Deutschlands Hochschulen brauchen endlich eine neue Prüfungskultur. Die Künstliche Intelligenz ChatGPT könnte der letzte Tropfen sein, der das Prüfungsfass zum Überlaufen bringt. Ein Gastbeitrag von Jannica Budde und Jens Tobor.
"SCHUMMELN MIT KÜNSTLICHER INTELLIGENZ" (BZ), "Angst vor Schummelei" (Merkur), "Verbot von ChatGPT an Hochschule" (Stern): Viele der Medienreaktionen auf den Release des KI-Sprachassistenten erinnern an die Diskussion vor drei Jahren, als die Corona-Pandemie es notwendig machte, Klausuren in Distanz-Settings zu verlegen.
Auch damals konzentrierten sich große Teile der Öffentlichkeit auf das Narrativ von der Schummelei und stellten Studierende unter generellen Täuschungsverdacht. Natürlich gab es bezüglich der Online-Prüfungen berechtigte Sorge, die Chancengleichheit zu wahren. Da an vielen Hochschulen Maßnahmen wie Online-Proctoring, also die digitale Prüfungsaufsicht mittels spezieller Software oder Webcams, sehr kritisch gesehen wurden, war eine Hinwendung zu offenen, stärker kompetenzorientierten Prüfungsformen auszumachen, die, analog zu Hausarbeiten, Texte, eigene Notizen und digitale Werkzeuge zuließen. Gleichzeitig wurde viel über Prüfungen gesprochen und gestritten. Eine neue Prüfungskultur schien am Horizont auf.
Jens Tobor ist Projektmanager für das Hochschulforums Digitalisierung am Centrum für Hochschulentwicklung. Er befasst sich mit den Auswirkungen von KI auf das Hochschulsystem, insbesondere im Kontext des Prüfungswesens.
Jannica Budde ist Senior Projektmanagerin für das Hochschulforum Digitalisierung. Seit 2020 beschäftigt sie sich mit dem Prüfungsthema vor allem aus strategischer Perspektive.
Fotos: CHE/Sirko Junge.
Mit der Rückkehr der Präsenzlehre an den Hochschulen war jedoch auch eine Rückkehr zu den alten geschlossenen Aufsichtsklausuren auszumachen. Selbst kompetenzorientierte Formate wie Prüfungen mit Drittapplikationen haben an manchen Standorten wieder an Bedeutung verloren. Man denke an Informatikklausuren, die nicht mehr in der Programmierumgebung, sondern wieder mit Stift und Papier geschrieben werden! ChatGPT droht jetzt, diesen Rückwärtstrend noch zu verstärken, wenn fälschlicherweise angestrebt wird, an gegenwärtigen Prüfungsweisen rigide festzuhalten.
Doch Deutschlands Hochschulen kommen nicht mehr darum herum, Antworten auf die Frage zu finden, welche Rolle Prüfungen (mit Rechtsfolge) in nicht allzu ferner Zukunft in Lernprozessen einnehmen sollen. Ob KI oder computergestütztes Prüfen, die Digitalisierung stellt liebgewonnene Traditionen, Routinen und Überzeugungen – kurz die bestehende Prüfungskultur an Hochschulen – in Frage, wenn Wissensklausuren einfach per Knopfdruck gelöst werden können. Eine Diskussion darüber, wie Schummelversuche verhindert und der Gebrauch von KI gar eingedämmt werden kann, führt jedoch in die falsche Richtung.
Fokus auf die
Kompetenzen
Um dies zu verdeutlichen, ein kleines Beispiel: Dass ChatGPT den theoretischen Teil der US-Medizinexamen (USMLE) bestanden hat, führt nicht dazu, dass die KI erfolgreich Menschen operieren kann. Genauso wenig wären dazu die Absolvent:innen des Medizinstudiums in der Lage, hätte man sie einzig und allein auf das Bestehen des Theorieteils vorbereitet. Erst der Praxisanteil in der medizinischen Ausbildung vermittelt diese Kompetenzen.
Was in der Medizin sofort einleuchtet, gilt auch für andere Fächer: weniger Wissensprüfungen, mehr kompetenzorientierte, praxisnahe Prüfungen. Das ist schon heute relevant, wird aber durch KI noch viel wichtiger werden. Denn die unmittelbare Bereitstellung von Wissen wird in Zukunft viel selbstverständlicher über KI-Tools erfolgen. Dies wird die Arbeitswelt und viele Tätigkeitsprofile verändern und auch das Verständnis von Hochschulbildung umkrempeln.
Damit die Hochschulen ihren akademischen Bildungsauftrag in Zukunft erfüllen können, müssen sie sich folgende zwei Fragen stellen: Welche Kompetenzen werden in einer KI-geprägten Lebens- und Arbeitswelt essenziell? Wie können Prüfungen so gestaltet werden, dass diese Kompetenzen zu Gunsten der individuellen Weiterentwicklung der Studierenden beurteilt werden?
Vision einer neuen
Prüfungskultur
Die Antworten auf diese beiden Fragen zielen unmittelbar auf den notwendigen Wandel der Prüfungskultur ab. Nur auf dem Boden einer neuen Kultur können Gedanken und Ideen zur erforderlichen Umgestaltung des Prüfwesens gedeihen.
