In Berlin befindet sich Deutschlands einziger Exzellenzverbund. Die ersten Jahre liefen nicht gut. Der Druck ist hoch: Können die Partner den Beweis antreten, dass ihre Kooperation die Wissenschaft besser macht?
Foto: Screenshot der BUA-Website.
ES WAR EINE wissenschaftliche Schlappe mitten im Wintersemester. 80 Forscher hatten im Dezember 2022 eine viel beachtete Studie in der "Science" über die Entstehung der Omikron-Variante in Afrika veröffentlicht, unter der Federführung eines Charité-Wissenschaftlers. Drei Wochen später die Mitteilung: Man habe festgestellt, dass Teile der untersuchten Proben verunreinigt gewesen seien, die Studie wurde zurückgezogen. Am betroffenen Charité-Institut für Virologie äußerte man sich intern "schockiert".
Und doch könnte ausgerechnet dieser Fall sich als Gelegenheit erweisen für die Berlin University Alliance (BUA), dass sie für Lernprozesse und Qualitätsverbesserung in der Forschung steht. Das Thema hat Gewicht: Zum einen, weil darüber aktuell eine wachsende Bewegung von Forschenden weltweit entsteht.
Zum anderen, weil es für die BUA eine Profilierungschance ist, jenen Exzellenzverbund der drei großen Berliner Universitäten und der Charité, der seit 2019 jedes Jahr mit zweistelligen Millionenbeträgen von Bund und Ländern gefördert wird. Der aber in den ersten Jahren seines Bestehens häufig durch das Gezerre seiner Partner um Governance, Strategie und Zuständigkeiten von sich reden machte – und dann mit Stellenstopps als Reaktion auf Berlins neues Hochschulgesetz.
Das für Außenstehende eher bürokratische anmutende Thema "Qualitätsverbesserung" haben sich die drei Berliner Unis und die Charité als eine Priorität gesetzt: Man wolle "als Partner Forschungsprozesse und -ergebnisse verbessern und dafür ganz neue Wege zu gehen", sagt der Charité-Neurologe Ulrich Dirnagl.
Damit nach sieben Jahren nicht
Schluss ist mit dem Exzellenzglanz
Gelingt es dem Verbund, hier Pionierarbeit zu leisten, könnte die misslungene Omikron-Studie also in eine Erfolgserzählung eingebettet werden. Diie braucht die BUA: Soll nach sieben Jahren nicht Schluss sein mit dem Exzellenzglanz, muss sie den internationalen Gutachtern bei der im August 2025 beginnenden Evaluation glaubhaft präsentieren, warum sie unverzichtbar ist – und zwar nicht nur für Berlin, sondern für Deutschlands Wissenschaftssystem insgesamt.
Dirnagl leitet das QUEST Center for Responsible Research am Berlin Institute of Health und gehört zum vierköpfigen Leitungsgremium des "Objective 3" der BUA. Die gesamte BUA-Mission ist in fünf Ziele unterteilt, in Wissenschaftsantrags-Englisch "Objectives" genannt. Das dritte ("Advancing Research Quality and Values") stellt Fragen, die in der Wissenschaft und speziell in der Medizin viele seit Jahren immer mehr umtreiben: "Was macht gute Forschung aus? Wie lässt sich die Qualität der Forschung und ihrer Ergebnisse bewerten und nachhaltig sicherstellen?" Es geht um das Selbstverständnis von Forschenden, um wissenschaftliches Ethos, um Werte – und die Veränderung gewohnter Abläufe und Anreizsysteme.
"Das Thema, gute Wissenschaft zu machen, Klasse anstelle von Masse zu setzen, ist ein ganz zentraler Ansatzpunkt. Die Qualität von Forschung hat im Exzellenzwettbewerb eine überragende Stellung – und damit auch für die BUA", sagt Geraldine Rauch, Präsidentin der Technischen Universität (TU) Berlin und Sprecherin der Allianz.
Für die BUA ist es zugleich eine Flucht nach vorn. Die Online-Plattform Vroniplag Wiki listet allein für die Charité 34 Doktorarbeiten und Habilitationen auf, deren Urhebern sie Täuschung vorwirft, für die Freie Universität fünf, für die Humboldt-Uni sieben, für die TU zwei. Seit Anfang der 2000er Jahre macht zudem vor allem in der Medizin und Psychologie international der Begriff einer "Replikationskrise" die Runde: Allzu oft würden Forschungsergebnisse veröffentlicht, die sich durch andere Wissenschaftler nicht wiederholen ließen – entweder weil die Versuchsanordnung nicht hinreichend beschrieben gewesen sei – oder aber trotz exakter Nachahmung zu ganz anderen Resultaten führten.
