Warum Fatalismus angesichts der tiefgreifenden Bildungskrise wenig bringt, tiefgreifende Reformen aber umso mehr: Ein Interview mit der scheidenden KMK-Präsidentin Karin Prien über eine Neugestaltung des Bildungsföderalismus, den Giftschrank der Bildungspolitik – und die Bundesbildungsministerin.
Karin Prien ist Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur in Schleswig-Holstein und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende. Foto: Ministerium.
Frau Prien, Ihr Jahr als Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) geht zu Ende, Ihre Nachfolgerin Astrid-Sabine Busse aus Berlin ist schon gewählt. Froh, dass es vorbei ist?
Wieso?
Zumindest viele Ihrer Vorgänger haben nach ihrer KMK-Präsidentschaft keinen Hehl aus ihrer Erleichterung gemacht, dass sich jetzt wieder andere um die Wirrungen des Bildungsföderalismus und der KMK kümmern müssen.
Natürlich bin ich froh, wenn ich mich jetzt wieder stärker auf meine Aufgaben als Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende konzentrieren kann – und nebenbei hoffentlich auch wieder mehr Zeit für Privates bleibt. Denn ja: Es war ein forderndes Jahr. Aber dafür ist es gelungen, bildungspolitische Impulse zu setzen und parallel die KMK in ihrer Arbeitsweise zu verändern.
Wieso hat dann die Öffentlichkeit so oft den Eindruck, dass sich alles auf der Welt weiterentwickelt, nur die KMK nicht?
Weil viele, auch viele Journalisten, gar nicht mitbekommen, was die KMK alles tut.
Ist das die Schuld der Leute oder die Schuld der KMK?
Das hat natürlich mit der KMK zu tun, mit ihrer Struktur und Rolle. Sie koordiniert, sie stimmt die Bildungspolitik der 16 Länder über ihre zahlreichen Gremien ab, bis zur Erschöpfung. So wichtig das ist, hat es doch wenig Bezug zu dem, was die Menschen in ihrem Alltag von Schule mitbekommen. Was zum Beispiel interessiert die Öffentlichkeit, welche Beschlüsse wir zu den neuen Bildungsstandards in der Grundschule gefasst haben?
Sollte es sie nicht interessieren?
Klar sollte es das, aber es ist auch ein Thema für bildungspolitische Spezialisten. Während die meisten überregional berichtenden Journalisten in Berlin leben, so dass das Bild von Schule, das sie öffentlich transportieren, sehr stark und einseitig von ihren Erfahrungen in Berlin geprägt ist.
"Umso ärgerlicher ist es, wenn sich eine Bundesbildungsministerin zu Themen äußert, für die sie, zumindest in fast allen Fragen der Schule, gar nicht zuständig ist. Also auch nicht liefern muss."
Im Ergebnis wird dann die Bundesbildungsministerin nach einem Statement zu Unterrichtsqualität oder Leistungszulagen für Lehrer gefragt.
Die Bundesbildungsministerin ist Teil des Bundeskabinetts und dadurch in einem ständigen Austausch mit den Berliner Journalisten. Während ich als KMK-Präsidentin jedes Mal anreisen muss und dann auch noch auftrete als Sprecherin eines Gremiums, das 16 Länder mit teilweise sehr unterschiedlichen Verhältnissen in den Schulen vertritt. Umso ärgerlicher ist es, wenn sich eine Bundesbildungsministerin dann auch noch zu Themen äußert, für die sie, zumindest in fast allen Fragen der Schule, gar nicht zuständig ist. Also auch nicht liefern muss.
Man kann nicht behaupten, dass Sie dieses Jahr nicht versucht hätten, Frau Stark-Watzinger in ihrer Medienarbeit Paroli zu bieten. Viele Ihrer Vorgänger wollten als KMK-Präsdenten auf Medienanfragen nur antworten, wenn es dazu eine passende Beschlusslage der KMK gab. Sie dagegen haben sich die Rückendeckung Ihrer Ministerkollegen geholt, zu allen aktuellen Bildungsthemen sprechen zu können – und das dann auch reichlich getan: zugespitzt, streitbar und – wie gerade eben – auch mal mit einer Breitseite gegen die Bundesbildungsministerin.
