Was kann die Politik aus vergangenen Bildungsinitiativen lernen, und was bedeutet das für die Gestaltung des milliardenschweren "Startchancen"-Programms? Namhafte Bildungsexperten haben dazu eine klare Vorstellung – und sie in einem Papier zusammengetragen.
Frau Dumont, Herr Jungkamp, lassen Sie uns zuerst über Geld reden. Wieviel, glauben Sie, sind der Ampelkoalition noch die Startchancen der jungen Generation wert?
Burkhard Jungkamp: Das kann ich nicht sagen. Aber das gleichnamige Programm, das SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag versprochen haben, wurde vor der Zeitenwende mit rund zwei Milliarden Euro pro Jahr gehandelt. Allerdings nur intern.
Sie sagen es. Denn offiziell hatte die Ampel an kein einziges ihrer zahlreichen Koalitionsversprechen ein Preisschild geheftet.
Jungkamp: Die veränderte Haushaltslage durch den russischen Angriff auf die Ukraine hin oder her: Ein paar einfache Rechenoperationen zeigen, dass man mit einem ernst gemeinten Programm gar nicht anfangen muss, wenn es deutlich weniger als die zwei Milliarden jährlich werden sollten.
Sie, Herr Jungkamp, haben im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Expertenkommission moderiert, die Empfehlungen zu den "Startchancen" formulieren sollte. Sie, Frau Dumont, hatten die wissenschaftliche Leitung.
Hanna Dumont: Ich finde, die jüngsten bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse geben uns schlagkräftige Argumente an die Hand. So furchtbar es ist, dass laut Bildungstrend bis zu einem Drittel der Viertklässler nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen kann, so eindeutig ist die Botschaft an die Politik: Investiert jetzt, oder es wird in fünf oder zehn Jahren noch viel teurer.
Burkhard Jungkamp war zwischen 2005 und 2014 Staatssekretär im Bildungsministerium von Brandenburg. Seit 2016 koordiniert er das Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung und hat die Expertenkommission zum "Startchancen-Programm" moderiert. Foto: privat.
Hanna Dumont ist Professorin für Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt schulische Lehr-Lern-Prozesse an der Universität Potsdam. Der von ihr
geleiteten Expertenkommission gehörten Bildungspraktiker*innen und Forscher*innen an, darunter die Schulpädagogin Nina Bremm, die ehemalige Vorsitzende des KMK-Schulausschusses, Cornelia von
Ilsemann, und die Direktorin des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung Hamburg, Martina Diedrich.
Foto: Fotostudio Ludwig.
Dann rechnen Sie uns doch bitte das mit den zwei Milliarden vor.
Jungkamp: Laut Koalitionsvertrag sollen die "Startchancen" drei Säulen haben. Die erste betrifft den Schulbau, Mittel für die Sanierung und Modernisierung von "mehr als" 4000 Schulen, wobei das "mehr als" in der politischen Debatte oft unterschlagen wird. Doch selbst wenn Sie nur die 4000 Schulen nehmen und jeder davon die marginale Bau-Summe von 250.000 Euro pro Jahr zugestehen, ist die erste Milliarde weg. Als zweite Säule soll jede Schule ein jährliches Budget erhalten, um Unterricht und Lehrangebote weiterzuentwickeln und die Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungspartnern zu fördern. Rechnen wir, wieder sehr zurückhaltend, dafür 200.000 Euro pro Schule. Macht weitere 800 Millionen. Die dritte Säule verspricht zusätzliche Schulsozialarbeiter:innen. Gehen wir von einer einzigen Stelle pro Schule aus und setzen 50.000 Euro pro Jahr dafür an, ergibt das 200 Millionen. Sie sehen: Die zwei Milliarden sind wirklich die Untergrenze.
"Weil das Geld so knapp ist, müssen wir
den maximalen Effekt erzielen. Soll heißen: Wir dürfen es auf keinen Fall per Gießkanne verteilen."
