Die Corona-Zahlen gehen zurück. Über die Gründe gehen die Meinungen auseinander. Woran es liegen könnte: ein Gastbeitrag von Sten Rüdiger.
Wieder weniger unter Leuten? Laut Kontaktindex haben sich die Menschen in Deutschland zuletzt deutlich seltener miteinander getroffen.
ALS IM SEPTEMBER die Infektionszahlen wieder stiegen und von allen Seiten Warnungen über eine Omikron-Welle im Herbst und Winter eintrafen, war sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch sicher, dass die Welle so schnell nicht von alleine begrenzt werde. Seit dem Höhepunkt um den 12. Oktober ist die Deutschland-weite Inzidenz von fast 900 auf unter 500 gefallen. Ebenso liegt der R-Wert, also die durchschnittliche Zahl der Ansteckungen pro infizierter Person, seit Mitte Oktober unter 1, mit weiter abnehmender Tendenz. Was ist geschehen, dass die Welle, wie inzwischen auch vom Robert-Koch-Institut bestätigt, so schnell wieder abebbte?
Während Querdenker und Kritiker der deutschen Corona-Politik sich in ihrem Narrativ bestätigt sehen, dass Wellen grundsätzlich "von allein enden", verweist der Bundesminister auf die Schulferien, vermutlich mit dem Hintergrund, dass dadurch Ansteckungen in Schulen verhindert wurden, und warnt vor wieder steigender Fallzahlen nach den Ferien. Eine andere Vermutung: Durch die zunehmende Zahl der Infektionen nimmt auch die Immunität in der Bevölkerung weiter zu, so dass es das Virus schwerer hat, anfällige Wirte zu finden. Eine weitere Komponente der Corona-Dynamik wird aber bis jetzt wenig beachtet und könnte eine Erklärung liefern.
Eine Corona-Infektion steht immer im Zusammenhang mit einem Kontakt zwischen infizierter und gesunder Person und die Entwicklung der Gesamtzahl solcher Kontakte bestimmt maßgeblich die Zu- oder Abnahme der Neuinfektionszahlen. Die Zahl der Kontakte wiederum hängt vom sozialen Verhalten der Bevölkerung ab, also wie viele soziale Treffen stattfinden, wie kollektiv die Menschen ihre Arbeitszeit verbringen, wie häufig die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt werden usw.
Es ist zu vermuten, dass nach mehr als zwei Jahren Epidemie und sozialer Distanzierung die Bevölkerung immer noch sensibel auf steigende und fallende Inzidenzen reagiert und auch die notwendigen effektiven Einschränkungen "erlernt" hat. Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Herbstwelle vermutete die Epidemiologin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung gegenüber der ZEIT, dass sich die Menschen wegen des steilen Anstiegs der Zahlen wieder vorsichtiger verhalten.
Einen Hinweis darauf gibt der sogenannte Kontaktindex, der das Kontaktverhalten der Deutschen in einem täglichen Index wiedergibt und unter contactindex.netcheck.de abgerufen werden kann. Demnach gab es einen Höhepunkt in der Kontaktzahl um den 10. September herum. Seit dem 13. September nimmt der Kontaktindex, der auch den starken Einfluss potentieller "Superspreading"-Ereignisse berücksichtigt, wieder ab, von fast 150 auf jetzt 70. Epidemiologisch gesehen würde dies ungefähr einer Halbierung des R-Wertes entsprechen, also einem dramatischen Abbruch vieler Infektionsketten im Land. Die zeitliche Nähe des Rückgangs der Kontakte zu den parallel steigenden Infektionszahlen würde zum Team Vorsicht in Deutschland passen.
Dennoch wäre es zu früh, bereits jetzt ein Ende der Herbstwelle auszurufen. Zum einen berichtet das Robert-Koch-Institut im jüngsten Wochenbericht von einer weiter steigenden Zahl schwerer Fälle. Zum anderen gibt es auch Gründe, warum die Zahl der Infektionen auch wieder steigen könnte. Die Zahl der Kontakte könnte nach einem ungewöhnlich warmen Oktober auch schnell wieder nach oben gehen, wenn die Menschen sich bei einsetzenden kühleren Temperaturen weniger im Freien aufhalten. Und es gibt eine zunehmend schnellere Abfolge von neuen Varianten des Virus, die sich möglicherweise effizienter ausbreiten können als die aktuelle BA.5 Variante.
Sten Rüdiger arbeitet als KI-Consultant. Transparenzhinweis: Bis zum 30. September 2022 war er Mitarbeiter der NET CHECK GmbH, die den Kontaktindex in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern von Charité und Hasso-Plattner-Institut entwickelt hat.
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Alexandra Schreiner (Donnerstag, 10 November 2022 07:25)
Spannenderweise sinken die Zahlen, seitdem klar ist, dass ein Genesenenstatus keinen Mehrwert bringt (Novellierung Infektionsschutzgesetz am 16. September 2022). So sehe ich auch in meinem privaten und beruflichen Umfeld vielfach (vor allem jetzt in den Monaten Oktober und November) Personen, die Grippesymptome haben und keinen Corona-Test machen, oder Personen, die daheim Corona-positiv testen, dies aber nicht melden bzw. nicht per PCR absichern lassen. Daher würde ich die Gegen-These aufstellen, dass die Herbstwelle nicht gebrochen ist, sondern dass Sie vielmehr nicht mehr detektiert werden kann. Da es sich hier um eine komplexe Gemengelage handelt, gibt es hier sicherlich viele Faktoren, die zum Verlauf beitragen. Von Korrelation auf Kausalität zu schließen, wäre von mir hier töricht. Daher möchte ich an dieser Stelle nur hinterfragen, ob die Herbstwelle wirklich gebrochen ist.