Forscher der Ruhr-Universität Bochum haben die körperlichen Reaktionen von Studierenden im Präsenz- und Onlinestudium verglichen. Die Ergebnisse sollten sich alle Wissenschaftspolitiker und Hochschulrektoren genau anschauen, die wegen der Energiekrise erneut mit Distanzlehre planen.
"AUF ONLINE-LEHRE reagiert der Körper anders", überschrieb die Ruhr-Universität Bochum (RUB) vergangene Woche eine Pressemitteilung. Der RUB-Doktorand Morris Gellisch hatte am Lehrstuhl von Anatomieprofessorin Beate Brand-Saberi die "physiologischen Erregungszustände" von 82 Studierenden während eines Mikroskopie-Anatomiekurses für Erstsemester gemessen, den diese abwechselnd in Präsenz oder per Zoom absolvierten. Bei inhaltlich identischem Schwierigkeitsgrad, versteht sich.
Das Ergebnis: Die Studierenden waren während des Digitalunterrichts entspannter, wie die größere Variabilität ihrer Herzschläge zeigte, und sie schütteten weniger vom Stresshormon Cortisol aus als ihre Kommilitonen, die zur Lehrveranstaltung in die Uni kommen mussten.
Nur dass etwas mehr Entspannung beim Studieren eben nicht zwangsläufig etwas Erstrebenswertes ist. Denn aus früheren Studien, sagt Morris Gellisch, sei bekannt, dass ein "moderater Stresszustand" einen positiven Einfluss auf Lern- und Gedächtnisprozesse und auch auf das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit habe.
Tatsächlich schien es sich auch während des Präsenz-Anatomiekurses um "Eustress" zu handeln: Wann immer bei den Teilnehmenden die Stresskurve hochging, berichteten sie in den parallel ausgefüllten Protokollen von Spaß beim Lernen. Während es bei den Daheimgebliebenen durchaus auch körperliche Stress-Peaks gab, die aber nicht von Freude begleitet wurden.
"Statistisch generealisierbare
Signifikanzen"
So weit, so spannend – so trivial? Gibt es nicht längst zahlreiche Umfragen, die belegen, dass vielen Studierenden das Präsenzstudium mehr Spaß macht? Schon, aber das sind eben Umfragen, die sozial erwünschten Effekten unterliegen können. Im Gegensatz zu gemessenen Körperreaktionen.
Lässt sich daraus nun folgern, dass Studieren in Präsenz grundsätzlich der Online-Lehre überlegen ist? Natürlich nicht, versichern die Studienmacher. Ihr Ergebnis gelte zunächst nur für die 82 Medizinstudierenden einer Uni im Rahmen einer betrachteten Lehrveranstaltung (die noch dazu einen hohen Praxisanteil hat!), doch hätten sich darüber hinaus zumindest statistisch "generalisierbare" Signifikanzen herausstellen lassen. Auch deshalb sei die Frage, welche digitalen Lehrformate zu welchen körperlichen Reaktionen führten und mit welchen Auswirkungen auf den Lernerfolg, weitere Untersuchungen wert. An denen sie an der RUB bereits sitzen.
Eines gilt aber in jedem Fall schon jetzt: Die Hochschulen sollten sehr vorsichtig sein, wenn sie wegen der Energiekrise schon wieder über die zumindest teilweise Rückkehr zur Distanzlehre diskutieren. Weniger soziale Interaktion im Studium wirkt sich bei vielen Studierenden auf Dauer schädlich auf ihr psychologische Wohlbefinden aus. Davon zeugen schon die vollen Beratungsstellen. Wenn dazu zumindest in bestimmten Settings (vor allem denen mit Praxisanteil?) auch noch ein schlechterer Lernerfolg kommt, wie die RUB-Studie nahelegt, ist die Schlussfolgerung klar: Je offener die Hochschulen im Winter bleiben, desto besser.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst im Newsletter ZEITWissen3.
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