Die gefährliche Fahrt
im Karussell der Reputation
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wies in einer Stellungnahme 2017 darauf hin, dass Nicht-Replizierbarkeit nicht immer mit schlechter Wissenschaft gleichzusetzen sei. Zugleich betonte sie, dass Gründe für Nicht-Replizierbarkeit auch struktureller Natur seien, "wie beispielsweise der steigende Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck im Wissenschaftssystem".
Es ist ein gefährlich einseitiges Reputationskarussell: Je mehr möglichst beeindruckende Forschungsergebnisse, desto mehr Publikationen in bekannten Fachjournals, desto mehr Zitationen, zuletzt auch mehr Erfolg bei Bewerbungen um Forschungsgelder und attraktive Wissenschaftlerpositionen. Die Forderung "mehr Qualität, weniger Quantität" ist allgegenwärtig, und doch zählen am Ende wieder die Veröffentlichungen und die Höhe der Drittmittel. Auch die Hochschullehre leidet unter dieser Logik.
Wie aber ändert man ein solches System? Martin Reinhart, einer der Vordenker hinter dem BUA-Objective 3, ist überzeugt: Nicht von außen, nicht von oben, sondern primär von innen, "und indem man im Forschungsalltag den Beweis antritt, dass es anders geht". Reinhart, Direktor des Robert K. Merton Zentrums für Wissenschaftsforschung (RMZ) an der Humboldt-Universität, sagt: "Als der frühere Berliner Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner vor ein paar Jahren sagte, viele der BUA-Ziele hätten auch andere Universitäten, aber Objective 3 sei ein echtes Alleinstellungsmerkmal, war ich zuerst erstaunt. Dann aber dachte ich: Er hat Recht." Bis heute, sagt Reinhart, kenne er auch international keinen zweiten Universitätsverbund, der sich das Thema Forschungsqualität auf die Fahnen geschrieben habe, "obwohl alle immerzu darüber reden".
Was aber bedeutet das praktisch? Sybille Hinze leitet das "Center for Open and Responsible Research (CORe)", das die BUA eingerichtet hat, um das große Ziel koordiniert voranzutreiben. Wenn man sie nach konkreten Projekten fragt, betont sie zunächst, dass man sich noch "in einer sehr frühen Phase" befindet, kann dann aber doch auf eine ganze Liste an Projekten verweisen, die durchaus Gewicht hat.
Wie nehmen die Forschenden
die Situation wahr?
Darunter eines, das trivial scheinen mag, aber folgenreich sein dürfte: Die BUA hat Berliner Wissenschaftler:innen dazu befragt, wie sie selbst den Forschungsprozess wahrnehmen und an welchen Zielen sie ihre Arbeit ausrichten. Dieser "Berlin Science Survey", soll regelmäßig wiederholt werden, um Trends abzubilden. Bleibt es zum Beispiel dabei, dass wie in der ersten Befragung Ende 2021 die mit Abstand meisten Wissenschaftler sagen, in Bezug auf ihren Publikationsoutput laste der größte Erwartungsdruck auf sie? Und wird auch in ein paar Jahren noch "Open Science" ganz am Ende der Prioritätenliste rangieren? "Wenn wir etwas erreichen“, sagt Reinhart, "dann wird sich hier der Kulturwandel ablesen lassen".
"Open Science" beschreibt als Ideal und Forderung so ziemlich alles, was die BUA sich vorgenommen hat. Öffnet sich die Wissenschaft, indem Forschende ihre Daten grundsätzlich transparent und zugänglich machen? Indem ihre Publikationen ohne zusätzliche Gebühren für alle zur Verfügung stehen? Indem sie die Öffentlichkeit in die Formulierung ihrer Forschungsstrategie einbeziehen – und sie sogar, wo sinnvoll, an der Forschung selbst beteiligen? Und sind die Disziplinen auch viel stärker als bislang bereit und in der Lage, über Fachgrenzen hinweg zu kooperieren?
Beispiel Omikron-Studie: Zwar wurde sie zurückgezogen, was für die Beteiligten spricht – doch erst nachdem verschiedene nicht beteiligte Kollegen Zweifel äußerten. Und warum wurde die Studie nicht vorab zur Begutachtung auf einem Preprint-Server veröffentlicht?