Das entspricht meinem Verständnis, dass wir nicht nur darüber klagen sollten, dass die KMK keiner sieht, sondern dafür sorgen sollen, dass das anders wird. Und dass sie sich insgesamt viel strategischer aufstellt.
Aus demselben Grund haben Sie die sporadischen Sitzungen des KMK-Präsidiums, bestehend aus einer Handvoll Minister, zu einem monatlich wiederkehrenden Termin gemacht. Schon das war aber einigen Ihrer Kollegen zu viel Führung, sie fühlten sich abgekoppelt vom Präsidium. Jetzt wird die Frequenz auf achtmal im Jahr zurückgenommen.
Was immer noch viel häufiger ist als vorher! Das Problem ist, dass wir in der KMK mittlerweile eine kaum noch tragbare Termindichte erreicht haben, die für die Minister und Staatssekretäre und auch in den Landesministerien und für die KMK-Verwaltung, das sogenannte Sekretariat, schwer zu managen ist. Es gab Wochen, da hat meine Staatssekretärin täglich mit ihren Kollegen konferiert, die die Bildungspolitik der SPD- und unionsregierten Länder koordinieren. Am Ende muss man sicherstellen, dass für die Arbeit im eigenen Bundesland genug Zeit bleibt.
Also wieder weniger Koordination?
Das hielte ich für grundfalsch. Wenn die KMK eine prägende Rolle spielen will für eine Weiterentwicklung der Bildungspolitik, wird das nur mit noch mehr Kooperation gehen, nicht weniger. Aber umso dringlicher musss die KMK ran an ihre Gremienstrukturen und Arbeitsprozesse, denn sonst führt das mehr an Kooperation genau zu der Erschöpfung, die wir gerade erleben.
"Dem KMK-Sekretariat fehlt das Personal, das Selbstverständnis und der Auftrag durch die Länder."
Mehr Koordination, aber weniger Koordinierungsrunden? Wie soll das gehen?
Das geht, wenn wir das KMK-Sekretariat so ausstatten, dass es die verschiedenen, oft parallel laufenden Strategieprozesse führen und ausfüllen kann und wir die Gremienstrukturen reformieren. Im Augenblick fehlt ihm dafür das Personal, es fehlt ihm das Selbstverständnis, es fehlt ihm auch der dafür nötige Auftrag durch die Länder. Im Moment führen das Sekretariat und auch weitere Gremien ein gewisses Eigenleben, das manchmal von der Arbeit in den Landesministerien abgekoppelt ist. Sicherlich ist seine Aufteilung in zwei KMK-Standorte, in Bonn und Berlin, auch nicht gerade förderlich. Doch jede Stärkung des Sekretariats hängt davon ab, dass die einzelnen Länder sie wollen und mitziehen. Die KMK kann nur stark sein, wie die Länder es zulassen.
Welches Selbstverständnis wünschen Sie sich vom KMK-Sekretariat?
Zunächst einmal wünsche ich mir die Einsicht bei den Ländern, dass wir viele Probleme in den Ländern nur mit einer Kultusministerkonferenz lösen können, die mehr ist als ein Koordinierungsgremium. Und dass wir an den Stellen, an denen wir mehr Kooperation zwischen den Ländern brauchen, diese sich nur über agile und schlagkräftige Gremienstrukturen einschließlich des Sekretariats organisieren lässt. Nicht nur mehr Kooperation zwischen den Ländern, sondern auch mit anderen Ressorts auf Landes- und Bundesebene, den Jugend- und Sozialministerien zum Beispiel. Und mit der Wissenschaft. Schauen Sie: Das BMBF hat über tausend Mitarbeiter, das KMK-Sekretariat knapp 200, von denen die meisten auch noch für Anerkennungsfragen zuständig sind. Und das obwohl die Länder die gesamtstaatliche – und damit auch die überregionale – Verantwortung für die Bildung tragen. Das sagt schon sehr viel, finde ich.
