Der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern ist riesig. Aber woher kommt er? Und wie versuchen Schulen, den Kindern noch gerecht zu werden?
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VERGANGENEN SOMMER wusste Angela Keppel-Allgaier: Es geht nicht mehr. Bis dahin war die Leiterin der Hans-Küng-Gemeinschaftsschule mit ihrem Stundenplan-Team immer noch halbwegs hingekommen. Sie hatten offene Lehrerstellen mithilfe des Schulamts meist irgendwie besetzt – und wenn eine Kollegin krankheitsbedingt länger ausfiel, ließ sich immer noch etwas "zusammenschustern", wie Keppel-Allgaier das nennt. Vorbei.
Jetzt fehlen ihr so viele Lehrkräfte, dass sie für die unteren Jahrgänge einen von vier Ganztagen wegkürzen musste. Zurück zum Vormittagsunterricht. "Das geht an unsere pädagogischen Grundfesten", sagt die Schulleiterin. Was bleibt, ist eine Nachmittags-Notbetreuung für die Fünftklässler. Und wo früher in Klassen mit hohem Inklusionsanteil zwei Pädagogen in den Hauptfächern unterrichteten, ist jetzt fast immer nur noch einer übrig. Den Kunstunterricht in der Oberstufe musste Keppel-Allgaier streichen, weil sie keinen Ersatz für die dafür zuständige Kollegin erhalten hat. Und statt insgesamt vier Stunden Gemeinschaftskunde und Geschichte haben die Achtklässler jetzt nur noch zwei: das erste Halbjahr Gemeinschaftskunde, das zweite Halbjahr Geschichte.
Die Hans-Küng-Schule befindet sich nicht irgendwo abgelegen auf dem Land und auch nicht in einer der Regionen, die normalerweise vorkommen, wenn in den Medien über zu wenig Lehrer und mangelnde Unterrichtsversorgung berichtet wird. Nicht Berlin, Bremen oder Ostdeutschland ist der Arbeitsort von Angela Keppel-Allgaier, sondern die Universitätsstadt Tübingen in Baden-Württemberg.
Das, sagt Maike Finnern, zeige, wie sich der Lehrermangel mittlerweile zur bundesweiten Bildungskrise ausgeweitet habe. "Kein Bundesland kann noch von sich sagen: Das betrifft uns nicht. So wie es auch keine Familie mit schulpflichtigen Kindern mehr gibt, die das Problem massenhaft ausfallenden oder fachfremd erteilten Unterrichts nur vom Hörensagen kennt." Die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fügt hinzu: "Alle leiden, überall."
2030 fehlen 59.000 Lehrer –
vielleicht aber auch 81.000
Doch nicht alle gleichermaßen: Der größte Mangel, sagt der Bildungsforscher Olaf Köller, herrsche an den Grundschulen und den nichtgymnasialen Schulformen, "und in ländlichen Gebieten ist die Not noch viel größer als in den Städten". Am stärksten seien die Fächer Mathematik, Informatik und die Naturwissenschaften betroffen, aber längst nicht mehr nur diese, sagt Köller, der das IPN-Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel leitet und einer von zwei Vorsitzenden der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) ist. Insgesamt, sagt Köller, sei die "Situation dramatisch".
Die Zahlen sind es auch: Dem Deutschen Schulbarometer nach sehen zwei Drittel der befragten Schulleitungen im Lehrermangel die größte Herausforderung für ihre Schule. An sozial benachteiligten Standorten sind es sogar 80 Prozent. Kein Wunder: Bis Ende des Jahrzehnts könnten 59.000 Lehrerstellen bundesweit unbesetzt bleiben, prognostiziert das IW Köln. Der Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm kam in seiner Modellrechnung für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) 2022 sogar auf 81.000 Lehrkräfte, die bis 2030 fehlen könnten – während die KMK zu dem Zeitpunkt lediglich von 14.000 ausging. "Die Kultusminister unterschätzen das Problem immer noch", kritisiert GEW-Chefin Finnern.
