· 

Gleiche Unterstützung für Julia und Lukas?

Welche Rolle das Geschlecht bei der Bewertung sozialer Ausgrenzung in Schulen spielt. Eine Replik von Hanna Beißert.

Foto: Pxhere, CCO.

IN EINEM GASTBEITRAG in diesem Blog hat Hermann H. Dieter seine Kritik an einer Studie formuliert, die Reaktionen von Lehrkräften in Ausgrenzungssituationen und die Rolle des Geschlechts dabei untersucht hat. Da in dieser Kritik einige zentrale Elemente aus dem Studiendesign nicht zum Tragen gekommen sind und die gefundenen Ergebnisse nicht korrekt dargestellt sind, die Argumentation von Herrn Dieter aber genau auf dieser verkürzten Darstellung fußt, möchte ich als Erstautorin dieser Studie gern die Gelegenheit für eine Replik ergreifen. 

 

Die Studie untersuchte die Rolle des Geschlechts bei Reaktionen von Lehrkräften auf soziale Ausgrenzung. Dabei wurden zwei Aspekte untersucht. Zum einen die Rolle des Geschlechts des ausgegrenzten Kindes (wurde ein Junge oder ein Mädchen ausgeschlossen?). Zum anderen die Rolle des Geschlechts der befragten Lehrkraft (handelte es sich um einen Lehrer oder um eine Lehrerin?). Erfasst wurde einerseits, wie die Lehrkräfte die Ausgrenzungsituation bewerteten, und andererseits, für wie wahrscheinlich sie es hielten, dass sie selbst in eine solche Situation eingreifen würden, hätte sie sich in ihrer Klasse ereignet. 

 

Bei der Betrachtung des Geschlechts des ausgeschlossenen Kindes zeigten unsere Analysen, dass es zwar keinen Unterschied bei der Bewertung der Situation gab, dass die teilnehmenden Lehrkräfte aber eher in die Situation eingreifen würden, wenn ein Mädchen (im Vergleich zu einem Jungen) ausgeschlossen wurde. 

 

Bei der Betrachtung des Geschlechts der Lehrpersonen dagegen ergab sich zwar, dass Lehrerinnen die Ausgrenzung stärker ablehnen als Männer. Doch waren keinerlei Unterschiede zwischen Lehrerinnen und Lehrern bezüglich der Verhaltenstendenz feststellbar, also der Wahrscheinlichkeit, mit der sie in die Situation eingreifen würden. 

 

Möglicherweise liegt hier
ein Missverständnis vor

 

Ich gehe davon aus, dass ein Teil der Kritik von Herrn Dieter an der Studie sowie seine Frage, warum wir das Geschlecht der Lehrkraft als Erklärung der Befunde nicht in Erwägung zögen, möglicherweise auf einem Missverständnis beruht: Wir haben die Möglichkeit, dass das Geschlecht der Lehrkraft eine Rolle spielt, nicht nur in Erwägung gezogen, sondern mit unserem Design sogar explizit untersucht. Die Daten zeigten allerdings, dass es in der Wahrscheinlichkeit, mit der die Lehrkräfte in die Ausgrenzungssituation eingreifen würden, zwischen Lehrerinnen und Lehrern keine Unterschiede gibt. 

 

Dementsprechend ist die Zusammenfassung der Befunde, die Herr Dieter zu Beginn seines Beitrags liefert ("In dem hypothetischen Szenario wollten deutlich mehr Lehrerinnen zugunsten von "Julia" eingreifen als zugunsten von "Lukas". Bei den allerdings nur 17 befragten Lehrern wollten dies dagegen jeweils nur etwa gleich viele tun."), nicht korrekt, da sowohl Lehrerinnen als auch Lehrer bei der Ausgrenzung eines Mädchens eher eingreifen würden als bei einem Jungen. 

 

Und auch Wechselwirkungen (Interaktionseffekte) zwischen dem Geschlecht der Lehrkraft und dem Geschlecht des ausgeschlossenen Kindes ließen sich, wie im Ergebnisteil der Studie dargelegt, nicht feststellen. Ich möchte also entschieden darauf hinweisen, dass unsere Betrachtung der Daten keineswegs einseitig ist. Wir haben beide Wirkrichtungen, also sowohl den Einfluss des Geschlechts des ausgeschlossenen Kindes als auch die Rolle des Geschlechts der befragten Lehrpersonen, sowie mögliche Interaktionseffekte dieser beiden Aspekte in den Analysen betrachtet. 

 

Hat die Verwendung des Gender-Sternchens die Studienergebnisse verzerrt? 