Es gab mal einen stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden, dem schon diese KMK zu stark war. Ende 2004 warnte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulf, sein Land werde aus der Kultusministerkonferenz austreten, wenn es nicht zu "schlanken Strukturen" komme. Woraufhin das Sekretariat 20 Prozent der Stellen abgeben musste – und ihm das agile Selbstverständnis, das Sie fordern, gründlich ausgetrieben wurde.
Das war ein Verständnis von Bildungsföderalismus, das überhaupt nicht mehr kompatibel ist mit den Herausforderungen ans Bildungssystem, die wir heute sehen. Wenn jedes Land sich bei jedem Problem erstmal allein auf den Weg macht, ist das nicht nur total ineffizient, es wird auch nicht zu wirklich guten Lösungen führen.
Dann mal konkret. Müsste die KMK, um schlagkräftiger zu werden, nicht als allererstes weg von dem Grundsatz, alle wesentlichen Beschlüsse nur ohne Gegenstimme fassen zu können?
Darüber sollten wir reden. Allerdings hatte ich zumindest in diesem Jahr nicht den Eindruck, dass wichtige Entscheidungen an Mehrheiten gescheitert wären. Die Aufteilung der Länder in parteipolitische Lage spielt bei wesentlichen Fragen kaum noch eine Rolle, es hat eine erfreuliche Entideologisierung stattgefunden. Dringlicher scheint es mir, dass wir in unsere Verwaltungen hineinwirken, die ihre eigenen bildungspolitischen Traditionen und Rituale allzu sehr pflegen und verteidigen.
"Als Kultusminister müssen wir Sorge tragen,
dass eine stärkere Vergleichbarkeit beim Abitur nicht mehr dadurch über Jahre verzögert werden kann,
dass die Verwaltung blockiert."
Das heißt, Sie wollen sich als Kultusminister die Macht von ihren Kultusverwaltungen wiederholen?
Das heißt, dass wir als Kultusminister zum Beispiel dafür Sorge tragen müssen, dass die vom Bundesverfassungsgericht Ende 2017 geforderte stärkere Vergleichbarkeit beim Abitur nicht mehr dadurch über Jahre verzögert werden kann, dass die Verwaltung blockiert. Nur weil sie Umsetzungsprobleme fürchtet oder den Widerstand der Lehrkräfte, die sich doch an die bisherigen Abläufe gewöhnt haben. Da müssen wir als Minister politisch Druck machen und sagen: So geht das nicht. Es muss einfach schneller gehen in der KMK, es muss effizienter und politischer werden.
Aber nochmal: Das bekommen Sie doch nur hin, wenn die Mehrheit der Länder auch mal eine Minderheit überstimmen und vorschreiben kann: So machen wir das jetzt mit dem Abi und nicht anders.
Was man in der Form aber erstmal gesetzlich absichern müsste. Und der dafür nötige Staatsvertrag, der alle Länderparlamente passieren müsste, ist ein steiniger Weg.
Wie wir bei der KMK-Ländervereinbarung gesehen haben, die schon einmal den inhaltlichen Aufbruch der Länder markieren sollte, aber doch die beschriebene Langsamkeit der Umsetzung nicht ändern kann – eben weil sie nur als Ländervereinbarung, nicht als Staatsvertrag geschlossen wurde.
Wir waren kurz davor damals, das stimmt. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die Frage der Verbindlichkeit über eine Grundgesetzänderung zu lösen. Wir denken meist, über das Grundgesetz ließe sich nur das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ändern. Aber natürlich könnte man über eine Reform auch das Verhältnis der Länder untereinander in der Bildungspolitik anders gestalten. Dann bräuchten Sie auch keinen Staatsvertrag mehr, wenn es um Fragen von Mehrheit, Entscheidungsabläufen oder Zuständigkeiten der KMK geht.
Wenn man Ihnen zuhört, so scheint am Ende Ihres KMK-Präsidentschaftsjahres doch an vielen Stellen die Ungeduld durch. Hätten Sie gern mehr erreicht?