Dumont: Weil das Geld so knapp ist, müssen wir den maximalen Effekt erzielen. Soll heißen: Wir dürfen es auf keinen Fall per Gießkanne verteilen. Das ist eine zentrale Empfehlung, die wir geben. Es sind die Schulen in sozial benachteiligten Stadtvierteln und Regionen, die das Programm in den Blick nehmen muss. Und die sind nicht gleich verteilt über die Bundesrepublik.
Und das ist beileibe keine neue Erkenntnis oder eine, mit der Ihre Expertenkommission allein steht. Normalerweise werden Bundesgelder auch in der Bildung über den sogenannten Königsteiner Schlüssel an die Länder verteilt, grob gesprochen nach Bevölkerungsgröße und Steueraufkommen – und nicht nach den tatsächlichen Problemlagen. Praktisch alle Bildungswissenschaftler kritisieren das, aber warum sollten sich wohlhabendere Bundesländer wie Bayern oder Baden-Württemberg auf eine Veränderung einlassen?
Dumont: Sie stellen eine politische Frage, als Leiterin einer wissenschaftlichen Kommission kann ich sie aber nur inhaltlich beantworten. Wenn sich Bayern, Baden-Württemberg oder andere nicht darauf einlassen, würden die Ziele des Programms ad absurdum geführt. Als Wissenschaft haben wir die Verpflichtung, das ganz deutlich zu sagen.
Konkret schlagen Sie vor, für jede Schule in Deutschland den Anteil der Schüler mit Sozialleistungen zu ermitteln – und daraus eine Art Ranking zu erstellen. Wobei nicht die ersten 4000 Schulen automatisch zum Zug kommen sollen, sondern sie noch eine Art Wettbewerb zwischen ihnen veranstalten wollen. Wieso?
Dumont: Wenn das in unserem Papier so rüberkommt, wäre das schade. Wir sagen nur: Keine Schule soll gegen ihren Willen in das Programm gezogen werden, denn sonst werden wir keinen positiven Beitrag zur Schul- und Unterrichtsentwicklung erreichen. Es kann ja sein, dass eine Schule schon an verschiedenen Förderprogrammen teilnimmt und die Verantwortlichen stöhnen: Nicht noch eine Ausschreibung. Jede Schule aber, die aufgrund ihres Sozialindikators in Frage kommt und am Programm teilnehmen möchte, sollte das auch tun können, das ist für uns klar. Wir sollten die Schulen mit den höchsten Anteilen sozial benachteiligter Schüler zuerst anfragen und uns dann durch die Liste arbeiten, bis die 4000 Schulen bundesweit erreicht sind.
Jungkamp: Damit würden wir auch dem Koalitionsvertrag Rechnung tragen und seiner Ankündigung, "mehr als" 4000 Schulen einzubeziehen. Was nicht passieren darf: dass die Schulen wie beim Digitalpakt Schule erst aufwendige Konzepte erstellen müssen. Beim Digitalpakt hat das dazu geführt, dass die Mittel über Jahre kaum abgeflossen sind. Wir brauchen ein schnelles Verfahren ohne viel Bürokratie.
"Am Ende geht es ja nicht darum,
dass es nur einzelnen Schulen besser geht, wir wollen das ganze System besser machen."
Wobei es die eine oder andere Schule abschrecken könnte, wenn sie nach fünf Jahren Programm ihre Erkenntnisse in den von Ihrer Expertenkommission geforderten Transferprozess an 4000 weitere Schulen vermitteln soll. Zumal der ja auch wieder Geld kostet.
Dumont: Wir reden in den ersten fünf Jahre pro Schule von einer Fördersumme von rund einer Million Euro. Bei einer solchen Größenordnung sollte keine Schule allein über die Verwendung entscheiden. Idealerweise bilden sich in dieser Zeit Netzwerke aus Schulen, Schulträgern, Landesinstituten und Schulaufsicht, die gemeinsam Lösungen finden, die Startchancen-Förderung möglichst gewinnbringend für die Schul- und Unterrichtsentwicklung einzusetzen – orientiert an klar formulierten Zielen und auf der Basis wissenschaftlich erprobter Maßnahmen. Und diese Netzwerke sind für die Weitergabe der Erfahrungen an Dritte wie geschaffen, sie zu fördern und in den zweiten fünf Jahren um weitere Schulen zu erweitern, drängt sich geradezu auf. Am Ende geht es ja nicht darum, dass es nur einzelnen Schulen besser geht, wir wollen das ganze System besser machen.
