Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, findet, die Gesellschaft habe die Solidarität der Jugend und der Studierenden während der Pandemie nicht erwidert.
Alena Buyx wünscht sich mehr Gesten der Anerkennung für die junge Generation. Foto: Kay Herschelmann.
Frau Buyx, der Deutsche Ethikrat, dessen Vorsitzende Sie sind, hat Ende 2022 eine ad-hoc-Empfehlung zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht. Wie geht es den jungen Menschen in Deutschland?
Alena Buyx: Natürlich handelt es sich nur um einen Aspekt der Gesundheit, aber diesen haben wir in den Fokus gerückt, weil wir gesehen haben: Die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen hat nachweislich gelitten in der Corona-Pandemie. Darum erschien es uns als eines der dringlichsten Themen. Erfreulicherweise wurden bald nach unserer Stellungnahme neue große Studien veröffentlicht, die gezeigt haben: Die Psyche der jungen Menschen erholt sich bereits wieder. Allerdings nur ein Stückweit. Insgesamt geht es den Kindern und Jugendlichen mit Blick auf psychische Gesundheit immer noch schlechter als vor Corona.
Manche Experten sprechen von einer Mental-Health-Krise der Jugend.
Die Lage ist durchaus besorgniserregend. Ich vermeide es aber, inflationär mit dem Begriff "Krise" umzugehen, zumal es die erwähnten Erholungsphänomene gibt. Die finde ich wiederum beruhigend, weil sie ein Beleg sind für die außergewöhnliche Resilienz dieser Altersgruppe mit ihrem grundsätzlichen Zukunftsblick. Eine Resilienz, wie wir sie sonst interessanterweise noch bei sehr alten Menschen sehen, die ihre Stärke wiederum aus der Gewissheit ziehen, schon vieles durchgemacht zu haben. Einen Fehler darf man jetzt aber nicht machen: Diese relative Erholung als Zeichen einer veränderten Haltung der Gesellschaft gegenüber der Jugend zu werten. Die Jugend hat in der Corona-Krise eine große Solidarität mit der Gesellschaft gezeigt, doch die Gesellschaft hat diese Solidarität bis heute nicht erwidert.
Wie deuten Sie die Erholung dann?
Für eine Antwort muss man zunächst klären, woher genau die psychische Belastung in der Corona-Zeit kam. Die Experten, die wir in unserer ad-hoc-Empfehlung zitieren, sagen: Das waren auch – nicht nur! – die Pandemie-Maßnahmen, also die Kontaktbeschränkungen vor allem im Freizeitbereich, im Sozialleben, die viel Kraft und Frohsinn gekostet haben. Hinzu kam ein zweiter, vermutlich sogar noch wichtigerer Aspekt: die krisenhafte Erfahrung als solche. Die existenzielle Bedrohung, die alles durchdringt und vor der eigenen Familie nicht Halt macht. Die Erfahrung, wie Erwachsene reagieren, wie verunsichert diese sind. Dazu ein Gefühl von Machtlosigkeit, nicht gesehen zu werden. Nur mit diesem zweiten Aspekt ist zu erklären, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen international überall fast im Gleichschritt verschlechtert hat: in Italien mit seinen vor allem zu Beginn sehr strengen Maßnahmen genauso wie in Schweden, das für eine ganz andere Corona-Politik steht und wo es kaum Maßnahmen bei den Jungen gab. Und dieses Gefühl der Krise, das ist inzwischen zumindest zu einem Teil gewichen.
Lassen Sie uns noch kurz bei der Vergangenheit bleiben. "Die psychischen Belastungen im Kontext der COVID-19-Pandemie insbesondere für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind in der Öffentlichkeit oft übersehen worden", hat der Ethikrat gleich im ersten Satz seiner Stellungnahme konstatiert. Übersehen auch durch den Ethikrat selbst?
Wenn ich an der Stelle einmal kurz persönlich werden darf: Als Mutter zweier Kinder standen mir deren besonderen Belastungen sehr früh und sehr genau vor Augen. Für viele andere Ratsmitglieder galt das Gleiche. Ich habe daher schon ab Frühsommer 2021 in Interviews und Talkshows immer wieder auf die Situation der Jugend hingewiesen. Was wir aber wirklich bedauern als Ethikrat, und da sind wir tatsächlich in die Selbstkritik gegangen: Es ist bei den mahnenden Worten geblieben. Wir haben keine Butter bei die Fische gegeben, wir haben keine Empfehlung verfasst. Das haben wir uns vorzuwerfen. Denn es wirkt nachhaltiger, ein Papier an die Politik zu richten, dann in der Bundespressekonferenz zu sitzen und damit in der Tagesschau zitiert zu werden, als nur mit Worten zu mahnen.