Natürlich hätte ich das gerne. Kein Politiker wird das jemals abstreiten. Aber abgesehen von dieser Sicht muss ich auch feststellen: An manchen Stellen waren wir sensationell schnell. Wir haben wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die Einrichtung einer Task Force beschlossen, die bis heute jede Woche tagt und alle Fragen der Aufnahme ukrainischer Kinder in unsere Schulen klärt. Jedes Kultusministerium hat einen Mitarbeiter darin sitzen, und jede Woche erhalten wir einen Bericht über die verabredeten Maßnahmen, die wir dann im Land schnell umsetzen. Parallel haben wir die Grundlage für eine bundesweite Datenerhebung geschaffen. Ich kann Ihnen auf Knopfdruck sagen, an welcher Schule wie viele ukrainische Schüler neu hinzugekommen sind. Klar würde ich mir mehr wünschen. Zum Beispiel, das gleiche auch über die in den einzelnen Bundesländern eingestellten ukrainische Lehrkräfte zu wissen: Wie viele sind es, und welche Qualifikation haben sie?
"Derzeit, und ich formuliere zurückhaltend,
erkennen einige Länder einen größeren Sinn in der Datenerhebung als andere."
Warum werden diese Daten nicht auch zentral gesammelt?
Als KMK-Präsidentin müssen Sie von jeder Neuerung erstmal jeden einzelnen Minister und jede einzelne Ministerin überzeugen. Aber wir kommen voran. Gerade haben wir uns geeinigt, künftig auch die bundesweite Zahl der Schüler zu erheben, die aus der Ukraine zu uns kommen, aber nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen.
Warum müssen Sie da als KMK-Präsidentin überhaupt noch Ihre Kollegen bearbeiten? Sind die Erhebung, die Transparenz und die Vergleichbarkeit von Daten nicht eine Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Föderalismus, in dem die Länder voneinander lernen können?
Ich stimme Ihnen zu. Aber derzeit, und ich formuliere zurückhaltend, erkennen einige Länder einen größeren Sinn in der Datenerhebung als andere. Wir haben in der KMK zwei Kommissionen für Statistik schul- und wissenschaftsseitig. Doch am Ende kann das Sekretariat nur mit den Daten arbeiten, die die einzelnen Kultusministerien in der nötigen Einheitlichkeit zur Verfügung zu stellen bereit sind. Parallel müssen wir stärker darüber reden, welche Daten uns wirklich bei der Weiterentwicklung des Bildungssystems nützen. Ich würde sagen: Manche helfen, viele helfen auch nicht.
Ist das eine Aufforderung an die Bildungsforschung?
Nehmen Sie den Nationalen Bildungsbericht. Ein interessantes Kompendium an Daten – wenn man ganz viel Zeit hat. Denn die braucht man, um die vielen hundert Seiten durchzuarbeiten. Was ihm völlig fehlt, sind die Handlungsempfehlungen an die Politik. Welche konkreten Weichenstellungen können wir aus den Statistiken ableiten? Ich will der Autorengruppe, den beteiligten Bildungsforschern, gar keinen Vorwurf machen. Wir Länder sind zusammen mit dem Bund der Auftraggeber, wir müssen sagen, was wir wissen wollen, und dann auch die dafür nötigen Projektgelder an die Hand geben.
Einer der Schwerpunkte ihrer Präsidentschaft sollte der Einstieg in eine Reform der Lehrkräftebildung geworden. Seit der Ankündigung war nicht mehr viel davon zu hören.
Moment! Wir haben im März beschlossen, dass wir an das Thema herangehen wollen, und wir haben die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) um Empfehlungen dazu gebeten. Erste Ergebnisse haben wir im Dezember erhalten, der erste Teil des Gutachtens kommt im Januar 2023. Allein, dass die Bildungsminister sich darauf eingelassen haben, ist ein Riesenfortschritt. Bislang haben wir uns doch als Länder vor allem die Lehrkräfte gegenseitig abspenstig gemacht. Jetzt fragen wir gemeinsam, ob wir neue Zugänge zum Lehrerberuf brauchen, welche Teilzeitquote in den Kollegien wir uns eigentlich erlauben können, welche Rolle kleinere – und damit lehrkräfteintensive – Klassen in den verschiedenen Schularten wirklich spielen. Und vieles mehr. Alles Fragen aus dem Giftschrank, wie die Wissenschaftler das nennen. Weil klar ist: Wenn wir sie anfassen, wird das eine schwierige gesellschaftliche Debatte. Weshalb ich glaube, bevor wir uns als Minister äußern und festlegen, sollten wir erstmal die Wissenschaft sprechen lassen.