Die Zahlen, die die KMK auf ihrer Website veröffentlicht, lesen sich global betrachtet auch gar nicht so schlimm. So waren demzufolge zum Beispiel 2021 von allen neu eingestellten unbefristeten Lehrkräften bundesweit nur 9,3 Prozent Seiteneinsteiger ohne klassisches Referendariat. Zwischen den Bundesländern sind die Unterschiede allerdings riesig, vor allem zwischen Stadtstaaten und Flächenländern und zwischen Ost und West: In Berlin waren 23,6 Prozent Seiteneinsteiger, in Brandenburg 27,6 Prozent und gar 46,9 Prozent in Sachsen-Anhalt. In Baden-Württemberg dagegen nur 8,1 Prozent. Wobei die Quereinsteiger – also die ohne Lehramtsstudium aber mit Referendariat – jeweils noch oben drauf kommen.
Ein Sprecher des Stuttgarter Kultusministeriums sagt, grundsätzlich würden in Baden-Württemberg nur vollständig ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer dauerhaft beschäftigt. "Anhand der Tatsache, dass 97 Prozent der Lehrkräfte bei uns dauerhaft und unbefristet eingestellt sind, können Sie ablesen, dass die deutliche Mehrheit voll ausgebildete Lehrkräfte sind." Was, siehe die Hans-Küng-Gemeinschaftsschule, wenig hilft, wenn die Lehrerstellen dann nicht oder nur verzögert besetzt werden.
Und ganz anders stellt sich auch die Sache mit den Quer- und Seiteneinsteigern dar, wenn man Pädagogen wie Roland Zettel Kreide fragt. Er leitet die Carl-Heinrich-Rösch-Schule für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen in Tiengen an der Schweizer Grenze. Die eine Hälfte seiner Kollegen habe Lehramt studiert, die andere Hälfte sei von ihrer Ausbildung her alles Mögliche. Ein Schreiner ist dabei, die Musiklehrerin ist eine ehemalige Bankerin, ansonsten unterrichten hier viele Heil- und Erziehungspfleger. "Da sind viele tolle Leute darunter", sagt Zettel Kreide, "echte Glücksgriffe, die Schule praxisnäher machen." Doch gleichzeitig steige der Druck auf die klassisch ausgebildeten Lehrer, denn viele der Aufgaben könnten nur sie übernehmen: Elterngespräche, etwa, die Schullaufberatung, das Schreiben von Zeugnissen. "Die Quereinsteiger können nur am Kind arbeiten, das führt auch zu Konflikten und zu Unzufriedenheit, wenn eine Hälfte des Kollegiums für nahezu alle pädagogischen Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts zuständig ist."
Derweil betont das baden-württembergische Kultusministerium: Einzelne Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) wie die Carl-Heinrich-Rösch-Schule stellten Ausnahmen dar, um die sich die Schulverwaltung besonders kümmere. Der Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) fügt hinzu: Die Schulen im Ländle seien "grundsätzlich arbeitsfähig und könnten den Pflichtunterricht überwiegend abdecken".
Ein besonders drastisches Beispiel
wenig vorausschauender Politik
Nur dass es inmitten des bundesweiten Lehrermangels eben immer mehr solche vermeintlichen Ausnahmen gibt. Bis sie irgendwann zur Regel werden. Was das bedeutet, zeigt der Blick nach Sachsen-Anhalt. Dort herrschte wie anderswo in Ostdeutschland nach der Wende ein solcher Schülerschwund, dass über viele Jahre fast gar keine Lehrer mehr eingestellt wurden. Die Kollegien überalterten. Dann vor einem Jahrzehnt der Umschwung: Die Schülerzahlen stiegen wieder, und genau zu diesem Zeitpunkt rollte die große Pensionswelle an. Ein besonders drastisches Beispiel, wie eine wenig vorausschauende Politik die heutige Misere zumindest mitverschuldet hat.
Seitdem klaffte etwa in Sachsen-Anhalt zwischen Bedarf und Neueinstellungen jedes Jahr eine Lücke. Mit dem Ergebnis, dass dort inzwischen rund 900 Vollzeit-Lehrerstellen unbesetzt sind. Eine Menge in einem Bundesland mit gerade mal 16.500 Lehrkräften. Damit muss jetzt die erst 2021 ins Amt gekommene Kultusministerin Eva Feußner (CDU) fertig werden. Zum Stichtag Ende Oktober konnten rechnerisch nur 93,5 Prozent der Unterrichtsstunden abgedeckt werden. Wobei in der Realität von den restlichen 6,5 Prozent nicht alles ausfalle, versichert Feußner: "Wir sind da kreativ und ergreifen eine Vielzahl an Maßnahmen."