"Wir hätten als Gesellschaft eine
Phase der gemeinsamen Analyse,
des Lernens, der Heilung gebraucht."
Würden Sie sich von anderen gesellschaftlichen Institutionen und Beratungsgremien ähnliche Eingeständnisse wünschen, Frau Buyx?
Einige davon gab es ja, und vielleicht haben wir da sogar ein wenig dazu beigetragen. Wir waren als Ethikrat meines Wissens die ersten, die sich öffentlich hingestellt haben mit unserer Selbstkritik. Und haben damit einen Empörungssturm ausgelöst, Tenor: Gerade wir hätten die Jugend im Stich gelassen in der Pandemie. Es scheint ein unheimliches gesellschaftliches Bedürfnis zu geben, irgendwem explizite Schuld zuzuweisen. Mit der Folge, dass aufgrund der so entstandenen medialen Dynamik unsere eigentliche Forderung, jetzt dringend die Bedürfnisse der jungen Generation in den Mittelpunkt zu rücken, fast verschütt gegangen ist. Das habe ich sehr bedauert.
Wie erklären Sie sich den Empörungssturm?
Ich glaube, wir hätten als Gesellschaft eine Phase der gemeinsamen Analyse, des Lernens, der Heilung gebraucht. Zu Beginn des Jahres 2022 dachte ich: Wir müssen noch durch diesen Frühling, dann sind wir an einem Punkt in der Pandemie, an dem das geht. Dann aber kam der Februar 2022, der russische Angriff auf die Ukraine begann, gefolgt von Energiekrise und Inflation. Es gab keine Zeit mehr zum Innehalten. Dadurch hat sich bei den Menschen etwas aufgestaut. Trotzdem: Es war an der Zeit, der Jugend Respekt zu zollen. Wir haben lange im Rat diskutiert, wie wir das formulieren können, ohne anbiedernd zu wirken. Unsere Botschaft sollte sein: Was ihr geleistet habt, war ein irrsinnig wichtiger gesellschaftlicher Beitrag. Den sehen wir als Ethikrat. Und wir sehen auch, dass die Gesellschaft jetzt, wo ihr selbst schwach seid und Unterstützung braucht, euch diese nicht adäquat gewährt.
Alena Buyx, 45, studierte in Münster, York und London und erhielt ihre Approbation als Ärztin fast zeitgleich mit ihrem Magisterabschluss in Philosophie und Soziologie. Nach einem Aufenthalt in Harvard war sie zwischen 2009 und 2012 stellvertretende Direktorin des britischen Nuffield Council on Bioethics, anschließend leitete sie die DFG-Emmy Noether-Gruppe "Bioethik und Politische Philosophie" an der Universität Münster, wo sie sich auch habilitierte. 2014 wurde sie Professorin für Medizinethik in Kiel, 2017 wechselte sie an die TU München und leitet seitdem das TUM-Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Vorgeschlagen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, wurde sie bereits 2016 als jüngstes Mitglied aller Zeiten in den Deutschen Ethikrat berufen. Seit 2020 ist sie dessen Vorsitzende. Foto: Kay Herschelmann.
Scheitert eine gesellschaftliche Aufarbeitung schon daran, dass uns vielfach gar nicht die Daten vorliegen, um die Auswirkungen einzelner Corona-Maßnahmen seriös und in all ihren medizinischen, sozialen und politischen Aspekten evaluieren zu können?
Wir haben sehr viele Daten in Deutschland, wir können sie nur nicht ordentlich miteinander verknüpfen. Das ist unser eigentliches Problem. Der Umgang mit dem Datenschutz – nicht unbedingt der Datenschutz selbst – erschwert oder verhindert teils sinnvolle Zusammenführung. Das wiederum erschwert transparente Evaluationen. Umgekehrt muss man jetzt auch nicht so tun, als bräuchte es nur den perfekten Datensatz, dann könnten wir die gesamte Pandemie lückenlos aufarbeiten und sagen: Diese Maßnahmen haben mehr genützt, diese Maßnahmen haben eher geschadet. Der Blick nach Großbritannien, Israel oder anderswo zeigt: Auch dort bleiben Fragen offen.
