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Starkes Konzept, zwei große Haken

Das BMBF hat Eckpunkte zum Startchancen-Programm präsentiert, die Kultusminister reagieren verschnupft. Was mit der Kommunikation des Papiers zu tun hat, seiner Genese – und einer fortgesetzten haushaltspolitischen Desillusionierung.

DAS MEDIENECHO IST POSITIV. "Drei Säulen für die Brennpunktschulen", titelte die FAZ, der Bund habe seine Bedingungen für das Startchancen-Programm vorgelegt, "ein zentrales Vorhaben der Berliner Ampelkoalition". Bildung.Table nennt das Papier einen "mutigen Gegenentwurf zur konservativen Abwehrhaltung der Länder". Tatsächlich lesen sich die elf Seiten aus dem Haus von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in weiten Teilen wie ein inspirierendes Stück moderner föderaler Bildungspolitik. Wenn die ganze Sache nicht zwei große Haken hätte.

 

Der eine hat mit der Kommunikation der BMBF-Eckpunkte an sich zu tun. Am Dienstagabend um 17.30 Uhr waren die verhandelnden Staatssekretäre von Bund und Ländern zum Gespräch verabredet. Doch das – von Umfang und Inhalt – substanzielle Papier wurde von Stark-Watzingers Staatssekretärin Sabine Döring erst 33 Minuten vor dem Treffen an ihre Kolleginnen und Kollegen der "Staatssekretärs-AG" verschickt. Was, so kritisieren Teilnehmer, aus der Runde eine "Lese- und Vorlesestunde" gemacht habe. Verhandelt wurde deshalb nicht, sondern nur zur Kenntnis genommen. Zumal das BMBF keine Berechnungen vorlegte, welche finanziellen Auswirkungen die von ihm vorgelegten Eckpunkte auf die Länder hätten.

 

Atmosphärisch angespannt

 

Zeit ging am Dienstagabend auch dafür drauf, dass die Ländervertreter ihrem Ärger Luft machten. Denn während sie die Eckpunkte erst um 16.57 Uhr im Mail-Eingang hatten, bekam etwa Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) nach eigenen Angaben schon Stunden vorher den ersten Journalistinnenanruf. Was sie denn zu dem neuen Papier aus dem BMBF sage, lautete die Frage. In ihrem Dienstagabend veröffentlichten Bericht betonte die FAZ denn auch, dass ihr die Details der Verhandlungen zwischen BMBF und Ländern "exklusiv" vorlägen – so exklusiv, dass zunächst nicht einmal die Länder sie hatten. 

 

Aktuell hat Stark-Watzinger so mindestens zweierlei erreicht. Erstens: Stand bislang vor allem sie unter Erwartungsdruck, endlich etwas Handfestes in Sachen Startchancen vorzulegen, befinden sich jetzt ihre Kultusministerkollegen unter öffentlichem Zugzwang. Zweitens: In der Staatssekretärs-AG haben die Ländervertreter die Faust in der Tasche, weil das BMBF ihrer Meinung nach seine Eckpunkte konzeptionell fast ausschließlich auf ihren Vorarbeiten aufgebaut habe –  nur werde das, siehe Medienecho, jetzt in der Öffentlichkeit jetzt ganz anders wahrgenommen. Motto: BMBF schiebt Länder.

 

Natürlich kann man einwenden, dass die Wahrnehmung der Länder, der Bund schmücke sich mit ihren Federn, zumindest bei den – am Ende entscheidenden – Fragen der Finanzierung, nicht stimmt. Denn da sind die Diskrepanzen gewaltig. Auch kann man fordern, die Länder sollten sich nicht so haben, schließlich gehe es um die Sache. Doch ist die Atmosphäre zwischen BMBF und Kultusministern spätestens seit dem aus Sicht der Kultusminister verunglückten Bildungsgipfel derart angespannt, dass die Art der Kommunikation über Erfolg und Misserfolg der föderalen Bildungszusammenarbeit entscheiden kann. 

 

Das Neue ist die Detailtiefe und Stimmigkeit 

 

Und es wäre ein großer Misserfolg, ein großer Verlust, sollte die im BMBF-Papier beschriebene Architektur des Startchancen-Programms so nicht kommen. Das Bemerkenswerte daran sind nicht die drei Säulen an sich, mit denen etwa 4000 allgemeinbildende und berufsbildende Schulen besonders unterstützt werden sollen: Schulen, an denen besonders viele arme und bildungsbenachteiligte Kinder lernen. Sie werden schon so im Ampel-Koalitionsvertrag beschrieben. Das Neue ist die Detailtiefe und Stimmigkeit ihrer Beschreibung. 

