· 

Kaum noch ohne

Es gibt immer noch Lehramtsstudierende, die das ganze Studium nie etwas über Inklusion lernen. Doch zum Glück immer weniger, zeigt der neue "Monitor Lehrerbildung". Die Autor:innen fordern trotzdem mehr Anstrengungen von Politik und Hochschulen.

Die Barrieren gegen Inklusion in der Schule fangen in der Lehrerbildung an (Symbolbild).
Foto: Im Fokus, CC BY-SA 4.0.

EIGENTLICH SOLLTE ES eine Selbstverständlichkeit sein. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit zu einem inklusiven Schulsystem verpflichtet. Weshalb das Lernen über das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne Behinderungen seit Jahren fester Bestandteil aller Lehramtsstudiengänge sein müsste. Sollte man denken. Tatsächlich zeigen jedoch Daten des "Monitor Lehrerbildung", dass es immer noch möglich ist, das Referendariat zu erreichen, ohne sich jemals an der Uni mit dem Thema Inklusion beschäftigt zu haben.

 

Der Regelfall sieht zum Glück inzwischen anders aus. Waren es 2014 noch sechs, so hatten 2020 immerhin zehn Bundesländern die Teilnahme an Lehrveranstaltungen zur Inklusion zur Pflicht für die Studierenden aller Lehramtstypen gemacht. Wobei das, sagen die Monitor-Autor:innen, allenfalls die "Minimalversion" einer bundesweiten Umsetzung bedeute.

 

Zwölf Bundesländer wiederum gaben ihren Hochschulen 2020 die Behandlung von Inklusion/Hetereogenität als Querschnittsthema im Lehramts-Curriuculm vor, womit es immer wieder im Studium anstatt nur in einzelnen Lehrveranstaltungen auftauchen sollte. Und sieben Bundesländer machen sogar beides verpflichtend: einzelne Lehrveranstaltungen und Inklusion als Querschnittsthema.

 

Entsprechend berichteten 55 der 61 befragten Hochschulen, Inklusion in den Bildungswissenschaften verankert zu haben – und 47 in den Fachdidaktiken. Aber nur 17 Hochschulen hatten 2020 Inklusion oder die Vorbereitung auf eine multiprofessionelle Kooperationskultur als Querschnittsthemen auch in den Fachwissenschaften eingebaut. Und die Verankerung allein bedeutete nicht, siehe oben, dass automatisch auch eigene Lehrveranstaltungen zur Inklusion für alle Studierenden überall verpflichtend stattfinden.

 

Sonderpädagogik für
Regelschulen? Hat Seltenheitswert

 

Wahrhaft bescheiden war hingegen das Angebot für Studienanfänger, die Lehramt für Regelschulen studieren und als Teil des Studiums eine Sonderpädagogik-Zusatzqualifikation erwerben wollen. Nur jede zehnte lehrerbildende Hochschule antwortete in der Umfrage: Das gibt es bei uns. "Bemerkenswert ist", schreiben die Monitor-Autor:innen, "dass sich auch diese Studiengänge vorrangig an die zukünftigen Grundschullehrkräfte richten, obwohl alle Schulformen inklusiv sein sollen."

 

Den "Monitor Lehrerbildung" gibt es seit 2012 und ist die nach eigenen Angaben bundesweit einzige Datenbank zum Lehramtsstudium. Regelmäßig vergleicht er zu verschiedenen Aspekten den Status Quo des Lehramtsstudiums an den lehrerbildenden Hochschulen und die bildungspolitischen Vorgaben aller 16 Bundesländer. Hinter dem Projekt stehen Bertelsmann-Stiftung, CHE Centrum für Hochschulentwicklung, Robert-Bosch-Stiftung und Stifterverband.

 

Rund 570.000 Schülerinnen und Schüler haben bundesweit einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Parallel zur wachsenden Bedeutung in den Lehramts-Curricula hat sich auch der sogenannte Inklusionsanteil in den Schulen stark erhöht: Während im Schuljahr 2008/09 nur 18,6 Prozent aller Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule besuchten, taten diese im Schuljahr 2020/21 mit 44,7 Prozent fast jede/r zweite, wie der Bildungsforscher Klaus Klemm ermittelt hatte. Kein besonders hohes Tempo, würde es laut Klemm so trotzdem noch bis 2047 dauern, bis Deutschland die EU-Behindertenrechtskonvention voll umgesetzt hätte. 

 

Theoretisch: dafür, 
praktisch: dagegen

 

Doch schon jetzt ist die Skepsis unter Lehrkräften groß. Als im Herbst 2020 das Meinungsforschungsinstitut Forsa gut 2100 Lehrkräfte allgemeinbindender Schulen befragte, sprachen sich 56 Prozent grundsätzlich für Inklusion aus, wobei die Spanne von 52 Prozent (Gymnasiallehrer) bis 64 Prozent (Grundschullehrer) reichte. Aber: Selbst unter den grundsätzlichen Inklusions-Befürwortern hielten nur 27 Prozent eine gemeinsame Unterricht "zur Zeit unter den gegebenen Rahmenbedingungen" auch praktisch für sinnvoll. Und 69 Prozent sagten in der vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegebenen Befragung: Bis die Umstände anders würden, sollten Kinder mit Behinderung besser in speziellen Förderschulen unterrichtet werden.