Wir müssen die Erkenntnis zulassen, dass es den perfekten Weg durch die Pandemie nie gegeben hat. Sondern dass es verschiedene, jeweils aber gut begründbare Strategien gab, weil es unterschiedliche Länder, Situationen und Kontexte waren. Wir brauchen da insgesamt etwas mehr Ambiguitätstoleranz als Gesellschaft.
Sie sagen, die Gesellschaft hat die Solidarität der Jugend bis heute nicht erwidert. Liegt das daran, dass unsere Gesellschaft so überaltert ist?
Junge Menschen unter 25 sind inzwischen eine Minderheit in Deutschland. Wenn noch in 18 Prozent der Haushalte minderjährige Kinder leben, heißt das im Umkehrschluss: in 82 Prozent nicht. Das wirkt sich natürlich schon auf die politischen Entscheidungsprozesse aus, keine Frage, man muss sich nur mal das Wählerspektrum der großen Parteien in Deutschland anschauen. Verschärfend kam in der Pandemie hinzu, dass viele Eltern einfach nur noch müde und erschöpft waren. Sie waren nicht in der Lage, die Interessen von Familien öffentlich durchzusetzen. Und sonst ist das auch zu wenig passiert.
"Wir sollten das Wahlalter
auf 16 absenken. Das wäre
ein Symbol, ein Signal an die Jugend."
Wie lässt sich dieses Ungleichgewicht ändern?
Das ist jetzt keine offizielle Ethikrat-Position, aber ich persönlich bin überzeugt: Wir sollten das Wahlalter auf 16 absenken. Das ist nicht viel, das ist aber auch nicht nichts. Es wäre ein Symbol, ein Signal an die Jugend: Wir wollen eure politische Partizipation. Darüber hinaus gäbe es schon jetzt viele Möglichkeiten für die Politik und andere Institutionen, jungen Menschen eine Stimme in politischen Entscheidungsprozessen zu geben, hier und da passiert das auch. Aber im Großen und Ganzen, wenn man ehrlich ist, nicht.
Stattdessen scheint aus Haushaltsgründen die Einführung der Kindergrundsicherung noch in der Legislaturperiode nicht mehr sicher zu sein, obwohl sie laut Bundesjugendministerin Lisa Paus ein zentrales Projekt der Ampel-Koalition werden sollte. Auch der versprochene Umbau zu einer elternunabhängigen Komponente beim BAföG hängt an dieser Reform.
Ich kann mich als Vorsitzende des Ethikrats nicht zu einer aktuellen politischen Maßnahme äußern, zu der wir als Gremium keine Position haben. Aber nehmen Sie ein anderes Beispiel. Als im Herbst 2022 Energie gespart werden sollte, kamen mit als erstes die Vorschläge, die Hörsäle, Schwimmbäder und Turnhallen herunter zu kühlen. Unsere Antwort als Ethikrat war, in der erwähnten Empfehlung: Schluss damit! Die junge Generation muss diesmal raus sein, vor allem die ganz Jungen, die in den Kitas und Grundschulen. Aber auch an den Universitäten galt: Wenn die 15 Prozent ihrer Energie einsparen sollen, dann bitte nicht bei den Studierenden, die drei oder noch vier Semester eingeschränkt erlebt haben. Holt euch die Wärme anderswo her, lautete unsere öffentliche Botschaft, meinetwegen in den Büros, in der Verwaltung, schickt die Leute ins Homeoffice. Aber lasst die jungen Leute zum Studieren an die Hochschule kommen.
Was zum Glück am Ende fast überall so passiert ist im Wintersemester 2022/2023. Wie aber konnte es überhaupt so weit kommen, dass im Herbst 2022 die Rückkehr zur digitalen Lehre zwischenzeitlich denkbar schien? Haben sich die Studierenden in der Pandemie vielleicht zu sehr gefügt? So dass der Eindruck entstand: Mit denen kann man es machen?
Das wäre das letzte, was ich sagen würde. Denn in solch einer Aussage wäre der Vorwurf enthalten, die jungen Menschen trügen irgendeine Mitschuld an ihrer Situation. Sie hatten aber keine Entscheidungsmacht. Die Hochschulen haben mit der Digitalisierung der Lehre auf das geltende Abstandsgebot reagiert. Sie haben Lehrveranstaltungen, die unbedingt in Praxis stattfinden mussten, praktische Übungen vor allem, über andere Kurse priorisiert. Das hat noch einmal eine hohe Solidarität von denjenigen Studierenden abverlangt, die zugunsten anderer zu Hause bleiben mussten. Dass es den Hochschulen insgesamt besser gelungen ist, auf digitale Lehre umzustellen, liegt an ihrer im Vergleich zu den Schulen größeren Flexibilität. Und die Lehrenden sind wie die Studierenden recht technikaffin an den Hochschulen. Bei uns in München zum Beispiel dauerte es zwei Wochen, und zack, schon war alles digital. Da waren wir auch ein bisschen stolz drauf.
