Die Ausbildungsförderung ist so kaputt, dass das Bundesverwaltungsgericht sie für verfassungswidrig hält. Die Ampel hatte ihre Reparatur und Reform versprochen. Der Weg dahin ist klar. Was es jetzt braucht, ist allein das politische Commitment.
SEIEN WIR MAL EHRLICH. Das BAföG, diese legendäre, in Zeiten der Bildungsexpansion erfundene Ausbildungsförderung ist schon lange kaputt. Bis auf elf Prozent ist der Anteil der Studierenden gesunken, die überhaupt Geld erhalten, es sind nur noch die allerärmsten. Dabei müsste das BAföG, um seinen ursprünglichen Sinn zu erfüllen, bis weit in die Gruppe der mittleren Einkommen hineinreichen. Und es müsste so hoch sein, dass es für die Empfänger nicht nur genügt, um irgendwie über die Runden zu kommen, sondern um sich ohne dauernde finanzielle Sorgen auf das Lernen konzentrieren zu können.
Die Ampel-Koalition weiß das. Gestartet als selbsterklärte Fortschritts- und Chancenkoalition hatte sie sich die große BAföG-Reform auf die Fahnen geschrieben. Wer den Koalitionsvertrag von Ende 2021 liest, spürt sogar einen Hauch des emanzipatorischen Ehrgeizes, den die Erfinder der Förderung Anfang der Siebziger hatten. "Reformieren" und "neu ausrichten", "elternunabhängiger" machen wollten SPD, Grüne und FDP das BAföG, es endlich in die Lebenswirklichkeit der heutigen Studierenden führen.
Einen Teil davon hat Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) geliefert. Sie hat unter anderem die Altersgrenze angehoben und eine Nothilfe für Krisenzeiten eingebaut. Doch ausgerechnet die Maßnahme, für die sie sich besonders rühmte, ging an der Realität vorbei. Die angeblich so kräftige Erhöhung der Bedarfssätze um 5,75 und der Freibeträge um 20,75 Prozent war nach vier Nullrunden-Jahren seit 2015 schon zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens im August 2022 völlig unzureichend, nach einem weiteren Jahr mit über sechs Prozent Inflation wirkt sie nur noch lächerlich.
Das Problem war aber nicht nur die unzureichende Anhebung, sondern auch wie sie – wieder einmal – zustande kam. Nach politischem Gutdünken, nach Kassenlage, nach Pi mal Daumen. Ein Verfahren, das vom Bundesverwaltungsgericht im Mai 2021, bezogen auf die Erhöhung von 2015, als verfassungswidrig eingestuft worden war. Die nicht transparente Berechnung des Bedarfssatzes auf der Grundlage veralteter Daten habe gegen das aus der Verfassung abgeleitete Teilhaberecht der klagenden Studentin aus Osnabrück auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten verstoßen.
Weil das Bundesverwaltungsgericht aber nicht berechtigt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes festzustellen, muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Wann es das tut, ist offen, doch GEW und Studierendenverband fzs machen Druck – zusammen mit dem Anwalt, der die Osnabrücker Studentin vertritt. Dieser erläuterte vergangene Woche in einer Pressekonferenz, der gegenwärtige Bedarfssatz liege inklusive Wohnkostenpauschale mit 812 Euro um 97 Euro unterhalb des steuerlichen Existenzminimums, durch die nur sehr unregelmäßigen Erhöhungen sei der Abstand immer größer geworden. Ein "Skandal", befindet der fzs.
Ein transparentes Verfahren und eine Annäherung
an die Lebenswirklichkeit von heute
In jedem Fall politisch unwürdig. So, wie es auch politisch unwürdig wäre, wenn eine Koalition, die unter anderem mit einem generalüberholten BAföG "den Grundstein für ein Jahrzehnt der Bildungschancen" (Koalitionsvertrag) legen wollte, die Schieflage bei der Ausbildungsförderung erst nach höchstrichterlicher Anordnung beseitigen würde.
Ein transparentes Verfahren, das fordern Bildungsexperten, Verbände und auch das Deutsche Studentenwerk seit Jahren, würde eine regelmäßige Anpassung der Bedarfssätze an die – objektiv ermittelten – Preissteigerungen bei den studentischen Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten erfordern. Auch die Ampelfraktionen haben dies in einem Entschließungsantrag im Juni 2022 verlangt.
Die Realität ist jedoch so, dass das Bundeskabinett voraussichtlich in wenigen Tagen einen Haushalt beschließend wird, der auch für das BMBF kräftige Einschnitte enthalten dürfte. Und selbst in budgetär noch besseren Zeiten, im Frühjahr 2022, erteilte Ministerin Stark-Watzinger einer regelmäßigen automatischen Erhöhung eine Absage – weil der Politik damit Gestaltungsmöglichkeiten verloren gingen. Schaut man sich freilich die reale politische Gestaltung der Bedarfssätze in den vergangenen 20 Jahren an, wäre genau das ja der große Vorteil einer solchen Reform.
Über deren zweiten – konzeptionellen – Teil damit noch gar nicht gesprochen wäre. Die beiden wichtigsten Bestandteile: erstens eine Annäherung an die heutige Lebens- und Studierwirklichkeit über eine Verlängerung der Bezugszeiten, die Förderfähigkeit von Teilzeitstudium oder die Vereinfachung von Studienfachwechseln. Und – zweitens – ein elternunabhängiger Garantiebetrag, der an alle Volljährigen in Ausbildung und Studium ausgezahlt werden soll. Wofür allerdings die Einführung der Kindergrundsicherung Voraussetzung wäre, bei der FDP-Finanzminister Christian Lindner nach Medienberichten ebenfalls massiv sparen will. Protestiert dagegen hat bislang vor allem Familienministerin Lisa Paus (Grüne), während die Bundesbildungsministerin so tut, als habe das Thema nichts mit ihr zu tun.
Nein, Bettina Stark-Watzinger hat das BAföG nicht kaputt gemacht. Sie ist auch nicht zu beneiden um die Aufgabe, es in der gegenwärtigen Haushaltslage retten zu sollen. Aber es ist nun einmal ihre Aufgabe, sie muss diesen Kampf führen auch mit ihrem eigenen Parteifreund, Finanzminister Christian Lindner. Es ist ein Kampf für mehr Generationengerechtigkeit.
Dieser Kommentar erschien heute in kürzerer Fassung zuerst im ZEIT-Newsletter Wissen3.
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Nordlicht (Dienstag, 11 Juli 2023 15:49)
"[…] Bundesverfassungsgericht entscheiden. Wann es das tut, ist offen […]"
Aber vermutlich noch in diesem Jahr, wenn ich es richtig sehe in der Jahresvorausschau 2023 "1 BvL 9/21"