Bundesweit Schlagzeilen gemacht hat Sachsen-Anhalt mit dem sogenannten 4+1-Modellprojekt: Zwölf weiterführende Schulen erproben eine Verkürzung des Präsenzunterrichts auf nur noch vier Tage pro Woche, der fünfte Tag ist fürs Distanzlernen vorgesehen oder als Praxistag in Unternehmen. "Eine Form, den Lehrermangel zu kaschieren", sagt die GEW-Landesvorsitzende Eva Gerth. Feußner entgegnet, die Initiative sei von den teilnehmenden Schulen ausgegangen, die sich pädagogisch hätten weiterentwickeln wollen. "Dass dabei der vorhandene Lehrermangel eine Rolle spielt, will ich nicht abstreiten."
Mittlerweile ist der Druck auf die Landesregierung in Sachsen-Anhalt so groß, dass Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) vergangene Woche zum Schulgipfel gerufen hatte. Die zentralen Ergebnisse: Grundschullehrer sollen mehr Geld erhalten und alle Lehrer künftig eine Stunde zusätzlich arbeiten, wahlweise gegen Bezahlung oder zur Verrechnung über ein Arbeitszeitkonto. Außerdem will die Landesregierung den Schulen Geld bereitstellen, damit diese mehr Nicht-Pädagogen zur Aushilfe einstellen können. Die GEW-Landesvorsitzende Gerth verließ den Gipfel vorzeitig: Die Unterrichtsstunde bedeute eine weitere Belastung. Im Übrigen sei das kein Dialog gewesen, "die Stunde wurde verordnet".
Im Nachbarland Brandenburg plant SPD- Bildungsministerin Britta Ernst eine Reform, die künftig sogar Bachelorabsolventen, die kein Schulfach studiert haben, als verbeamtete "Bildungsamtsfrauen- und männer" bis zu ihrer Pensionierung unterrichten lassen würde. Dafür müssen sie lediglich eine sogenannte Zertifikatsqualifizierung nachmachen. Woraufhin der Philologenverband, der die Gymnasiallehrer vertritt, zusammen mit der Hochschulrektorenkonferenz gegen einen drohenden "Wettbewerb nach unten" protestierte.
Bildungsforscher Köller warnt, die Lösung des Lehrermangels nicht mit einem Lückenstopfen um jeden Preis zu verwechseln. "Wenn Unterricht ausfällt, ist das nie gut", sagt er, schlechter Unterricht löse das Problem aber auch nicht. "Empirische Studien zeigen, dass eine hohe Unterrichtsqualität eine notwendige Voraussetzung für den Lernerfolg und die psychosoziale Entwicklung der Schüler ist."
Was aber bleibt den Kultusministern dann für eine Wahl? "Vor allem“, sagt Köller, "müssen sie belastbare Daten zu Studienverläufen von angehenden Lehrkräften gewinnen. Es mangelt nicht an vorhandenen Studienplätzen, wohl aber an belastbaren Zahlen, wie viele junge Menschen genau das Lehramtsstudium beginnen und wie viele Studierende wir im Laufe des Studiums und Referendariats verlieren." Die Folge? "Das führt zu sehr ungenauen Prognosen, wie groß die Differenz zwischen benötigten und tatsächlich erfolgreich ausgebildeten Lehrkräften ist."
Immerhin: Jetzt
tut sich etwas
Allein Mecklenburg-Vorpommern hat sich ehrlich gemacht und 2021 zum zweiten Mal unter Federführung des Rostocker Schulpädagogik-Professors Falk Radisch erheben lassen, wie viele Lehramtsstudierende unterwegs verloren gehen. Das atemberaubende Ergebnis: je nach Schulform, Schulfach und Uni zwischen 20 und 83 Prozent. Ein Hinweis, dass bei der Lehrerbildung in Sachen Studienorganisation und Studierendenbetreuung Grundsätzliches schiefläuft. Ausgerechnet da, wo am meisten Lehrer fehlen, sagt Radisch, in den MINT-Fächern und der Sekundarstufe I, blieben Studienplätze leer, die Studienzeiten seien besonders lang, besonders wenig Studierende blieben bis zum Schluss.