"Je länger die digitale Lehre dauerte,
desto mehr hätten wir alle sehen müssen,
wie schlecht es den Studierenden damit ging."
Damit kann doch in der Politik der Eindruck entstehen: Das können wir in Zukunft, wenn nötig, nochmal so machen.
Eben nicht! Denn je länger die digitale Lehre dauerte, desto mehr hätten wir alle sehen müssen, wie schlecht es den Studierenden damit ging. Auch wenn die nicht gejammert, sondern irgendwie weitergemacht haben. Ich zeige nicht gern mit dem Finger auf irgendwen, aber genau an der Stelle hätten wir alle genauer hinschauen müssen. Das lag in der Zuständigkeit derjenigen, die über die Lehrformat entschieden haben, und sicherlich nicht in der Verantwortung der Studierenden. Letzteren deshalb jetzt vorzuwerfen, sie hätten sich zu wenig beschwert, wäre absurd.
Die Studierendenwerke berichteten zu der Zeit von immer voller werdenden psychosozialen Beratungsstellen – mit Studierenden, deren Sorgen sich immer weniger um ihr Studium drehten, und mehr um ihre Einsamkeit und Isolation bis hin zu Suizidgedanken.
Was leider auch deshalb nicht überrascht, weil dahinter eine Entwicklung steckt, die Zunahme von Angsterkrankungen und Depressionen, die älter ist als Corona. Die Pandemie hat hier wie ein Verstärker gewirkt, weil den Jugendlichen, wie mir ein befreundeter Psychotherapeut einmal erklärt hat, das Durchleben besonderer Phasen der Individualitäts- und Persönlichkeitswerdung fehlte.
Sie meinen: Partys?
Ich meine: die Pubertät, das Erwachsenwerden. Da geht es um Party, es geht um Emanzipation, Sexualität erleben, jung sein dürfen, Grenzen austesten. Dann folgt der nächste Schub: raus aus der Schule, weg von zu Hause, rein in die Berufsausbildung oder ins Studium. Neue Formen von Freiheit und Selbstständigkeit kennenlernen. Das sind vulnerable Phasen der Persönlichkeitsentwicklung. Deren Entfall in der Pandemie, diese Verschärfung eines bereits laufenden Trends zulasten der psychischen Gesundheit junger Menschen, das werden wir merken. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und genauso in den USA. Darum war uns als Ethikrat dieses Papier so wichtig.
Dann lassen Sie uns über die solidarische Gegenreaktion reden, die Sie von der Gesellschaft jetzt einfordern. Wie genau sollte die aussehen?
Wir haben da viele Vorschläge gemacht, vom Kitaalter bis ins Studium hinein. Der wichtigste ist, dass die bestehenden Beratungs- und Therapieangebote besser verzahnt werden müssen. Wir brauchen aber auch einen Ausbau etwa der psychosozialen Beratung bei Schulen oder Studierendenwerken.
Das Deutsche Studierendenwerk beziffert den zusätzlichen Bedarf auf zehn Millionen Euro pro Jahr.
Das ist ein Betrag, bei dem mir keiner erzählen kann, dass er sich nicht irgendwo im Bundeshaushalt auftreiben ließe. Es sind aber auch deutlich mehr Therapieplätze für junge Menschen nötig. Und da reden wir nicht nur von mehr Geld, sondern wir brauchen für mehr Therapien auch die Fachleute, die sie durchführen können. Die gibt es oft nicht wegen des Fachkräftemangels. Weshalb die Hürden für die Rekrutierung neuer Therapeuten abgebaut werden sollten. Doch auch andere Berufsgruppen sollten mit in die Verantwortung genommen werden. Nehmen Sie mich als Professorin und Institutsdirektorin: Ich habe in meiner gesamten wissenschaftlichen Ausbildung keinen einzigen Satz dazu gehört, wie ich meine Studierenden psychologisch besser unterstützen kann. An englischsprachigen Hochschulen spricht man von "Pastoral Care", das hat nichts mit Religion zu tun, drückt aber den Anspruch aus, als Bildungseinrichtung für das Wohlbefinden der Studierenden einstehen zu wollen. Also derjenigen, die später unsere Gesellschaft formen werden. Es muss dabei übrigens gar nicht immer gleich um Notfälle der psychischen Gesundheit gehen.