 

Säule I soll ein "Investitionsprogramm für eine zeitgemäße und ansprechende Lernumgebung" werden, das die Schulen zu "modernen, klimagerechten und barriefereien Lernorten" machen soll mit hochwertiger Ausstattung und moderner Infrastruktur. Das Papier zählt auf: Kreativlabore, Multifunktionsräume, Räumlichkeiten für inklusive Lernen. Ohnehin notwendige Sanierungsmaßnahmen sollen nicht bezahlt werden mit dem Geld. 50 Prozent der Programm-Mittel sollen hier laut BMBF-Vorstellungen hineingehen.

 

Säule II: ein "Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen", wobei es um eine nachhaltige Unterstützung der Schul- und Unterrichtsentwicklung gehen soll. Was das konkret heißt, sollen laut Eckpunkten Bund und Länder mithilfe wissenschaftlicher Beratung in einem gemeinsamen Leitfaden beschreiben, inklusive einem "Katalog geeigneter Maßnahmen". Zwei Dritte sollen die Schulen für die im Katalog empfohlenen Maßnahmen ausgeben, ein Drittel komplett frei. 30 Prozent des Budgets sollen hierfür fließen.

 

Säule III soll "Schulsozialarbeit für personelle Verstärkung" finanzieren, mit zusätzlichen Stellen zur Ermöglichung einer "individuellere(n) Förderung des Lernenden" und zur Unterstützung der Kollegien. Anteil an der Gesamtfinanzierung: 20 Prozent.

 

Besonders betont wird in den Eckpunkten das übergreifende Ziel der Förderung, die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Mathematik zu stärken. Als Möglichkeit wird in dem Papier sogar diskutiert, den Erfolg des Programms daran zu messen, ob am Ende seiner Laufzeit die Zahl der Schüler halbiert wurde, die die Mindeststandards in Mathe und Deutsch verfehlen. Deshalb soll bei der Auswahl der 4000 Startchancen-Schulen auch ein Schwerpunkt auf den Grundschulen liegen, was wie die Konzentration auf den Mindeststandards voll und ganz den Forderungen aus der Bildungsforschung, etwa aus der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), entspricht. 

 

Ideen von Bund und Ländern fließen ineinander

 

Zusätzlich zu den drei Programmsäulen soll es weitere Begleitmaßnahmen geben, um die Startchancen-Schulen bei Querschnittsthemen wie Unterrichts- und Schulentwicklung und der Berufsorientierung zu unterstützen, inklusive der Weitergabe gewonnener Erfahrungen über eine digitale Transferplattform. Hier und an vielen anderen Stellen in den Eckpunkten wird immer wieder die besondere Rolle der Schulleitungen betont, ihrer Vernetzung, Stärkung, Beratung und Fortbildung. Bildung.Table will darin sogar eine Art "vierter Säule" des Programms erkennen, die Stark-Watzinger "so nebenbei" de facto kreiert habe, wie Redaktionsleiter Moritz Baumann twitterte. 

 

Rechtlich ermöglicht werden soll das Programm durch Änderungen des Finanzhilfegesetzes (für die Bauinvestitionen) und des Finanzausgleichsgesetzes (damit die Länder mehr Umsatzsteueranteile für das Chancenbudget bekommen), außerdem durch eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern. 

 

In der Gesamtschau ein wirklich rundes Startchancen-Konzept, dem von den Kultusministern kaum Widerspruch droht – denn die meisten der vom BMBF erwähnten Ansätze und Ideen werden in Ländern wie Hamburg, Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen, die eigene Brennpunkt-Programme haben, bereits so ähnlich umgesetzt. Was in dem Papier Ideen des Bundes und was der Länder sind? Es fließt an vielen Stellen ineinander.

 

Haken Nummer 2: Die Finanzierung

 

Zu wenig fließt allerdings ineinander, sobald es, Haken Nummer 2, um das Thema Finanzierung geht. Das geringste Problem ist dabei noch, dass das BMBF auch das Investitionsprogramm im Gegensatz zu den Länder nicht per Gießkanne (=Königsteiner Schlüssel), sondern nach Bedarf verteilen will. Nach Bedarf heißt in dem Fall: zu 40 Prozent nach dem Anteil der unter 18-Jährigen mit nicht deutscher Herkunftssprache, zu 40 Prozent anhand der Armutsgefährdungsquote und zu 20 Prozent nach dem negativen BIP – also verstärkt in die Länder, wo die Wirtschaftsleistung unterdurchschnittlich ist.

 

Das ist (abgesehen von der zu hinterfragenden Größe "negatives BIP") nicht nur bildungspolitisch richtig, sondern mehr noch eine Frage der Fairness den benachteiligten Schülern überall in der Bundesrepublik gegenüber. Weshalb gut möglich und zu hoffen ist, dass die Länder, die sich schon KMK-intern gegen eine Abweichung von Königstein gesperrt haben, jetzt doch noch durch öffentlichen Druck zum Nachgeben gezwungen werden können. Bei den Säulen II (Chancenbudget) und III (Schulsozialarbeit) hatten die Länder sich bereits selbst auf die Einrichtung eines Solidarfonds geeinigt, über den zugunsten der Länder mit vielen betroffenen Kindern und Jugendlichen umverteilt werden soll. Was das BMBF eins zu eins übernimmt, allerdings im Gegensatz zu den Ländern offenlässt, wie groß der "Solidaritätszuschlag" maximal sein soll.