 

Dieser Frage hat Hermann H. Dieter viel Raum gegeben. Zugegeben gibt es gesamtgesellschaftlich Widerstände gegen das Gender-Sternchen. Wie akzeptiert das Gendern unter Lehrkräften ist, dazu gibt es meines Wissens bisher keine Forschung. Jedoch ist eine gegenderte Sprache in der Lebenswelt von Lehrkräften – etwa durch Veröffentlichungen seitens der Ministerien – sehr gebräuchlich und kann somit zumindest als gewohnte Realität angesehen werden.

Unabhängig von der Akzeptanz des Gender-Sternchens per se möchte ich nicht ausschließen, dass es theoretisch möglich sein könnte, dass das Gender-Sternchen in unserer Studie im Sinne einer Manipulation gewirkt haben könnte. Dies ist allerdings ebenfalls eine Frage, die es anhand eines entsprechenden experimentellen Designs empirisch zu prüfen gilt. 

 

Dennoch möchte ich in diesem Zusammenhang anmerken: Die Annahme von Herrn Dieter, dass die Verwendung des Gender-Sternchens Gedanken an die Schutzbedürftigkeit von Frauen evoziere und somit möglicherweise das Stereotyp der schutzbedürftigen Mädchen überhaupt erst aktiviere, stellt lediglich eine Hypothese dar, für die es meines Wissens keinerlei empirische Evidenz gibt. Mir ist keine Studie bekannt, die zeigen würde, dass der Gender-Stern die Wahrnehmung fördere oder aktiviere, dass Frauen besonders schutzbedürftig wären. 

 

Längst nicht abgeschlossene Fragen: die Rolle von Geschlechterstereotypen in der Bildung

 

Einen anderen Gedanken im Text von Herrn Dieter möchte an dieser Stelle noch aufgreifen. Dass es in der Bildung auch darum gehen sollte, die tatsächlichen Benachteiligungen von Mädchen und Frauen zu verringern, davon bin ich ebenfalls überzeugt. Noch immer entscheiden sich viele Mädchen für einen traditionellen "Frauenberuf" und nehmen andere Berufsoptionen nicht in den Blick. Gerade hier ist es sehr wichtig (und dies ist Gegenstand der Forschung), das Rollenverständnis von prägenden Personen wie Eltern, Lehrkräften und Erzieher*innen in den Blick zu nehmen und diese in der pädagogischen Praxis dafür zu sensibilisieren. 

 

Dabei geht es aber nicht nur um die Mädchen. Denn die Befunde der beschriebenen Studie werfen genauso Fragen in die andere Richtung auf: Warum werden Jungen weniger von Lehrkräften unterstützt, wenn sie Ausgrenzung ausgesetzt sind? Gibt es dafür ebenfalls geschlechtsspezifische Gründe, etwa weil Lehrkräfte aus ihrer persönlichen Prägung erwarten, dass Jungen damit klarkommen sollten? Solche Punkte sind es, an denen eine Sensibilisierung der Lehrkräfte stattfinden sollte.

 

Und so gilt es, die spezifischen Benachteiligungen von Jungen und Mädchen in der Bildung weiter zu beforschen und Wege zu finden, wie letztlich alle Kinder so, wie sie sind und wie sie sein wollen, in den Genuss einer gerechten, für sie förderlichen und nicht zuletzt fürsorglichen Bildung kommen können. Denn nicht nur Julia und Ayla brauchen die Unterstützung von Lehrkräften und Erzieher*innen, sondern auch Lukas, Mehmet und Sascha.

 

Hanna Beißert ist Qualifikationsprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Unterricht und Heterogenität am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation sowie an der Goethe-Universität Frankfurt. 


Kommentar schreiben

Kommentare: 5
  • #1

    Lehrerkind (Donnerstag, 15 September 2022 13:30)

    "Wie akzeptiert das Gendern unter Lehrkräften ist, dazu gibt es meines Wissens bisher keine Forschung. Jedoch ist eine gegenderte Sprache in der Lebenswelt von Lehrkräften – etwa durch Veröffentlichungen seitens der Ministerien – sehr gebräuchlich und kann somit zumindest als gewohnte Realität angesehen werden"

    Die Annahme, dass Veröffentlichungen seitens der Ministerien die Lebenswelt von Lehrkräften in irgendeiner Weise beeinflussen, sogar in ganz konkreter Weise gegenderte Sprache gebräuchlich machen, ist durchaus kühn. Die Lebenswelt von Lehrkräften ist geprägt von massiven strukturellen Defiziten (baulich, digital, finanziell), Personalmangel, überfüllten Klassen, fordernden Eltern, überarbeiteten Kolleg*innen, etc. Veröffentlichungen von Ministerien prägen keine Lebenswelten.