Klingt fast so, als wollten Sie sich hinter der Wissenschaft verstecken.
Ganz sicher nicht. Aber wenn wir die Wissenschaft fragen, müssen wir auch auf ihre Antwort warten. Die ist uns, in Form der Empfehlungen der SWK, für Anfang des neuen Jahres zugesagt. Ungeachtet dessen sind wir in allen Ländern dabei, Maßnahmen gegen den Lehrermangel zu ergreifen, und das seit schon seit Jahren. Das wird ja auch gern übersehen. Wir haben mehr Studienplätze eingerichtet, mehr Ausbildungsplätze für Referendare und runde Tische, um die Studienabbrecherquote zu senken. Denn was nützt es mir, wenn ich mehr Studienanfänger habe, von denen am Ende aber 70 Prozent abbrechen?
"Wenn die Lehrkräfte das Gefühl haben, sie werden in ihrer gegenwärtigen Leistung nicht gewürdigt,
sondern alles, was sie tun, wird runtergeredet,
hilft das am Ende keinem Kind."
Sie sind als eine der wenigen Ministerinnen in der KMK für Schule und Wissenschaft zuständig. Dafür liegen die Kitas außerhalb ihrer Verantwortung. Wenn man sich anschaut, wie viele Kinder in die Grundschule kommen, ohne aufs Lernen vorbereitet worden zu sein: Ist die Schnittstelle der Schulpolitik zur frühkindlichen Bildung nicht wichtiger als die zu den Hochschulen?
Auf die Idee kann man kommen vor dem Hintergrund des IQB-Bildungstrends oder dem Gutachten der SWK zur Reform der Grundschule. Ich glaube aber, das stimmt nicht. Für mich bleibt die Professionalisierung der Lehrkräfte die entscheidende Stellschraube. Noch lieber hätte ich alle drei Bereiche gehabt. Deshalb fand ich es richtig, dass in unserem Wahlprogramm vor der Landtagswahl vergangenes Jahr stand, wir wollten Kita und Schule in einem Ministerium bündeln. Aber das konnten wir in den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen. Und ich hätte im Umkehrschluss nicht auf die Hochschulen und Wissenschaft verzichten wollen, weil ich die angeschobenen Reformen zu Ende bringen möchte: in der neuen schleswig-holsteinischen Allianz für Lehrerbildung zum Beispiel, in der sich alle lehrerbildenden Hochschulen des Landes zusammengeschlossen haben. Die Allianz wird uns in den nächsten Tagen Vorschläge unterbreiten, wie wir mehr Menschen für den Lehrerberuf gewinnen können. Ich erwähne das auch deshalb, um zu zeigen: Nicht nur auf der KMK-Ebene wird gearbeitet, parallel findet in allen Ländern viel statt.
Das ging mir jetzt zu schnell. Fakt ist: Wir reden seit 15, 20 Jahren darüber, dass die Kitas Bildungseinrichtungen sind. Gleichzeitig bemängeln Bildungsforscher bis heute, dass wir nicht wissen, was Kitakinder zu welchen Zeitpunkten an Kompetenzen erwerben. Wir erheben es nämlich gar nicht erst. Weil wir in Wirklichkeit doch keinen politischen Konsens haben, dass die Kitas Teil des Bildungssystems sind?
Kein Widerspruch, wir müssen an die Schnittstellen, wir müssen das nötige Wissen generieren. Aber wir müssen jetzt in den Strukturen getrennter Zuständigkeiten arbeiten, die wir auf Bundesebene und in vielen Ländern haben. Wir müssen die verschiedenen Akteure auch so zusammenbringen, dass sie gemeinsam die Probleme bearbeiten, und das möglichst effizient. Darum haben wir beschlossen, dass sich KMK und Jugendministerkonferenz künftig regelmäßig treffen und ihre Kooperation auf Arbeitsebene zu einer Dauereinrichtung machen. Wir haben so viele gemeinsame Themen, von der Digitalisierung in der frühkindlichen Bildung über den Ganztag bis hin zur Vermittlung basaler Kompetenzen. Wenn Sie eine Initiative zur Verbesserung des Mathematikunterrichts in den Schulen starten, müssen Sie die Kitas dabei mitnehmen.