 

Gut und richtig, wenn auch in vielen Ländern unpopulär ist das besondere Augenmerk, dass der Bund auf Monitoring, Evaluation und Erfolgskontrolle legen will. Wird das Geld so ausgegeben wie vereinbart? Und kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass die ergriffenen Maßnahmen erfolgreich sind? Dafür sollen die Schulen viele Daten erheben – was einen hohen Aufwand auslösen wird. Der Bund will zwar die wissenschaftliche Begleitung finanzieren, doch wer kompensiert den Schulen ihre Berichtsarbeit? Das Papier spricht wolkig von "nichtmonetären" Beiträgen durch die Länder bei der wissenschaftlichen Begleitung.

 

Den eigentlichen Ärger wird es indes um die insgesamt fürs Startchancen-Programm zur Verfügung stehenden Summen geben. Dass das BMBF jährlich eine Milliarde einbringen will, war bereits bekannt und mehrfach heftig von den Ländern, aber auch von Bildungsexperten kritisiert worden – schließlich hatte man sich angesichts der Bildungsaufbruch-Rhetorik rund um den Ampel-Koalitionsvertrag deutlich mehr erhofft. 

 

Eine Milliarde – in der ganzen Legislaturperiode

 

Doch liest man nun die Eckpunkte aus Stark-Watzingers Haus, sieht man: Es wird de facto noch weniger. Die haushaltspolitische Desillusionierung setzt sich also fort. Statt der zumindest einen zusätzlichen Bildungsmilliarde jedes Jahr, die Bundesfinanzminister Christian Lindner versprochen hatte und Stark-Watzinger für das Programm ausgeben wollte, wird bis zum Ende der Legislaturperiode gerade einmal insgesamt eine Milliarde fließen. Denn der ohnehin sehr späte Programmstart zum Schuljahr 2024/25 ist ein Start light: Lediglich 100 Millionen Euro sollen 2024 überhaupt noch ausgegeben werden – für die Schulsozialarbeit. Chancenbudget und wohl auch Investitionsprogramm sollen erst von 2025 an finanziert werden. Zum Vergleich: Sieben (!) Milliarden Euro sahen interne Berechnungen der Ampel-Verhandlungsführer vor Abschluss des Koalitionsvertrags für die Startchancen-Finanzierung bis 2025 vor – allein bundesseitig.

 

Umgekehrt fordert das BMBF in seinem Papier ultimativ eine 50-prozentige Kofinanzierung von den Ländern ein, was angemessen ist und in der Öffentlichkeit sicher auf große Zustimmung stoßen wird. Doch hat sich Stark-Watzinger auch hier spätestens den Gegenwind der Länder eingehandelt, wenn ihr Ministerium zugleich verlangt, bestehende Brennpunkt-Programme dürften nicht auf den Landesanteil angerechnet werden. Es scheint unvorstellbar, dass die zuständigen Landesfinanzminister sich darauf einlassen werden – eine gefährliche Sollbruchstelle in den anstehenden Verhandlungen. Fordert das BMBF also demonstrativ viel von den Ländern und ist bereit, selbst nur wenig zu geben?

 

Diesen Eindruck muss man leider bekommen: So heißt es in dem Papier, es soll nur "bis zu" eine Bundesmilliarde pro Jahr fließen, das Programm stehe außerdem "unter Haushaltsvorbehalt". Was bedeutet, dass die Startchancen bislang kein einziges Jahr und erst recht nicht für die geplante Laufzeit von zehn Jahren finanziell unter Dach und Fach sind. Jedes Jahr könnte das Geld von einer Parlamentsmehrheit weggekürzt werden. Woraus folgt, dass Startchancen-Schulen ihre zusätzlichen Stellen nur mit kurzer Befristung werden besetzen können – in Zeiten, in denen qualifiziertes Personal ohnehin knapp ist. Wie wahrscheinlich ist das? 

 

Wäre das anders gegangen? Ja: Wenn es wie bei anderen Bundes-Großvorhaben ein Sondervermögen für die Startchancen gegeben hätte, für die gesamte Laufzeit mit dem nötigen Geld ausgestattet. Doch scheint der sonst so findige FDP-Finanzminister Lindner an der Stelle keine Kreativität zeigen zu wollen – und umgekehrt SPD-Chefin Saskia Esken mit ihrer Forderung nach einem Sondervermögen Bildung sogar in ihrer eigenen (Regierungs-)Fraktion auf keinerlei Unterstützung zählen zu können. 


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