Die Kultusminister fordern zusätzliche Millionen für das Corona-Aufholprogramm. Der Bund sollte es ihnen nicht geben – aus guten Gründen. Und es stattdessen ins geplante "Startchancen-Programm" stecken.
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SIE HABEN das Geld noch gar nicht aufgebraucht, da wollen sie schon neues. Die Kultusminister verlangen 500 Millionen Euro zusätzlich von der Bundesregierung, um das Corona-Aufholprogramm für Schüler aufzustocken. Und weil sie absehbar nicht in der Lage sein werden, die bereits gezahlte Milliarde innerhalb von anderthalb Jahren bis Ende 2022 auszugeben, wollen sie eine Verlängerung der Ausgabenfrist gleich dazu: um weitere anderthalb Jahr bis zum Ende des Schuljahres 2023/24.
"Unabdingbar" nannte Hamburgs SPD-Bildungssenator Ties Rabe die Erfüllung beider Forderungen nach dem KMK-Treffen vor zehn Tagen, der hessische CDU-Kultusminister Alexander Lorz sagte, für die Beseitigung der Lernrückstände nach den Corona-Schulschließungen brauche man "einen langen Atem". Als vergangenen Freitag dann die ernüchternden Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 bekannt wurden, erneuerten die Bildungspolitiker ihr Plädoyer umgehend und mit noch mehr Nachdruck.
Ein Paradebeispiel dafür,
was alles falsch laufen kann
Kann man an dem plakativen Vorstoß der Kultusminister irgendwas falsch finden? Man muss sogar, auch ohne zu bestreiten, dass mehr Geld für Schulen an sich nie falsch ist. Doch ist das Aufholprogramm bislang ein Paradebeispiel dafür, was alles falsch laufen kann in der föderalen Bildungspolitik.
Weil Bund und Länder sich vorab nicht auf klare Ziele und Erfolgskriterien für das Programm verständigt haben, machte jedes Land an Maßnahmen, was es für richtig hielt. Kaum ein Kultusminister ging dabei auf die dringende Empfehlung führender Bildungsforscher ein, "das wenige Geld, das da ist, auf diejenigen Kinder und Jugendlichen zu konzentrieren, die es wirklich brauchen". So formulierte es 2021 Olaf Köller, der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK. So dass teilweise mehr Geld für Gymnasiasten als Gesamtschüler floss. Und anstatt es auf drängendste Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen zu konzentrieren, wurden mitunter auch Schwimmkurse finanziert oder die Förderung des Saterfriesischen. Hinzu kam: Länder mit einem hohen Anteil bildungsbenachteiligter Jugendlicher wie Bremen erhielten gemäß Bund-Länder-Vereinbarung pro Kopf denselben Betrag wie Bayern oder Sachsen.
Dass das Geld ähnlich wie beim Digitalpakt nur bürokratisch-zögerlich in die Schulen bzw. zu den Schülern kam, war angesichts all dessen womöglich schon gar nicht mehr so schlimm. Und falls Kultusminister jetzt protestieren im Brustton der Überzeugung, in ihrem Land laufe es besser und sozial zielgerichteter: Auch das wird sich vielfach kaum objektiv überprüfen lassen, weil es für Aufholprogramm-Projekte keine Evaluationspflicht gibt und sie daher in vielen Fällen unterblieben ist. Immerhin, loben die Bildungsforscher, haben einige Bundesländer freiwillig eine Begleitforschung aufgelegt – wie es die SWK für alle von vornherein geraten hatte.
Wäre es, wenn man all das bedenkt, wirklich eine gute Idee, der einen Milliarde jetzt noch eine halbe hinterherzuwerfen? Nein, das BMBF sollte sein zunehmend knappes Geld unbedingt zusammenhalten und in das im Ampel-Koalitionsvertrag versprochene "Startchancen-Programm" für tausende Schulen überall in Deutschland stecken, die von besonders vielen Schülern aus sozial benachteiligten Familien besucht werden.
Deutschlands Grundschulen haben
ein grundsätzliches Problem
Das, so die Hoffnung vieler Wissenschaftler und Bildungspraktiker, könnte, wenn es richtig aufgelegt würde, tatsächlich einen Unterschied machen: dort fördern, wo der Bedarf am größten ist. Und zwar nicht ein, zwei Jahre, sondern auf Dauer. Mit massiven Investitionen in den Schulbau und die Ausstattung, mit Extrabudgets, neuen Lernförderangeboten und zusätzlichen, unbefristet finanzierten Sozialarbeitern. Das "Startchancen-Programm" kann und muss all das sein, was das Aufholprogramm nicht ist: systematisch, bedarfsgerecht, evaluiert. Mit einem Bund, der als Gegenzug für sein Geld ambitionierte Standards mit den Ländern vereinbart. Nur müsste das BMBF auch langsam mal mit seinen diesbezüglichen Plänen um die Ecke kommen. Zur Überbrückung noch mehr des knappen Geldes im Aufholprogramm zu verfeuern, wäre aber in jedem Fall keine gute Idee.
Deutschlands Grundschulen hätten ein grundsätzliches "Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem", sagte die Bildungsforscherin Petra Stanat, die am Freitag die bundesweit drastisch schlechteren Leistungen der Viertklässler im IQB-Bildungstrend 2021 vermelden musste. Als Erklärung vor allem die Pandemie heranzuziehen, ist da allzu einfach. Dasselbe gilt für die alten Länderreflexe des einfach Mehr-Geld-Forderns. Der Umschwung des föderalen Miteinanders in der Bildungspolitik muss ebenfalls ein grundsätzlicher sein.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Weg mit der Gießkanne (Montag, 04 Juli 2022 19:56)
Dem Kommentar muß man wirklich ohne Vorbehalt zustimmen. Es ist wirklich entsetzlich, wie ohne klare Linie
und Programm das Geld mit der Gießkanne verteilt wird.
Müssen wir denn wirklich abwarten, bis die Milliarden nicht
mehr verfügbar sind ?