Die Internationalisierung, wie wir sie kennen, mag vorbei sein. Welch eine Chance, den akademischen Austausch neu zu denken.
Ein Gastbeitrag von Angela Ittel und Ulrike Hillemann-Delaney.
Angela Ittel (links) ist Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig. Ulrike Hillemann-Delaney ist Leiterin Internationales der TU Berlin. Fotos: Kristina Rottig/Jacek Ruta Photography.
DIE INTERNATIONALISIERUNG der Wissenschafts- und Hochschulsysteme, wie wir sie in den vergangenen zwei Dekaden kannten, ist vorbei, schrieb Jan-Martin Wiarda neulich hier im Blog. Die Entwicklung neuer systemischer Rivalitäten, die ihren vorläufigen Höhepunkt im russischen Angriffskrieg in der Ukraine gefunden haben, die damit einhergehende Infragestellung der marktgetriebenen Internationalisierung, ein stärkerer Fokus auf Nachhaltigkeit und Kooperation auf Augenhöhe – all dies führt dazu, dass bewährte Konzepte ins Wanken geraten oder schon gar nicht mehr gelten.
Doch auch wenn sie anders ablaufen wird, die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung wird weitergehen. Die longue durée der Globalisierung wird die aktuelle Phase der systemischen Rivalität überdauern. Globale Herausforderungen wie die Klimakatastrophe, die globale Gesundheit oder Ernährung werden uns in den nächsten zwei Jahrzehnten weiter beschäftigen. Die Wissenschaft, vor allem die Grundlagenforschung, braucht sogar verstärkt den Austausch der besten Ideen aus allen Ländern der Welt.
Wie können wir, wie können Universitäten also in Zukunft Internationalisierung gestalten? Was können wir aus den den gegenwärtigen Krisen lernen, genauso aber auch aus dem vielen, was den Austausch von Ideen, von Wissenschaftler:innen und Studierenden bislang so wertvoll gemacht hat? Wie können wir den Internationalisierungsbedarfen des Wissenschaftssystems gerecht werden und uns dabei an die aktuellen Herausforderungen anpassen?
Eine Internationalisierung, die sich
der Transformation verschreibt
Unsere Vision beinhaltet einen Wandel hin zu einer Internationalisierung, die sich dem Ziel der nachhaltigen Transformation verschreibt. Eine Internationalisierung, die auf konzeptioneller und strategischer Ebene Personen und Institutionen aus der ganzen Welt tatsächlich auf Augenhöhe begegnet. Eine Internationalisierung, die den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen kritisch reflektieren und hieraus Konsequenzen ziehen kann. Hierfür sind bereits die ersten Schritte getan worden, zum Beispiel mit den Globalen Zentren des DAAD, die gemeinsam mit Partner:innen im Globalen Süden daran forschen und lehren, wie echter Wandel in der Gestaltung der Internationalisierung erreicht werden kann.
Langfristig sollen alle Forschenden, Lehrenden und Lernenden an den Hochschulen das Rüstzeug mitbekommen, um international tätig werden zu können. Debatten wie "Theorizing from the South" werden häufig nur in den Geistes- und Sozialwissenschaften geführt, sollten aber die Realitäten der Natur- und Technikwissenschaften und deren Akteur:innen ebenfalls mit einbeziehen, denn nur dann können die Globalen Herausforderungen wirklich bewältigt werden. Zu den neuen Werkzeugen der Internationalisierung gehört die Fähigkeit, für die eigenen Werte einzutreten und daraus resultierende Spannungen auszuhalten, genauso braucht es das Wissen um Mediation in etwaigen Konfliktfällen.
Dies bedeutet, dass wir Studierende auf diese neue globale Welt vorbereiten müssen. Nicht mehr in erster Linie, um neue Märkte territorial zu erschließen – ein Ziel, das es aus einer postkolonialen und Nachhaltigkeitsperspektive schon länger als kritisch zu hinterfragen galt – sondern, um eine globale Gemeinschaft zu formen.
Dafür müssen wir natürlich weiter und wieder verstärkt physische internationale Mobilität von Studierenden und Wissenschaftler:innen ermöglichen, von und nach Deutschland. Internationalisierung kann nicht allein durch digitalen Austausch stattfinden. Gleichzeitig hat uns die Corona-Pandemie zwar physisch getrennt, aber virtuell neu zusammengebracht und viel besser als zuvor in die Lage versetzt, mit denjenigen zu kooperieren, die sich nicht am akademischen Reisezirkus beteiligen können oder wollen. Gerade in der Kooperation mit ärmeren Ländern haben sich hier neue Möglichkeiten aufgetan, die wir unbedingt beibehalten sollten, ohne den Wunsch aufzugeben, auch physische Mobilität von und in diese Regionen der Welt zu ermöglichen.