Und dieser Anspruch fehlt an deutschen Hochschulen?
Ich will den deutschen Hochschulen keine Vorwürfe machen, ich sage nur: Wir brauchen gut strukturierte Fortbildungen für Hochschullehrende, und zwar flächendeckend. Und wir sollten bei den Professorinnen und Professoren ein Bewusstsein erzeugen für das, was schon da ist. Bei uns in München gibt es zum Beispiel Krisentelefone für Studierende, organisiert von den Fachschaften. Als ich davon erfahren habe, habe ich zumindest eine Folie in meine Vorlesung aufgenommen, um die Studierenden darauf hinzuweisen.
"Ich stelle mir vor, wir würden alle Studierenden einer Stadt ins Fußballstadion einladen, ein geiles Konzert für sie organisieren und sie einfach mal feiern."
Eine Folie in der Vorlesung: Das hört sich hilflos an.
Natürlich ist das nur ein kleiner Baustein, aber zusätzlich zum praktischen Hinweis gibt es ja auch die symbolische Ebene solcher Gesten, die man ja auch größer denken könnte. Ich wünschte mir mehr Aktionen, in denen Dank und Respekt zum Ausdruck kommen, ein Sichtbarmachen und Anerkennen des Verlustes, den junge Menschen für uns als Gesellschaft ertragen haben. Ich weiß, wir haben eine Kriegssituation in Europa, eine bedrohliche und schwierige Lage. Das ganze Land kümmert sich gerade um andere Dinge. Aber manchmal stelle ich mir vor, wir würden alle Studierenden einer Stadt ins Fußballstadion einladen, ein geiles Konzert für sie organisieren und sie einfach mal feiern.
Die Ausnahmesituation der Corona-Pandemie wurde durch die Ausnahmesituation des Kriegs gegen die Ukraine abgelöst. Befinden wir uns in einem Zeitalter der Krisen? Am Anfang unseres Gesprächs haben Sie sich dagegen gewehrt, inflationär mit dem Wort "Krise" umzugehen.
Ich würde Ihnen aber zustimmen. Ich versuche nur, nicht alles mit dem Begriff "Krise" zu belegen. Im Grunde hat, beginnend mit der Finanzkrise 2008, eine Krise die andere abgelöst. Als Ethikrat haben wir deshalb im April 2022 eine umfangreiche Stellungnahme vorgelegt, "Vulnerabilität und Resilienz in der Krise" – um Wege aufzuzeigen, wie wir als Gesellschaft in dieser Zeit der Krisen widerstandsfähiger werden können. Da reden wir von unserem Gesundheitssystem, aber auch von der Entbürokratisierung unserer Verwaltung, vom Eindämmen von Missinformation und Hass, von einem anderen Umgang mit Daten und Datenschutz und von einer konsequenteren Digitalisierung.
Muss es auch Ziel und Inhalt eines Hochschulstudiums werden, individuelle Resilienz zu vermitteln?
Ich glaube, die jungen Menschen wachsen ohnehin schon in einem anderen Bewusstsein von Krise auf, das brauchen wir ihnen – leider – nicht mehr zu vermitteln. Was ich aber schon feststelle im Unterschied zu England, wo ich länger gelebt und auch studiert habe, ist die Tabuisierung der psychischen Gesundheit, das Verschieben des Themas in den persönlichen, den privaten Verantwortungsbereich. Das können und müssen wir auch in der Hochschullehre durchbrechen, indem wir vermitteln: Wir befinden uns in einer Dauer-, Multi- und Polykrise, und wir tun als Gesellschaft gut daran, uns zu rüsten. Nicht im Sinne des ständigen Beschwörens irgendwelcher Katastrophenszenarien, sondern indem wir den jungen Menschen das Handwerkszeug mit auf den Weg geben, um resilienter durchs Leben zu kommen. Ja, das ist eine Frage der Curricula, schon in den Schulen und dann auch in den Hochschulen, die als Pioniere voranmarschieren sollten. Fest steht: Wir dürfen das nicht auf den Schultern der jungen Leute abladen.
Das Interview erschien zuerst im DSW-Journal 1/2023 des Deutschen Studierendenwerks.
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