Sybille Hinze sagt, der institutionelle Kulturwandel könne nur graduell geschehen. Als Verbund erreiche man ihn auf zweierlei Weise: erstens durch den Austausch zwischen den Partnern, die je nach Aspekt unterschiedlich weit seien und voneinander lernen könnten. Und zweitens: indem die BUA selbst neue Projekte anstoße.
Ein praktisches Beispiel für erstens, das Lernen voneinander, sagt Neurologe Dirnagl, sei das neue Onlineportal für potenzielle neue Professoren, das sie an der Charité schon 2017 eingeführt haben. "Wer sich bei uns bewerben will, muss erst auf eine Reihe von Fragen antworten." Etwa, wie er oder sie in ihrer Arbeit bereits Aspekte von "Open Science" umgesetzt habe. Auch dürfe man wie von der DFG gefordert nur noch maximal fünf Publikationen angeben – müsse die aber als Volltext zugänglich machen und erklären, was diese Arbeiten inhaltlich besonders mache. "Die anderen BUA-Universitäten sind an unseren Erfahrungen äußerst interessiert."
Die größte Hürde: Leistung
anders und fairer bewerten
Wenn Dirnagl dann zu zweitens kommt, den ganz neuen BUA-Projekten, redet er plötzlich schneller. Vielleicht, weil es, wie er sagt, "einen Match gibt zwischen meinen eigenen Idealen, dem was wir als BUA vorhaben und den zehn Prinzipien, die COARA formuliert hat".
Noch so eine Abkürzung: COARA. Sie steht für "Coalition for Advancing Research Assessment", 441 Wissenschaftsorganisationen aus der ganzen Welt, die sich zu einer grundlegenden Veränderung der Bewertungslogik wissenschaftlicher Qualität bekennen. Angestoßen von der EU-Kommission, dem europäischen Hochschulverband EUA und Science Europe, wollen die COARA-Unterzeichner neue qualitative Maßstäbe definieren, die auf den tatsächlichen Impact von Forschungsergebnissen schauen – und auf die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind. Wobei ein besonderer Wert auf Diversität, Inklusion und Zusammenarbeit gelegt – und die "unangemessene Nutzung" quantitativer Publikationsindizes verurteilt wird.
Heinz G. Fehrenbach, einer der Mitbegründer des "Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft", sagt, sein erster Eindruck sei, die BUA nehme sich des Themas "Integrität der Forschung" durchaus ernsthaft an, wichtige Aspekte "wie Machtmissbrauch, Abhängigkeitsverhältnisse von Promovierenden und Postdocs oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse" würden aber nicht explizit adressiert.
Eine bewusste Entscheidung der BUA-Macher, weil sie sich dann die Unterstützung vieler gestandener Professoren aufs Spiel setzen würden, die um ihren Einfluss fürchten? Nein, heißt es aus dem Verbund: Das Thema sei zwar nicht explizit Teil der Agenda, aber wenn der Verbund seine ausformulierten Ziele erreiche, habe das natürlich massive Auswirkungen auf die bestehenden Machtstrukturen. TU-Präsidentin Geraldine Rauch sagt: "Was wir anstoßen, birgt den Keim für eine ganze Wissenschaftsrevolution: Wissenschaftlerkarrieren würden auf ganz anderen Grundsätzen aufbauen."
Noch ist es nicht so weit. Und es besteht die Gefahr, dass die BUA sich in der Abstraktheit ihrer riesigen Ambitionen verlieren könnte. Dass sie nicht in der Lage sein wird, die Widersprüche des Objective 3 aufzulösen: Ein Kulturwandel geht nur langfristig, aber den Exzellenzstrategie-Gutachtern muss man schon Ende 2025 handfeste, ja quantifizierbare Ergebnisse liefern. Es ist das womöglich größte Paradox: der Wettbewerbslogik des Exzellenzwettbewerbs folgend zu belegen, dass man erfolgreich darin ist, der Wettbewerbslogik im Wissenschaftssystem eine Alternative entgegenzustellen: das Streben nach nachhaltiger Forschungsqualität.
Dieser Artikel erschien heute in einer kürzeren Fassung zuerst im Tagesspiegel.
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Frank Müller (Montag, 30 Januar 2023 13:35)
John Ioannidis in Stanford macht das seit 20 Jahren. Dirnagl an der Charité hat das nur kopiert.