Die Kultusminister haben eine Abitur-Reform beschlossen. So berechtigt sie im Kern ist, muss die entscheidende öffentliche Debatte jetzt noch folgen: Wie lässt sich die nötige Vergleichbarkeit erreichen, ohne Bildungswege zu sehr zu standardisieren?
JETZT IST ES OFFIZIELL. Die Kultusminister haben am Donnerstag eine grundlegende Reform des Abiturs beschlossen, sie soll von 2027 an gelten und sich von 2030 auf die Abiturnoten auswirken. Die Reaktionen auf das Vorhaben fielen schon im Vorfeld teilweise sehr heftig aus – und extrem unterschiedlich.
Die Berufsvertretung der Gymnasiallehrer zeigte sich hoch erfreut. Damit sei "nicht alles, aber viel von dem erreicht worden, wofür der Deutsche Philologenverband seit Langem eintritt", sagte die DPhV-Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing. Die Reform führe zu einer höheren "Vergleichbarkeit und Bildungsgerechtigkeit beim Abitur".
Umgekehrt hatte sich schon vor Monaten gegen die Pläne ein Protest-"Bündnis für ein zukunftsfähiges Abitur" formiert: "Vorhandene Gestaltungsräume der Schulen und vielfältige Reformansätze" würden eingeschränkt. Es werde nur noch sehr wenig Raum für Innovation bleiben, kritisierten zahlreiche Verbände, Gewerkschaften und Initiativen von Pädagogen, Eltern und Schülern. "Gibt es dadurch auch mehr Bildungsgerechtigkeit?"
Den Kultusministern war im Vorfeld auch Geheimniskrämerei vorgeworfen worden. Sie hätten ihre Reformpläne hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, obwohl diese so weitreichende Folgen für die Bildung künftiger Abiturientengenerationen hätten. Für die vermisste Transparenz hatten die Proteste des Bündnisses dann immerhin gesorgt – mit dem Ergebnis, dass die kompletten Pläne der Kultusministerkonferenz (KMK) schon Tage und Wochen vor der entscheidenden Sitzung durchgesickert waren.
Eine grundsätzlich andere Wahl
hatten die Kultusminister nicht
Den Vorwurf eines wenig partizipativen und nur widerwillig kommunizierten Entscheidungsprozesses muss sich die KMK – wie eigentlich fast immer – gefallen lassen. Dass die Kultusminister eine grundsätzliche Wahl gehabt hätten, ihre Reform ganz anders anzulegen – oder dies auch nur sinnvoll gewesen wäre, muss man hingegen bezweifeln.
Denn 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht per Grundsatzentscheidung festgestellt, dass die bundesweite Vergleichbarkeit der Abiturnoten nicht gegeben sei. Zwar bestünden gegen die grundsätzliche Sachgerechtigkeit der Abiturnote als Eignungskriterium beim Numerus Clausus keine verfassungsrechtlichen Bedenken, doch müssten dafür die nötigen Ausgleichsmechanismen über die Ländergrenzen hinweg gegeben sein.
Eine Klatsche für den Bildungsföderalismus, auf welche die Kultusminister in ihrem 2020 geschlossenen neuen Bildungsabkommen reagierten und beschlossen, die Regeln für die Abiturprüfungen stärker angleichen zu
wollen: durch die Ausweitung des länderübergreifenden Aufgabenpools auf zusätzliche Fächer, eine höhere verpflichtende Entnahmequote und die Bestimmung der Prüfungsbedingungen inklusive
Bearbeitungszeit und erlaubten Hilfsmitteln.
Die am Donnerstag beschlossene Reform ist nun ein weiterer Bestandteil des Abitur-Versprechens, indem sie die vier Schulhalbjahre vor dem Abitur, die sogenannte Qualifikationsphase, in die Vereinheitlichung einbezieht. So soll die Zahl der sogenannten Leistungskurse auf zwei bis drei pro Bundesland beschränkt werden (zurzeit sind es bis zu vier). Außerdem sollen in den vier Halbjahren 40 Kurse verpflichtend belegt werden müssen, von denen 36 in die Abinote einfließen müssen. Bislang sind es je nach Bundesland deutlich weniger. Auch gibt es künftig eine einheitliche Vorgabe für die Zahl und die Gewichtung von Klausuren, und das sowohl in den Leistungs- wie in den Grundkursen. Und die Fächer Biologie, Chemie und Physik müssen als Grundkurse überall mit drei Stunden unterrichtet werden.
Das Ziel muss sein, formale und inhaltliche
Bildungsgerechtigkeit zusammenzubringen
"Jetzt kann ich von Sylt nach Zittau ziehen, und alles wird gut", sagte KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse in Richtung von Schülern und ihren Eltern. Eine erstaunlich selbstbewusste Ansage. Die gefundene Lösung sei "sehr einheitlich".
Während der Philologenverband die KMK lobte, geht die Reform dem Deutschen Lehrerverband nicht weit genug. Das seien nur "Trippelschritte", befand Lehrerverband-Präsident Heinz-Peter Meidinger. Während das "Bündnis für ein zukunftsfähiges Abitur" in seiner "Potsdamer Erklärung" nicht mehr Vereinheitlichung, sondern mehr Freiheit für die Schulen forderte: "Der Weg zum Abitur wird der Heterogenität der Schülerschaft nicht gerecht und lässt in der bisherigen Form kaum Möglichkeiten für individuelle Bildungswege."
Die Kultusminister werden angesichts solcher Sätze die Schultern zucken und nicht nur das Verfassungsgericht, sondern auch die Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit hinter sich sehen – die sich in der Vergangenheit sogar immer wieder für ein Bundeszentralabitur ausgesprochen hatte. Davon allerdings sind die am Donnerstag beschlossenen Vorgaben nun wirklich immer noch weit – zu weit? – entfernt.
Eines allerdings wäre in der Tat wichtig: Dass die Kultusminister sich verspätet doch noch auf eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Abiturs einlassen. Denn das Kernanliegen des
Protest-Bündnisses ist ja richtig: Wie kann es gelingen, in einer Zeit großer Veränderungen die Individualität und die Kreativität der jungen Generation zu fördern – und nicht durch starre
Schullaufbahnvorgaben zu stark einzuschränken?
Das Ziel jeder Abiturdebatte muss daher sein, beides zusammenzubringen: Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung des eigenen Bildungswegs und bundesweit faire und vergleichbare Abiturregeln. Nur dann sind zwei entscheidende Aspekte von Bildungsgerechtigkeit erfüllt: der inhaltliche und der formale.
Die Kultusminister werden argumentieren, genau das getan zu haben. Tatsächlich weist das, was die KMK vorgelegt hat, durch die Mischung aus Vorgaben und Spielraum in die richtige Richtung. Und trotzdem: Die vorgestellte Reform kann und wird nicht das letzte Wort sein.
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