Seit die Pflichttests an den Schulen ausgesetzt sind, ist der statistische Effekt weg, der die Corona-Inzidenzen von Kindern ungleich höher scheinen ließ. Was bedeutet das? Und warum belegt Karl Lauterbach mit seinen Aussagen unfreiwillig die Notwendigkeit eines repräsentativen Corona-Panels? Eine Analyse.
Bild: Fernando Zhiminaicela / Pixabay.
BUNDESGESUNDHEITSMINISTER Karl Lauterbach (SPD) sieht keine Notwendigkeit zu einem repräsentativen Corona-Panel, das regelmäßig die Infektionsdynamik aufgeschlüsselt nach Alter und sozialen Lebensumständen abbilden könnte. Dabei sind die Verzerrungen der offiziellen Sieben-Tages-Inzidenz durch Testhäufigkeiten und die nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilten Testpflichten so gewaltig, dass ihre gewinnbringende Interpretation kaum mehr möglich ist.
Lauterbachs eigene Äußerungen waren dafür zuletzt ein guter Beleg. Gab er doch erst diese Woche auf Twitter seiner Erwartung Ausdruck, durch die bald beginnenden Sommerferien könnte die laufende "Sommerwelle sich selbst begrenzen". Offenbar ist der Gesundheitsminister immer noch der Auffassung, dass die in den vergangenen anderthalb Jahren stets zu beobachtenden Rückgänge bei den Schülerinzidenzen zu Ferienbeginn und deren Wiederanstieg nach Unterrichtsstart Zeichen eines dämpfenden Effekts der Urlaubszeit gewesen seien – und nicht die statistisch erwartbaren Folgen der in den Ferien unterbrochenen Corona-Testpflicht an den Schulen und zuletzt auch an den Kitas.
Wie stark der Effekt der Pflichttests war, lässt sich indes sehr gut an der Entwicklung der relativen, per Corona-Tests bestätigten Infektionshäufigkeit bei den 0- bis 14-Jährigen ablesen, seit die Pflicht aufgehoben wurde.
Die 0- bis 14-Jährigen stellen etwa 13,7 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Ihr Anteil an den gemeldeten Corona-Neuinfektionen betrug Mitte März, als überall noch eine Testpflicht für Schüler herrschte, 16,9 Prozent. Mitte Mai dann, als die Pflichttests fast überall abgeschafft waren oder kurz vor der Abschaffung standen: 13,9 Prozent. Und wie die Lage ist, seit nirgendwo mehr Schüler oder Pädagogen sich verpflichtend testen müssen, lässt sich beispielsweise am Infektions-Anteil der 0- bis 14-Jährigen in der vergangenen Kalenderwoche ablesen: 9,0 Prozent.
Wofür es statistische Evidenz gibt
und wofür nicht
Während der Pflichttests schien die Corona-Dynamik unter Kindern und Jugendlichen übermäßig groß, seit ihrer Abschaffung stecken sich die Jüngsten nachweislich nur noch stark unterdurchschnittlich an. Was das über ihr tatsächliches Infektionsrisiko aussagt? Unklar. Dazu bräuchten wir repräsentative Daten, die wir, siehe oben, nicht haben. Und die Karl Lauterbach nicht für nötig hält.
Was sich aber feststellen lässt: dass es keine statistische Evidenz dafür gibt, dass sich Kinder, die zur Schule gehen, tatsächlich häufiger anstecken als Erwachsene (die ja auch oft zur Arbeit, in die Kneipe oder sonstwohin gehen). Womöglich gilt sogar eher das Gegenteil: Bei gleichen Testregeln (eben keine einseitige Testpflicht für Schüler) entwickeln sich die offiziellen Inzidenzen bei den Jüngeren unterdurchschnittlich. Weil sie häufiger symptomfrei sind während einer Infektion und deshalb seltener getestet werden? Oder weil sich zumindest die bis zu 10-Jährigen, wofür es einige Hinweise gibt, tatsächlich seltener infizieren? Wiederum unklar.
Fest steht allerdings zweitens, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen gemeldeten Neuinfektionen trotz laufenden Unterrichts und bereits ausgesetzter Pflichttests in den vergangenen sechs Wochen weiter stark zurückgegangen ist. Überraschen kann das nicht: Mehrere statistische Analysen zeigten in den vergangenen anderthalb Jahren, dass es, anders als von Lauterbach recht evidenzfrei in den Raum gestellt, eher die Schulzeit war, die bei den Schülern die relative Infektionsdynamik dämpfte – und nicht die Ferienzeit.
Insofern muss man fragen, inwiefern es angemessen ist, dass sich die öffentlichen Debatten über Corona-Maßnahmen im Herbst schon wieder eher auf den vermeintlich so dringend nötigen Schutz der Kinder und nicht der (bei einer Corona-Infektion viel stärker gefährdeten) Erwachsenen ab 50 zu konzentrieren scheinen. Wobei die Kommunikation unter anderem von Karl Lauterbach die Frage teilweise bereits beantwortet. Immerhin forderte der Gesundheitsminister im selben Tweet, in der er eine Dämpfung durch die Sommerferien erwartete, dazu auf, besonders die Älteren zu schützen. Jetzt müsste er nur noch selbst sehen, dass ein repräsentatives Corona-Panel auch bei ihm zu weiteren Erkenntnisgewinnen beitragen würde.
Die Corona-Evaluationskommission hat ihren Bericht vorgelegt. Seine Bedeutung liegt weniger in der Wirkungsanalyse einzelner Maßnahmen als im Aufzeigen des politischen
Versagens beim Pandemie-Monitoring.
(01. Juli 2022) >>>
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