Wenn dann noch, wie Köller sagt, die Länder es teilweise versäumen, den zusätzlichen Lehrerbedarf durch Schulreformen wie den Ausbau des Ganztagesangebots und die Inklusion miteinzurechnen, steigert sich der Lehrermangel immer weiter. Außerdem, sagt Köller, seien die Länder durch die Zuwanderung Geflüchteter Mitte der 2010er Jahre und durch den Ukraine-Krieg überrascht worden.
Doch es tut sich etwas. Vor allem nachdem Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende und vergangenes Jahr KMK-Präsidentin, das Thema Lehrermangel endlich ganz oben auf die Agenda des Ministerklubs gesetzt hatte: Gleich zwei Expertisen haben die Kultusminister bei der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission in Auftrag gegeben. Eines, um Lehrerbildung und Bedarfsplanung langfristig so zu reformieren, dass Deutschlands Schulen nicht noch einmal in solch eine Misere hineinlaufen. Und schon diesen Freitag veröffentlicht die SWK "Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel". Denn, wie der SWK-Vorsitzende Köller sagt, "wird das Loch, in dem wir aktuell stecken, in den kommenden zehn bis 15 Jahren bei allen Bemühungen sicher nicht mit neuen qualifizierten Lehrern gestopft werden können".
Über die einzelnen Empfehlungen will er noch nicht reden – aber ganz wichtig sei, nicht nur händeringend nach neuen Lehrern zu suchen, sondern die im System vorhandenen Lehrkräfte zu stärken und sie bei unterrichtsfremden Tätigkeiten zu entlasten.
Sonst passiert nämlich das, was die Tübinger Schulleiterin Angela Keppel-Allgaier "die Abwärtsspirale" nennt. Wenn Lehrer die Schule wechselten oder länger krank würden, erhalte sie keinen Ersatz mehr. "Dann müssen die anderen Kollegen, um das Schlimmste abzuwenden, immer mehr Vertretungsstunden machen, sie geraten selbst in die Überlastung. Und wenn sie dann ebenfalls krank werden, geht es von vorn los." Am Ende des Schuljahrs sei dann eine Situation erreicht, die sich nicht mehr beherrschen lasse. "Alles, was dann noch bleibt, ist das Gefühl, den Schülern nicht mehr zu genügen."
Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung FREITAG.
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Stefan Rheinberg (Donnerstag, 26 Januar 2023 10:32)
In den Grundschulen ist das Verhältnis von Lehrern zu Klassen seit 2011 dauerhaft und seit 2016 sehr stark gestiegen (vgl. https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/schueler-innen-klassen-lehrkraefte-und-absolvierende.html (Teil A). Der Verweis auf akute, zeitgebundene Herausforderungen
verdeckt etwas, dass die Situation in der wir uns heute befinden seit Jahren absehbar ist.
Lehrerkind (Freitag, 27 Januar 2023 11:33)
Das Lehramt muss attraktiver gemacht werden - und das geht nicht (nur) über eine höhere Vergütung oder die Verbeamtung. Was habe ich von ein bisschen mehr Geld oder auch einer Verbeamtung, wenn die Infrastruktur, in der ich arbeiten soll, nicht funktioniert. Schulen brauchen eigene IT-Spezialist*innen (Schul-IT darf nicht die Aufgabe der Lehrkräfte sein) und ausreichend Sozialarbeiter*innen sowie Betreuungskräfte für den politisch ja gewollten Ganztag. Nur wenn die Lehrer*innen sich wieder auf ihren Bildungsauftrag konzentrieren können, wird der Beruf wieder attraktiv.
S.K. (Samstag, 28 Januar 2023 09:56)
Ein sehr guter Artikel, der beschreibt, wie es in der Bildungslandschaft gerade aussieht und welche Kunststücke von Schulleitungen und ihren Teams unternommen werden, um Bildung zu vermitteln. Beide Kommentare finden meine Zustimmung. Es MUSS auch für die derzeit unterrichtenden Pädagogen an Schule gedacht werden!