal, wofür Bund und Länder sich entscheiden, sie sollten sich dabei nur dann auf eine wissenschaftliche Evidenz berufen, wenn sie wirklich da ist. Zweitens: Jeder Beschluss einer neuen Maßnahme muss künftig von Anfang an begleitet sein von einer angemessenen Datenerhebung, um zumindest beim nächsten Mal eine vernünftige Evaluation zu ermöglichen.

 

Wie optimistisch die Kommissionsmitglieder sind, dass es zu einer solchen Evidenzwende der deutschen Corona-Politik kommen wird? Hendrik Streeck sprach vorsichtig von einer "Gelegenheit für die Entscheidungsträger", Christoph Schmidt vom "Neuanfang eines noch besser fundierten Diskurses" anstelle einer Generalabrechnung im Nachhinein. "Mut zur Stichprobe!", rief er der Politik zu. 

 

Die Landesgesundheitsminister indes forderten in ihrem Beschluss am Abend für den Herbst auch die erneute Möglichkeit von Schulschließungen – obgleich das Offenhalten von Bildungseinrichtungen, wie sie betonten, "höchste Priorität" habe. Die übliche Pandemie-Rhetorik eben. Nur jetzt eben nachweislich evidenzfrei. Doch das schien die Ressortchefs zunächst nicht besonders zu beeindrucken. 

 

Dieser Artikel wurde am 01. Juli um 21.45 Uhr aktualisiert.



In eigener Sache


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0