So sehr Sie an allen Stellen Veränderungen anmahnen, so allergisch reagieren Sie auf manche Begriffe. "Bildungskrise" ist so einer. Warum eigentlich? Rechtfertigen Erzieher- und Lehrkräftemangel, die Folgen von Corona, der Leistungsabsturz in nationalen wie internationalen Vergleichsarbeiten und Studien, die wachsende Bildungsungerechtigkeit und die parallele Aufnahme hunderttausender Geflüchteter in den vergangenen Jahren nicht einen gewissen Alarmismus?
Wenn es darum geht, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen, dass wir mehr in unser Bildungssystem investieren müssen, dass wir eine gemeinsame Anstrengung über alle Ebenen und Akteure hinweg brauchen, dann stimme ich Ihnen zu: Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Lage. Was mich stört, ist eine Katastrophenrhetorik, die ins Fatalistische abdriftet. Es ist eben nichts verloren, und nichts ist hoffnungslos. Alles ist möglich, wir können gemeinsam unser Bildungssystem besser machen. Wenn wir zuversichtlich sind und die Menschen, die es gestalten, mitnehmen. Wenn die Lehrkräfte das Gefühl haben, sie werden in ihrer gegenwärtigen Leistung nicht gewürdigt, sondern alles, was sie tun, wird runtergeredet, hilft das am Ende keinem Kind.
Apropos mehr Investitionen ins Bildungssystem: Die Ampel hat viel versprochen: ein milliardenschweres Startchancen-Programm für Schulen mit besonders vielen benachteiligten Schülern, einen Digitalpakt 2.0. Kommt da noch was?
Ich halte es für einen Fehler, dass der Bund das Programm "Aufholen nach Corona" nicht fortsetzt. Das bedeutet, dass wir Länder auf uns allein gestellt sind, aber wir nehmen die Verantwortung wahr. In Schleswig-Holstein investieren wir 2023 zusätzlich 28 Millionen Euro, damit die Maßnahmen weiterlaufen können. Insgesamt bin ich nicht hoffnungslos, dass da gar nichts mehr kommt von der Ampel. Das wäre eine solche Blamage für die Koalition und für ihre Glaubwürdigkeit eine Katastrophe, nachdem sie so viel versprochen hat, um die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu verbessern. Deshalb bin ich optimistisch, dass der Bund am Ende das nötige Geld zur Verfügung stellen wird, um das Startchancen-Programm auf den Weg zu bringen. Allerdings bedaure ich, dass es wegen der schwierigen Finanzlage immer weiter nach hinten geschoben wird. Warum, frage ich mich, erleben wir auf Seiten des Bundes vor allem Zögerlichkeit, warum will man gar nicht richtig ins Gespräch kommen? Warum, frage ich mich, legt die Bundesregierung nicht zumindest mit einzelnen Maßnahmen schon mal los? Und zwar mit denen, die keine umfangreichen konzeptionellen Vorarbeiten und Absprachen brauchen.
Welche meinen Sie?
Die SWK hat uns gerade wieder gesagt, dass die psychosoziale Unterstützung für das Lernen basaler Fertigkeiten in der Grundschule von großer Bedeutung ist. Darum sollte die Bundesregierung die versprochene Ausstattung der Schulen mit zusätzlichen Sozialarbeitern jetzt auf den Weg bringen. Ein Start 2024 ist zu spät. Wir wissen doch alle, wie lange es dauert, bis dann die ersten Gelder und Stellen in den Schulen ankommen. Und diese Zeit haben wir nicht.
"Eine Entschuldigung habe ich
noch von niemandem gehört."
