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Ein guter Anfang, aber eben nur ein Anfang

Der Deutsche Ethikrat thematisiert die Benachteiligung der jungen Generation in der Corona-Krise – und übt sich dabei auch in Selbstkritik. Das ist anerkennenswert. Jetzt muss das Gremium beweisen, dass es seine eigene Stellungnahme ernst nimmt.

Foto: Screenshot der Website des Deutschen Ethikrats. 

SELTEN HAT eine so richtige Stellungnahme des Deutschen Ethikrats so viel negative Reaktionen ausgelöst. "Die Gesellschaft ist Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsene bislang vieles schuldig geblieben", schrieb das Gremium in seiner am Montag veröffentlichen Adhoc-Empfehlung. "Dazu gehört auch das ausdrückliche Eingeständnis, dass in der Pandemie die Belange und Belastungen der jüngeren Generationen und insbesondere die Herausforderungen für ihre psychische Gesundheit in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung und Gestaltung – auch durch den Deutschen Ethikrat – nicht ausreichend Beachtung erfahren haben."

 

Die Kritik an der Gesellschaft und ihren Umgang mit Kinder und Jugendlichen in der Pandemie verbindet der Ethikrat mit der Selbstkritik, nicht ausreichend auf die Missstände hingewiesen zu haben. An sich lobenswert, doch vor allem in den sozialen Medien entstand eine Empörungswelle. Nach dem Motto: Wenn der Ethikrat schon selbstkritisch über seine Rolle in der Corona-Krise reflektiere, sei zumindest eine Entschuldigung gegenüber den im Stich gelassenen Kinder und Jugendlichen angemessen. Und die sei von dem Gremium nicht zu vernehmen. 

 

Die Ratsvorsitzende Alena Buyx reagierte vor der Bundespressekonferenz direkt auf die Forderungen. "Da steckt ja dahinter, man wäre schuldig geworden, und ich glaube, das ist ganz wichtig, das man das einmal unterstreicht: Darum geht es nicht." Dann dafür, so Buyx, hätte man ja vorher absichtlich der jungen Generation schaden wollen. "Und wir haben uns, wenn auch nicht ausreichend, so haben wir doch zumindest die jungen Generationen immer in den Blick genommen. Aber wir tragen als Gesellschaft die Verantwortung dafür, dass negative Folgen, auch von legitimen Maßnahmen, jetzt angeguckt werden und reagiert wird."

 

Die vorhandenen Informationen
ungleich gewichtet

 

Natürlich könnte man spätestens an der Stelle anfangen, die Stellungnahme des Ethikrats und besonders das spontane Statement von Buyx inhaltlich auseinandernehmen und beispielsweise zu fragen, was genau Maßnahmen eigentlich zu welchem Zeitpunkt legitim macht. Denn ausgerechnet das Gremium, das in der Pandemie für die ethische Abwägung intendierter wie nicht intendierter Folgen der Corona-Maßnahmen zuständig war, hat die vorhandenen Informationen ungleich gewichtet, und zwar zu Ungunsten der Kinder und Jugendlichen.

 

Hätte der Rat im Gegenteil dazu stärker etwa auf die Kinder- und Jugendärzte und deren Warnungen gehört, hätte er frühzeitig und stärker die immer zahlreicher vorhandenen Indizien berücksichtigt, dass Kinder keine zentrale Rolle in der Verbreitung des Virus spielten, hätten ihm bestimmte ergriffene Maßnahmen als eben nicht "legitim" auffallen können, vor allem die Komplettschließung von Kitas und Schulen. 

 

Doch ergibt es wirklich Sinn, darauf herumzureiten? Mir jedenfalls erscheint das ebenso wenig nach vorne gerichtet wie die Kritik an Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), nachdem er Anfang November erstmals öffentlich eingeräumt hatte, die Schließung von Kitas sei "definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen". Es ist ja richtig: Die Berufung auf das "heutige Wissen" geht fehl, denn es gab, wie neulich von mir dargestellt, schon lange wissenschaftliche Hinweise, die zahlreiche Experten im In- und Ausland Monate und Jahre früher zu Lauterbachs nun erreichter Erkenntnis geführt haben. 

  

Viel entscheidender aber ist: Sowohl der Ethikrat als auch Lauterbach sind letzten Endes zu ihrer Erkenntnis gekommen. Sie räumen ein, dass sie die Belange der Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend gesehen oder aber sogar Maßnahmen befürwortet zu haben, die diesen über Gebühr geschadet haben – ohne eine dies rechtfertigende Größe des gesamtgesellschaftlichen Nutzens. Alles Andere, vor allem die Hinweise auf den fehlenden Fokus in der Gesellschaft insgesamt oder auf den angeblich damals nicht ausreichenden Wissensstand, sind Strategien zur Gesichtswahrung. Und als solche menschlich komplett nachvollziehbar. Nicht mehr, nicht weniger. 

 

Entscheidend ist, was sich aus
den Eingeständnissen ergibt

 

Entscheidend ist auch, was sich daraus ergibt. Zum einen: Vergleichbar drakonische Eingriffe in die Freiheit und Teilhabe von Kindern und Jugendliche sind in künftigen Wellen und Pandemien zumindest deutlich unwahrscheinlicher geworden. Viel wahrscheinlicher – da die einzig ethisch angemessene Schlussfolgerung – ist, dass, falls erforderlich, künftig zuerst die Erwachsenen in Anspruch genommen werden. "In Zukunft ist umso mehr darauf zu achten, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht noch einmal derart einseitig in ihrer Lebensentfaltung beschränkt werden", so formuliert das der Ethikrat. 