Mobilität für diejenigen, die die nötigen
globalen Veränderungen vorantreiben
Mobilität und internationale Kooperation sollte möglichst allen zugänglich sein, unabhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden (finanziellen) Ressourcen. So können auch diejenigen mobil werden, die nicht nur akademisch, sondern im Sinne der nötigen globalen Veränderungen die am besten Geeigneten sind.
Aus dem Changemanagement wissen wir, dass eine gemeinsam erkannte Herausforderung die Belegschaft eines Unternehmens vereinen kann. Genauso muss internationale Kooperation sich gemeinsam identifizierten Zielen verschreiben und darauf hinarbeiten. Das ist dann auch über politische und ideologische Grenzen hinweg möglich. Die Klimakatastrophe, die globale Gesundheit und die Welternährung sind und bleiben zentral hierbei. Aber auch der Erkenntnisgewinn in allen Disziplinen von der Mathematik über die Physik bis hin zur Philosophie gehören ebenfalls dazu.
Wir dürfen bei alldem nicht naiv sein: Neue Grenzen sind da und werden nicht schnell verschwinden. Wissenschaft ist nie völlig frei von den politischen Rahmenbedingungen, unter denen sie stattfindet. Im Gegenteil, sie wird stark von ihnen geprägt, dessen müssen wir uns bewusst sein. Gleichzeitig haben Hochschulen die Aufgabe, diese Rahmenbedingungen zu reflektieren und auf problematische Tendenzen hinzuweisen. Wir können derzeit sehr gut beobachten, wie sich systemische Rivalitäten weltweit verstärken, und wir wollen hier als Hochschulen selbstbewusst für Demokratie und Freiheit eintreten. Daher wird in den nächsten Jahren eine feste Verankerung dieser Werte in Europa wichtiger denn je. Die Europäischen Hochschulen als länderüberschreitede Allianzen können auf diesem Weg aktuell sehr wichtige Impulse setzen und neue, spannende Entwicklungen auch auf globaler Ebene in Gang bringen.
Um Brücken über die neu entstanden Grenzen zu schlagen, ist mehr Diplomacy for Science erforderlich. In den International Offices der Hochschulen und in den Mittlerorganisationen wie DAAD und Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) brauchen wir Menschen, die geschult sind im Umgang mit Krisen, die in schwierigen Situationen über kulturelle Grenzen hinweg verhandeln und nachhaltige Kooperationen aufbauen können.
Unterstützung für über eine
Million "Erasmus-Babys"
Wir bauen auf einer guten Basis auf. Die vergangenen Dekaden der Globalisierung haben eine nie dagewesene Vernetzung Menschen unterschiedlichster Herkunft mit sich gebracht, beruflich und privat. Im 35. Jahr von Erasmus haben wir über eine Million "Erasmus-Babys": Das ist die Zahl der Kinder, die nach Schätzung der EU-Kommission seit 1987 aus den Beziehungen von Erasmus-Teilnehmenden hervorgingen. Sie sind heute die junge Generation, die unsere Zukunft gestaltet. Geben wir ihnen die Unterstützung, die sie brauchen, finanziell und ideell! Bei den Herausforderungen, die noch bevorstehen, ist es das Mindeste, was wir tun können.
Das deutsche Hochschulsystem ist glücklicherweise für eine Neuausrichtung der Internationalisierung noch gut aufgestellt, denn es hat die Ausrichtung auf Marktkräfte nicht im selben Maße vollzogen wie das das anglo-amerikanische. Es ist so freier, ohne finanzielle Abhängigkeiten von Dritten, eine positive Rolle in der Welt zu spielen. Es braucht hierfür aber weiterhin eine solide Grundfinanzierung, für die Hochschulen genauso wie für die Mittlerorganisationen DAAD, AvH und Goethe-Institut. Nur dadurch können wir auch in Zukunft anderen Systemen auf Augenhöhe begegnen und die Menschen fördern, die von einem attrativen qualitativ hochwertigen Studium in Deutschland profitieren und so bestens ausgebildet beitragen können: zur Transformation in eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig ausgerichtete Weltgemeinschaft.
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