Und nach zehn Jahren ist dann einfach Schluss? Warum fordern Sie als Kommission an keiner Stelle, das gesamte "Startchancen"-Papier zum festen Bestandteil der Schulfinanzierung zu machen – und den Bund damit auf Dauer in die Verantwortung zu nehmen?
Dumont: Na ja, zehn Jahre sind für den Bund in der Bildungsfinanzierung schon eine lange Zeit.
Jungkamp: Außerdem nehmen wir den Koalitionsvertrag beim Wort und fordern ja, dass der Bund die zusätzlichen Sozialarbeiter auf Dauer finanziert. Und das nicht nur an den 4000 "Startchancen"-Schulen, sondern, wie die Ampel es angekündigt hat, an weiteren 4000 Schulen. Wichtig ist, dass diese 4000 Schulen dann nach derselben Logik ausgewählt werden.
Und was ist mit dem sogenannten "Chancenbudget"? Dass es mit dem Bauen irgendwann gut ist, zumindest für eine gewisse Zeit, kann ich verstehen. Aber halten Sie es für richtig, wenn auch die Mittel, die jede Teilnehmer-Schule erhalten soll, nach zehn Jahren wieder ersatzlos gestrichen werden?
Dumont: Vielleicht waren wir an der Stelle tatsächlich zu zurückhaltend – mangels Glauben, dass der Bund sich auf mehr einlassen wird.
Jungkamp: Die Sache hat auch eine verfassungsrechtliche Komponente. Ein Rechtsgutachten, das wir eingeholt haben, hat nochmal deutlich gemacht, dass Bundesgelder, die in die Länder fließen, erstens immer befristet und zweitens durch die Länder kofinanziert werden müssen.
Die Verfassung kann man ändern.
Dumont: Da haben Sie Recht, und die Debatte darüber läuft ja auch. Ich will aber hinzufügen, dass wir als Kommission sehr deutlich gemacht haben, dass das "Startchancen"-Programm nur Sinn ergibt als Teil einer kohärenten bildungspolitischen Gesamtstrategie von Bund und Ländern, und die muss in der Tat langfristig sein. Was das für die langfristige Finanzierung des Programms bedeutet, das haben wir offen gelassen. Aber dass es nach zehn Jahren nicht einfach vorbei sein kann, das, denke ich, haben wir sehr klar gemacht.
Ein Problem, das bislang in den Debatten über das "Startchancen"-Programm kaum vorkam, ist die Kofinanzierung, die Länder oder Kommunen werden leisten müssen.
Jungkamp: Das war uns der Kommission ein wichtiges Anliegen: darauf hinzuweisen, dass am Ende nicht die ärmeren Kommunen vom Programm ausgeschlossen sind, weil sie sich die Zuzahlung nicht leisten können. Zumal gerade die ärmeren Kommunen gerade diejenigen sind mit besonders vielen Schulen in sozial herausfordernden Lagen. Deshalb sollten die Länder prüfen, inwieweit sie bei Kommunen in Finanzschwierigkeiten ganz oder teilweise auf deren Eigenanteil verzichten und ihn übernehmen.
"Es hätte schneller gehen können mit den Startchancen. Aber wenn Bund und Länder sich jetzt zeitnah verständigen, halte ich immerhin das Schuljahr 2024/25 noch für machbar. Und das muss dann auch klappen!"
Das BMBF nennt das Schuljahr 2024/25 als Programmbeginn. Können Sie diesen zeitlichen Vorlauf nachvollziehen?
Dumont: Was wäre denn die Alternative? Nächsten Sommer? Das hielte ich für utoptisch und unseriös, denn dann wäre nichts vorbereitet und das Programm zum Scheitern verurteilt. Insofern erscheint mir die Perspektive von anderthalb Jahren durchaus realistisch – auch mit der Erfahrung der Bund-Länder-Initiative "Schule macht stark", wie lange es da gedauert hat, in die konkrete Arbeit mit den Schulen zu kommen. Im Übrigen ist mein Eindruck, dass seit ein, zwei Monaten die Gespräche zwischen Bund und Ländern Fahrt aufnehmen.