 

Es fehle Fachpersonal, berichteten 31 Prozent der Lehrkräfte. 25 Prozent sagten, die materielle Ausstattung der Schulen sei schlecht. Und 20 Prozent kritisierten die "mangelnde Ausbildung bzw. Schulung der Lehrkräfte für Inklusion". Kein Wunder: Selbst unter den 38 Prozent aller Befragten, die inklusiv unterrichten, antwortete nur jede:r fünfte, Inklusion sei umfassend oder in Ansätzen Teil ihrer Ausbildung gewesen. Immerhin 58 Prozent hatten an speziellen Fortbildungen teilgenommen.

 

"Die Diskrepanz zwischen dem Stellenwert, den Politik der schulischen Inklusion in Sonntagsreden einräumt, und den Ressourcen, die sie tatsächlich bereit ist für eine gelingende Inklusion zur Verfügung zu stellen, bleibt groß", kommentierte VBE-Bundesvorsitzende, Udo Beckmann bei der Vorstellung der Umfrage-Ergebnisse.

 

Wächst mit dem Lernen über Inklusion auch die
Überzeugung, dass Inklusion praktisch klappen kann?

 

Keine Frage: Das ganze Drumherum von Schule muss stimmen. Ob trotzdem

mehr Lehrkräfte davon überzeugt wären, dass sich die Inklusion umsetzen ließe, wenn sie zumindest sich selbst durch ihr Studium ausreichend für ihren Einsatz vorbereitet fühlten? Wird die Zuversicht also wachsen, wenn mehr und mehr Pädagogen in den Schulen unterrichten, die in ihrem Studium besser auf die Vielfalt ihrer Schülerinnen und Schüler vorbereitet worden sind?

 

Zu dieser Frage äußern sich die Autor:innen des "Monitor Lehrerbildung" nicht explizit. Doch sie sind überzeugt: "Ohne kompetente Lehrkräfte, die Schule und Unterricht inklusive in Hinblick auf die individuellen Bedürfnisse aller Lernenden gestalten, kann Inklusion nicht gelingen." Eine entsprechend fundierte Ausbildung könne außerdem die Selbstwirksamkeitserwartung der Pädagogen fördern. "Damit die Ausbildung relevanter Kompetenzen nicht von den gewählten Unterrichtsfächern, persönlichen Interessen der Studierenden oder Lehrenden oder gar dem Zufall abhängt", müsse der Umgang mit Heterogenität und Inklusion wirklich überall verpflichtend in den Curricula der Lehramtstudiengänge verankert werden, für alle Lehramtstypen und als Querschnittsthema. 

 

Also mehr Tempo und mehr Konsequenz bei der Weiterentwicklung der Lehramtsstudiengänge. Deshalb fordern die Monitor-Macher:innen von Politik und Hochschulen einen bundesländerübergreifenden Konsens über das, was alle Lehramtsstudierenden an welcher Stelle ihrer Ausbildung über Inklusion lernen müssen und wie die berufsbegleitende Fortbildung aussehen soll. Dazu klare Vorgaben der Länder an die Hochschulen für Mindeststandards im grundständigen Studium – und mehr Studiengänge mit integrierter Sonderpädagogik. Außerdem nötig aus Sicht der Autor:innen: die Unterstützung von Lehrenden und Studierenden durch eigens eingerichtete Kompetenzzentren für Inklusion, deren Entwicklung die Länder fördern sollten. 



></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Karlchen Mühsam (Freitag, 16 September 2022 14:27)

    Schön, dass ein wichtiger Aspekt der Lehrer*innenbildung hier zur Sprache kommt.

    Leider sind die Überlegungen zur Stärkung der Inklusion nicht auf die (gebotene) modulare Struktur der Bachelor- und Masterstudiengänge übertragbar. Querschnittsthemen passen nicht zu einem modularen lehren, lernen und Prüfen. Ich kenne beispiele, da wird mal hier ein halber Credit für Inklusion ausgewiesen und mal dort. Die Programme sind mit Billigung des für das Schulwesen zuständigen Ministeriums akkreditiert worden. Mit einer solchen Struktur besteht die Gefahr, dass das Thema in Summe hinter andere Themen zurück tritt. Jedenfalls findet kein durch ein Zeugnis und Diploma Supplement dokumentierter fundierter Erwerb inklusionsorientierter Kompetenzen statt. Leider sind die gesetzlichen Strukturvorgaben für die LA-Studiengänge so komplex, dass Hochschulen - selbst wenn sie das wollen - da nicht mal eben irgendwo ein "Inklusionsmodul" aufnehmen können.

    Ähnlich verhält es sich bei Zusatzqualifikationen. Für solche Qualifikationen fehlt es vielfach an der notwendigen Rechtsgrundlage. Denkbar sind solche Qualifikationen hochschulrechtlich vielfach nur im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterbildung, also nach Abschluss des Studiums. Die wissenschaftliche Weiterbildung wiederum unterliegt den Gesetzmäßigkeiten des Marktes. Hier wäre es generell wünschenswert, wenn die Ministerien den Hochschulen verstärkt Investitionsmittel für den Aufbau von Strukturen der wissenschaftlichen Weiterbildung für Lehrkräfte sowie für die Konzeption entsprechender Programme zur Verfügung stellen würde.