Wie wäre es also, wenn eine neue Prüfungskultur
o den Weg zu einem zielgerichteten und kritischen Umgang mit KI-Tools ebnet, indem die Tools in die Prüfungen einbezogen werden. Man denke zum Beispiel an Open-AI-Prüfungen, analog zu Open-Book- oder Open-Web-Prüfungen. Zielgerichtet bedeutet hier, die KI so zu nutzen, dass der gewünschte Output erzeugt wird, um ihn im nächsten Schritt einer kritischen Beurteilung zu unterziehen.
o den Erwerb der Kompetenzen befördert, die typisch menschlich sind und sich durch KI nur unvollständig simulieren lassen (zum Beispiel Empathie, Kreativität, soziale Intelligenz und kritisches Urteilsvermögen).
o eine studierendenzentrierte und transparente Gestaltung von Prüfungen selbstverständlich macht. Transparenz können Lehrende dadurch herstellen, indem sie etwa explizite Regeln zum Gebrauch von KI-Tools aufstellen (siehe Rules for Tools von Christian Spannagel).
Hochschulinterner Austausch
und eine Ermöglichungskultur
Bleibt die Frage, wie der Wandel herbeigeführt werden kann. In aller Kürze möchten wir hier zwei zentrale Elemente hervorheben:
Erstens: Den hochschulinterne Austausch mit allen Statusgruppen – Lehrende, Studierende, IT, Didaktik, Verwaltung und Prüfungsamt – und zwar auf Augenhöhe. Beispielsweise in Form von Hackathons, Strategieworkshops, und niedrigschwelligen Lunchtimes.
Zweitens: Eine Ermöglichungskultur in Form funktionierender Prüfungsinfrastruktur und dynamischer Prüfungsordnungen, die Mindeststandards setzen und gleichzeitig Offenheit gewährleisten.
Wenn die Hochschulen diesen Weg einschlagen, wird sich eine neue Prüfungskultur positiv auf alle Hochschulakteur:innen auswirken. Passiert nichts, verlieren alle.
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Jakob Wassink (Mittwoch, 15 März 2023 11:35)
1. Aus meiner nunmehr 20-jährigen Erfahrung mit Prüfungen in modularisierten Studiengängen glaube ich nicht, dass KI und ChatGPT an der gegenwärtig vorherrschenden Prüfungspraxis etwas ändern werden. Papierbasierte schriftliche Aufsichtsarbeiten bieten ein hohes Maß an Rechtssicherheit und kein gesteigertes Täuschungsrisiko durch KI.
2. Eine Veränderung der Prüfungskultur wird nicht ohne Druck von außen gelingen. Es ist für mich schwer erklärlich, dass Rechtsvorgaben wie die Modularisierung und Kompetenzorientierung im hochschulinternen Diskurs und in Akkreditierungsverfahren zu bloßen Lehrformeln verkommen.
3. Die Ermöglichungskultur gibt es ebenso wie die notwendige Offenheit in Prüfungsordnungen. Sie ist aber nicht zielführend bzw für veränderungsbereite Lehrende maximal frustrierend, solange Studiengänge weiterhin aus dem Dualismus von Vorlesung und anschließender Klausur bestehen dürfen.
Carola Jungwirth (Mittwoch, 15 März 2023 13:56)
Vielen Dank für den Beitrag. Die Frage, die Sie aufwerfen, gehört zu den spannendsten derzeit. Ich ermutige meine Studierenden Chat GPT für Haus-, Seminar- und Abschlussarbeiten zu nutzen, kann mir aber Klausuren damit noch nicht vorstellen. Ihr eigenes Beispiel („Dass ChatGPT den theoretischen Teil der US-Medizinexamen (USMLE) bestanden hat, führt nicht dazu, dass die KI erfolgreich Menschen operieren kann.“) ist aus meiner Sicht hier ein gutes Argument. In den Wirtschaftswissenschaften operieren wir zwar nicht, aber wir brauchen unsere Theorien als sofort aktivierbares Werkzeug für Analyse- und Prognoseprozesse. Dazu müssen sie schnell abrufbar und intensiv internalisiert worden sein. Ohne eine jederzeit aktivierbare Wissensbasis hilft Chat GPT nichts. Und die bereitzustellen, sehe ich schon als Aufgabe der Hochschulen. Dass wir mehr Variation in den Prüfungsformaten brauchen und der Dualismus Vorlesung - Klausur (@Jakob Wassink) nur eine von mehreren Prüfungsformen sein können, da bin ich voll bei Ihnen.
Klaus Diepold (Mittwoch, 15 März 2023 17:10)
Eine geänderte Philosophie bei Prüfungen ist schon lange überfällig. Viele Änderungen in den im Text angedeuteten Richtungen sind vorstellbar. Manche sinnvollen Prüfungsverfahren, vor allem die praxisorientierten kommen im Kontext von großen Studierendenzahlen in Schwierigkeiten (been there, done that, got a T-shirt).
Aber, wie auch schon im Text angedeutet wurde, es müssen die Grundlagen der Rechtssicherheit angepackt werden. Viele interessante Prüfungsformate werden nicht umgesetzt, weil die Rechtsabteilung Einspruch erhebt und die Uni Angst vor Klagen durch die Studierenden hat. Also gilt es auch die Rechtsfolge von Prüfungen zu klären und den Raum für Neuerungen bei den Prüfungen zu öffnen.
Tobias (Freitag, 17 März 2023 10:07)
Tja, und dann lese ich "hochschulinterne(r) Austausch" & "Ermöglichungskultur" und ahne bereits welche Ressource mal wieder dezent uebersehen wird: Zeit. Meetings, Workshops oder das tatsächliche ändern von Pruefungsformaten und deren Bewertung sind fantastische Zeitfresser und bedeuten erstmal sehr viel Mehrarbeit fuer Menschen, die alle gerne 100% ausgelastet sind. Was muss ich denn *weniger* machen, wenn ich mich auf diese Herausforderungen einlasse? Studierende muessen fair, effektiv, transparent & rechtssicher Noten bekommen-dieses Semester, nächstes auch usw. nach "mehr" und "flexibel" rufen ist immer einfach wenn jedes Semester tausende Pruefungsereignisse an der Uni statt finden