 

Zum anderen: Mit dem Eingeständnis des eigenen und des gesellschaftlichen Versäumnisses kommt eine Verpflichtung. Der Ethikrat drückt sie so aus: "Das Versäumnis muss zum Anlass genommen werden, zukünftig die Belange der Jüngeren stärker zu gewichten." Und: "Daher empfiehlt der Deutsche Ethikrat eine schnelle, nachhaltige und verteilungsgerechte Verbesserung der Versorgungssituation namentlich im Bereich der Diagnostik und der Versorgung mit präventiven, therapeutischen und teilhabefördernden Angeboten."

 

Hier und nur hier ist jetzt die volle Aufmerksamkeit all jener vonnöten, die für das Wohlergehen der jungen Generation eintreten. Sie sollten alle kommenden politischen Entscheidungen daran messen, ob sich in ihnen der geforderte neue Fokus zeigt. Und der Ethikrat muss durch seine Begleitung der Politik beweisen, dass er sein eigenes Plädoyer ernst nimmt.

 

Journalisten hakten in der Bundespressekonferenz denn auch gleich in Bezug auf die Energiekrise und die Gefahr kalter Klassenzimmer nach. Darüber hinaus bieten sich für den Ethikrat unmittelbar mindestens drei Anlässe. Erstens: Die Situation in den Kinder- und Jugendkliniken ist katastrophal, die Versorgungslage ist angesichts schwerer Krankheitswellen (vor allem RSV) aktuell dramatisch. Ebenso ist es, worauf der Ehtikrat deutlich hinweist, der Mangel an Therapieplätzen angesichts psychosozialer Notfälle. Abhilfe ist auch perspektivisch nicht in Sicht. Zweitens: Die Sprach- und Lernrückstände bei Grundschülern sind so groß, dass es nicht allein mit den Corona-Gegenmaßnahemn zu erklären ist, sondern mit der andauernden Krise im Bildungswesen. Sie beginnt und verschlimmert sich gerade in den Kitas, die trotz aller Sonntagsreden nicht in Ansätzen die Ressourcen erhalten, um ihrem frühkindlichen Bildungsauftrag gerecht zu werden.

 

Die Thematisierung weiterer
Schieflagen muss folgen

 

Drittens: Kaum weniger extrem sind die Bedingungen, mit denen  viele Studierende zu kämpfen haben. Mehr als ein Drittel von ihnen lebt in Armut, viele leiden unter Isolation, Vereinsamung und Sinnkrisen nach semesterlanger Distanzlehre. Deshalb sagt der Generalsekretär des Studierendenwerke-Dachverbands DSW, Matthias Anbuhl: "Was der Ethikrat fordert, ist richtig. Wir müssen schnell ein Bündel an Hilfen für die junge Generation schnüren." Er fordert einen politischen Gipfel zur Lage der jungen Menschen in Deutschland. "Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, darunter auch die Studierenden, sind Leidtragende der Pandemie und der multiplen Krisen unserer Zeit."

 

Tatsächlich wäre die Durchsetzung eines solchen Gipfels viel wichtiger als eine Entschuldigung des Ethikrats, die nicht kommen wird. Wenn sich das Gremium von nun an hartnäckig und auf Dauer für die Besserstellung der jungen Generation einsetzte. Deren mangelnde Beachtung in der Krise war ja kein Unfall, sondern Folge einer lange vor Corona bestehenden Depriorisierung in unserer Gesellschaft.

 

Die Adhoc-Stellungnahme "Pandemie und psychische Gesundheit. Aufmerksamkeit, Beistand und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in und nach gesellschaftlichen Krisen", so ihr langer offizieller Tiel, ist da ein Anfang. Ein guter Anfang, auch wenn er eben nur einen Teil der Notlagen der jungen Generation – die psychosozialen – in den Vordergrund hebt. Jetzt darf der Ethikrat nicht nachlassen. Die Thematisierung weiterer Schieflagen muss folgen. Denn es muss um mehr gehen als nur um die dringend nötigen Reparaturen nach der Pandemie.

 

Fest steht: Den Fokus einer Gesellschaft hin zu den Belangen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verschiebt man nicht durch eine Adhoc-Empfehlung.


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Kommentare: 1
  • #1

    Marc Kruse (Montag, 05 Dezember 2022 09:04)

    "Alles Andere, vor allem die Hinweise auf den fehlenden Fokus in der Gesellschaft insgesamt oder auf den angeblich damals nicht ausreichenden Wissensstand, sind Strategien zur Gesichtswahrung. Und als solche menschlich komplett nachvollziehbar. Nicht mehr, nicht weniger." Das stimmt wahrscheinlich so, ist aber eine Fortsetzung des im Artikel problematisierten Denkmusters. Es scheint ja darum zu gehen, das Gesicht gegenüber der Öffentlichkeit, den Medien, kurz: den Erwachsenen zu wahren. Damit ist es auch weiterhin so, dass die Ethikkommission Kindern und Jugendliche keine eigenständigen Bedürfnisse und Interessen zugesteht. Kurz: Menschlich irgendwie nachvollziehbar, aber eben im Verhalten eben trotzdem falsch und sehr weit davon entfernt, für irgendjemand ein Vorbild zu sein (z.B. für Kinder!). Angemessen wäre eine Entschuldigung, oder wenn es dafür menschlich nicht reicht: Zumindest ein Dankeschön!
    Daher bin ich auch deutlich pessimistischer: Auch in Zukunft wird die Ethikkommission an Kinder und Jugendliche im Zweifel die gleichen Maßstäbe anlegen, wie an Erwachsene.