Deutschland hinkt hinterher bei der Nutzung von Forschungsdaten. Oft muss dafür das Europarecht als Begründung herhalten. Die Ampelkoalition will der Wissenschaft jetzt mit einem neuen Gesetz mehr Spielraum verschaffen. Kann das gelingen?
MAN STELLE SICH VOR, jeder Bürger hätte eine individuelle Daten-ID, und die Arbeitsagenturen würden sie genauso zum Abspeichern seiner Daten nutzen wie die Krankenkassen oder die Hochschulen. In Deutschland spräche man schnell vom "gläsernen Bürger", in manch anderem Land von einer gelungenen Verknüpfung unterschiedlicher Datenbanken. Die gerade für die Forschung völlig neue Möglichkeiten eröffnen würde.
Die Mentalitäten unterscheiden sich, die Rechtslage dagegen nicht. Seit 2018 gilt in der gesamten Europäischen Union dieselbe Datenschutz-Grundverordnung, die DSGVO. Doch während in Skandinavien, Österreich oder anderen Ländern Wissenschaftler zu Forschungszwecken Zugang zu vielen Daten von Ämtern, Behörden oder Unternehmen erhalten, wird ihnen dieser in Deutschland noch allzu oft mit Verweis auf den Datenschutz verwehrt. Obwohl man die Daten so verpacken kann, dass kein Rückschluss auf die Identität einzelner Personen möglich ist.
Das hat Folgen. Je weiter die Digitalisierung fortschreitet, je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto veritabler wird Deutschlands Rückstand als Forschungsstandort. Als Biontech den Aufbau eines Forschungszentrums in Großbritannien ankündigte, sagte Firmenchef Ugur Sahin, in der Corona-Zeit hätten dort Nationaler Gesundheitsdienst, Forschungseinrichtungen, die Aufsichtsbehörde und der Privatsektor "beispielhaft zusammengearbeitet".
Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht vom
Goodwill oder dem Mut in den Behörden abhängen
Geht so etwas auch in Deutschland? Jedenfalls hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag ein Forschungsdatengesetz versprochen, das den Zugang zu Forschungsdaten für die öffentliche und die private Forschung "umfassend verbessern sowie vereinfachen" soll. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fordert denn auch in einer aktuellen Stellungnahme zum Gesetzesvorhaben, da die öffentlich finanzierte Forschung und Lehre grundsätzlich dem Gemeinwohl dienten, "sollte ein privilegierter Zugang zu Daten aus anderen Sektoren gewährleistet werden". Voraussetzung sei der "Abbau von rechtlicher Fragmentierung im Datenschutz", insbesondere durch eine einheitliche Auslegung der DSGVO". Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht mehr vom Goodwill oder dem Mut in den Ämtern abhängen, die auf den Daten sitzen.
Um einen "diskriminierungsfreien Zugang" zu Daten zu erreichen, sei das Forschungsdatengesetz dringend nötig, sagte auch die Vorsitzende des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD), Monika Jungbauer-Gans, bereits im Dezember hier im Blog.
Die Verknüpfung verschiedener Datenbanken und die Zugangsregelung für die Forschenden könnte als eine Art Treuhänder das nationale Dateninstitut übernehmen, das die Ampel ebenfalls in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat. Doch lassen die bereits vorliegenden Empfehlungen der von den zuständigen Bundesministerien eingesetzten Expertenkommission viele in der Forschungscommunity eher skeptisch auf das Projekt blicken: Zu wenig von der Wissenschaft her gedacht sei es, zu politisiert und kaum dazu geeignet, das fragmentierte deutsche Datenökosystem zusammenzuführen.
Zu dem übrigens auch die Unternehmen gehören mit ihren Datenbanken, die bislang kaum für die Forschung geöffnet sind. Dabei sind zum Beispiel für Sozialwissenschaftler das Nutzerverhalten und die Demographie in den sozialen Medien enorm aufschlussreich. Umgekehrt ist es nachvollziehbar, dass die Wirtschaft eifersüchtig über ihren – bares Geld werten – Informationsschatz wacht.
Nach dem drohenden Reinfall beim Dateninstitut
nun ein Erfolg beim Forschungsdatengesetz?
"Denn weder ist klar, wer in diesem Fall für Datensicherheit und -schutz Verantwortung trägt, wie also sichergestellt wird, dass Daten nicht an Wettbewerber gelangen, und wer den Aufwand der Datenbereitstellung trägt", erklärte der Generalsekretär des Stifterverbandes, Volker Meyer Guckel ebenfalls hier im Blog. Weshalb anstelle einer Verpflichtung der Unternehmen zum Datenteilen ein "ForschungsdatenERMÖGLICHUNGSgesetz" nötig sei, "das Datenspenden rechtssicher macht und gegebenenfalls finanziell belohnt".
Nachdem aber schon das Dateninstitut aus Sicht der Wissenschaft ein Reinfall zu werden droht, kann das beim Forschungsdatengesetz anders werden? Die DFG, der RatSWD und andere hoffen – und äußern ihre Erwartungen mit zunehmender Dringlichkeit.
Am Ende jedoch geht es eben weniger um Gesetze und Verordnungen als um Mentalitäten. Anders ist nicht zu erklären, dass die Kultusministerkonferenz zwar vor rund 20 Jahren die Einführung eines Bildungsregisters beschlossen hat, das als Vollerhebung Aussagen zuließe über das, was die Menschen in Deutschland lernen und wie ihr Bildungserfolg mit der Herkunft und wesentlichen Lebensereignissen zusammenhängen. Dass dieses Bildungsregister aber in mehreren Bundesländern bis heute nicht umgesetzt wurde. Keine DSGVO würde sie daran hindern.
Dieser Kommentar erschien zuerst in kürzerer Fassung in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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