Jungkamp: Das BMBF hatte neulich zu einem Stakeholder-Workshop eingeladen, die Bundestagsfraktionen organisieren ebenfalls Diskussionen zum "Startchancen"-Programm, und das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für Sozialforschung hat gemeinsam mit der Bosch-Stiftung eine ganztägige Veranstaltung ausgerichtet.
Dumont: Offenbar ist durch die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends der Druck auf die Politik, dass bald etwas passieren muss, gestiegen.
Jungkamp: Darum finde ich schon, es hätte schneller gehen können. Aber wenn Bund und Länder sich jetzt zeitnah auf die Grundarchitektur und die Finanzierung verständigen, halte ich immerhin das Schuljahr 2024/25 auf jeden Fall noch für machbar. Und das muss dann auch klappen!
Wenn das Geld kommt und die Umsetzung klappt, wird das "Startchancen"-Programm der große Gamechanger in Sachen Bildungsgerechtigkeit?
Dumont: Wollen Sie die ehrliche oder die politisch korrekte Antwort?
Die ehrliche, bitte!
Dumont: Ich bin skeptisch. Es kommt gar nicht so sehr auf das Programm an sich an, sondern was wir bräuchten, wäre ein komplett anderes Drumherum bildungspolitischer Maßnahmen. Vor allem bräuchte es die Bereitschaft der Länder, ihr Bildungsmonitoring ganz neu zu denken. Viel engmaschiger als Vergleichsarbeiten wie Vera, die punktuell einmal am Ende der Grundschule und einmal in der achten Jahrgangsstufe eine Momentaufnahme machen. Nötig wäre ein Frühwarnsystem, eine digitale Lernverlaufsdiagnostik, die den Lehrkräften jederzeit zeigt, wenn Schüler nicht mehr mitzukommen drohen, und die zugleich geeignete Förderinstrumente beinhaltet. Viele andere europäische Länder haben das längst. Mir ist klar, dass wir dergleichen in Deutschland nicht von einem Tag auf den anderen schaffen. Wenn wir mit dem "Startchancen"-Programm aber wirklich etwas ändern wollen, sollten solche Strukturen zeitgleich entwickelt und vorangetrieben werden.
Jungkamp: Fest steht: Eine pure Beliebigkeit bei der Mittelverwendung wird nicht funktionieren. Das Motto "Macht mit dem Geld, was ihr wollt", ist zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen eine enge Begleitung der Schulen durch die Wissenschaft, durch die Landesinstitute für Schulentwicklung. Es gibt dafür ein Vorbild: das Sinus-Programm, das 1998 gestartet wurde, um den Matheunterricht zu verbessern – in Form von Netzwerken, in enger Begleitung durch die Bildungsforschung, mit anschließendem Transfer. Neulich hatte ich ein spannendes Gespräch mit dem Leiter einer Grundschule in Hamm, die eine ganz erstaunliche Entwicklung genommen hat von einer Brennpunktschule zu einem Anziehungspunkt für Schülerinnen und Schüler weit über die Stadtgrenzen hinaus. Der sagte: "Definiert konkrete Ziele für das Startchancen-Programm. Gebt uns die Mittel an die Hand, sie zu erreichen. Und dann messt ehrlich, ob wir es schaffen." Recht hat er. Ein solches Programm wie die Startchancen kann meines Erachtens nur dann erfolgreich sein, wenn eine klare Zielfokussierung vorgenommen wird und die Bereitschaft zur Evaluation besteht. Damit einher geht natürlich die Bereitschaft von Politik und Wissenschaft, gegebenenfalls auch Misserfolge einzugestehen. Beim "Aufholen nach Corona" hat der Mut in dieser Hinsicht gefehlt: beim Zielesetzen, beim Evaluieren. Hoffen wir, dass es dieses Mal besser läuft.
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