    In meiner Erfahrung ruft der Genderstern bei Lehrer*innen Diskurse zum "überzogenen" Gender-Mainstreaming auf. Auch über eine political correctness, die nun doch wirklich zu weit gehe, wird häufig geklagt. Zum Hintergrund und der genauen Bedeutung des Gendersterns befragt, könnten die wenigsten Lehrkräfte eine korrekte Aussage treffen. Und in diesem Zusammenhang kann ich die Einschätzung von Herrn Dieter, dass durch der Genderstern klassische Rollenzuweisungen aufgerufen werden, durchaus nachvollziehen, sozusagen als spontane Gegenreaktion zu dem wahrgenommenen Gender-Mainstreaming. Forschung zu der gesamtgesellschaftlich mehrheitlich ablehnenden Haltung gegenüber dem Genderstern / dem Thema Gendern gibt es durchaus, wenn vielleicht auch eine spezifische Studie fehlt, ob der Gender-Stern das Rollenbild einer schutzbedürften Frau aufrufe.

    Lehrkräfte müssen zum Thema der gendersensiblen Sprache, nicht zuletzt als Ausdruck einer Wegbewegung von klassischen Rollenzuschreibungen, nicht nur sensibilisiert werden. Der Themenkomplex muss Teil ihrer Aus- und Fortbildung sein.

  • #2

    Thomas Foth (Donnerstag, 15 September 2022 16:47)

    Es wäre wirklich interessant zu erfahren, warum bei männlichen Schülern weniger eingegriffen wird. Es gibt Befunde, dass Männer in der Regel deutlich häufiger weniger angepasst sind. Das heißt die Anzahl an Schülern, die außerhalb der gesellschaftlichen Mitte stehen, dürfte größer sein. Eventuell führt das dazu, dass man hier weniger Anpassung erwartet bzw. einfordert und das Thema weniger adressiert als es notwendig wäre.

  • #3

    Natürlich Gendern (Donnerstag, 15 September 2022 17:25)

    Ich belasse den anderen Kommentar einfach mal unkommentiert.
    Vielen Dank für die Replik, Prof. Beißert.

  • #4

    hmm (Samstag, 17 September 2022 12:04)

    @Lehrerkind: Sie schreiben "Lehrkräfte müssen zum Thema der gendersensiblen Sprache, nicht zuletzt als Ausdruck einer Wegbewegung von klassischen Rollenzuschreibungen, nicht nur sensibilisiert werden. Der Themenkomplex muss Teil ihrer Aus- und Fortbildung sein."

    Auf keinen Fall. Der Spuk wird hoffentlich bald vorbei sein. Ich empfehle den Aufruf von mehr als 100 Sprachwissenschaftlern gegen Gendern: https://www.linguistik-vs-gendern.de
    Sehr lesenswert auch dieses aktuelle Interview mit der Sprachwissenschaftlerin Prof. Katerina Stathi von der Uni Münster: https://www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=12807&fbclid=IwAR0liWBBEU2AlsCbF3CY1ZJKyPjdFFUlTAtKYueygJVGDlTOQuzpBX_tw5Y

    Gendern wird von einer kleinen Minderheit, hauptsächlich aus dem Öffentlicher Rundfunk, der Politik und gewissen, ideologisch orientierten Disziplinen an den Universitäten heraus betrieben. Es hat nichts mit natürlichem Sprachwandel zu tun, die Mehrheit der Bevölkerung ist dagegen, es führt zu unklaren Formulierungen, setzt die Lesbarkeit stark herab, ist wirkungslos, was das Ziel von Gleichstellung betrifft (ausser unter zweifelhaften Laborbedingungen) etc etc.

  • #5

    Hermann H. Dieter (Samstag, 17 September 2022 15:18)

    "Die Daten zeigten (...), dass es in der Wahrscheinlichkeit, mit der die Lehrkräfte in die Ausgrenzungssituation eingreifen würden, zwischen Lehrerinnen und Lehrern keine Unterschiede gibt."
    Diesen Befund hatte ich tatsächlich missverstanden, wohl aber hatte ich richtig verstanden, dass die Frauen unter den Lehrern aufgrund ihrer eigenen "weiblichen" Sozialisation eine Ausgrenzung von "Julia" relativ häufiger ablehnen als ihre männlichen Kollegen. Meine Vermutung, es liege hier ein kreisläufiger Forschungsbefund vor, ist demnach weiterhin berechtigt.
    "Eine gegenderte Sprache (ist) in der Lebenswelt von Lehrkräften – etwa durch Veröffentlichungen seitens der Ministerien – sehr gebräuchlich und kann somit zumindest als gewohnte Realität angesehen werden."
    Die Lebenswelt auch von Lehrerinnen ist nicht nur die schulische Umgebung. Ein Ministerium, das gegenderte Sprache im Gegensatz zur Standardsprache als "gebräuchlich" vorgibt, handelt politisch missbräuchlich und manipulatorisch. Beißert et al. hätten dieser Sprechweise bei der Beschreibung des hypothetischen Szenarios deshalb keinesfalls nachgeben dürfen.