Die langen Schließungen von Kitas und Schulen in der Coronakrise haben tiefe Spuren in der Psyche vieler Kinder hinterlassen, von den Lern- und Wissenslücken ganz zu schweigen. Die meisten Kultusminister haben durch die Pandemie hindurch für offene Schulen gestritten, zeitweise auf verlorenem Posten. Jetzt hat der Deutsche Ethikrat eingeräumt, dass die Belange und Belastungen der jüngeren Generationen in Gesellschaft und Politik nicht genügend beachtet worden seien – auch nicht durch den Ethikrat selbst. Und Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, im Rückblick sei die Schließung der Kitas in der Form nicht nötig gewesen. Eine Genugtuung?
Na ja, das sind ja eher halbherzige Äußerungen. Und eine Entschuldigung habe ich noch von niemandem gehört. In jedem Fall war es eine harte Zeit für viele meiner Kolleginnen und Kollegen, weil wir wegen unserer klaren Haltung zu Schulen und Corona teilweise heftig angegangen worden sind. Als Politikerin sollten sie stets mit sich hadern und zweifeln, ob sie das Richtige sagen und tun, bei diesem Thema aber bin ich überzeugt, dass es so war. Was das Votum des Ethikrats betrifft, müssen sich auch die Ministerpräsidenten fragen lassen, ob ihre Mitte März 2020 von einem Tag auf den anderen gefasste Entscheidung, die Schulen zu schließen, nicht überhastet war. Wichtig ist auch, was wir daraus für die Zukunft lernen. Nämlich, dass sich eine solche Missachtung kindlicher Teilhaberechte nicht wiederholen darf.
Hätten Sie sich gewünscht, als KMK-Präsidentin mehr als ein Jahr Zeit zu haben?
Fest steht: So ein Jahr geht schnell rum. Ich habe versucht, schon meine Zeit als Vizepräsidentin vorher zu nutzen, um das KMK-Sekretariat besser kennenzulernen, das kann ich allen Kollegen nur empfehlen. Aber trotzdem, man braucht seine Zeit, um sich einzuarbeiten. Und natürlich wäre die öffentliche Kommunikation und damit die Interessenvertretung für die KMK stärker, wenn mit ihr für längere Zeit ein Gesicht verbunden wäre. Jetzt haben die Leute sich gerade an mich gewöhnt, da bin ich schon wieder weg, und Astrid-Sabine Busse ist an der Reihe. Und je nachdem, wie die Wahl in Berlin ausgeht, kommt dann gleich schon wieder ein neues Gesicht. In der öffentlichen Debatte ist das natürlich schwierig. Also ja, eine Präsidentschaft, die länger dauert als ein Jahr, sollten wir aus mehreren Gründen zumindest diskutieren.
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Franka Listersen (Mittwoch, 14 Dezember 2022 12:45)
"Wenn jedes Land sich bei jedem Problem erstmal allein auf den Weg macht, ist das nicht nur total ineffizient, es wird auch nicht zu wirklich guten Lösungen führen."
Nein, das Gegenteil ist richtig in einem guten Föderalismus. Es mangelt eher an der Bereitschaft der Länder, voneinander zu lernen.
Es braucht Mindeststandards in Daten und Inhalten, aber sicherlich nicht immer eine Lösung für alle. Denn dann könnte man die Aufgabe auch gleich dem Bund geben.
Norbert Esser (Donnerstag, 15 Dezember 2022 08:15)
In kaum einem Feld wird so experimentiert, wie in der Bildung (siehe "Schreiben nach Gehör"). Wäre es doch so einfach; wer die besten Schüler hat, liefert die Vorlage für die anderen Bundesländer. Die wichtigste Grundlage aber, der Fleiß, wird zuhause gelegt. Schlechte Bildung ist ein Problem sozialer Strukturen. Wenn hier nicht genug investiert wird, zahlt man später um so mehr Sozialhilfe.
Klaus Diepold (Freitag, 16 Dezember 2022 16:04)
Wenn ich darüber nachdenke, welchen Einfluss die Ergebnisse der ersten PISA Studie in Deutschland auf die Politik hatte, dann würde ich erwarten, dass eine Art offener Wettbewerb zwischen den Bildungssystemen der Bundesländer auch positive Entwicklungen und mehr Dynamik in der Politik auslöst.