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Zeiterfassung: Bundesarbeitsministerium lehnt Sonderregelungen für Schulen und Hochschulen ab

Müssen Lehrkräfte und Wissenschaftler schon jetzt täglich ihre Arbeitszeit erfassen? Geht es nach dem Ministerium von Hubertus Heil, lautet die Antwort ja – unabhängig davon, wie es mit der feststeckenden Novelle des Arbeitszeitgesetzes weitergeht.

ES WAREN ARBEITSRECHTLICHE PAUKENSCHLÄGE. 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die gesamte geleistete Arbeitszeit von Arbeitnehmern stets aktuell aufzuzeichnen ist. Im September 2022 konkretisierte das Bundesarbeitsgericht für Deutschland: Das EuGH-Urteil gelte nicht irgendwann in der Zukunft, sondern bereits heute. Grundlage sei das geltende Arbeitsschutzgesetz: Alle Arbeitgeber seien verpflichtet, umgehend ein entsprechendes System zur Zeiterfassung einzurichten und zu nutzen. 

 

Seitdem läuft auf der politischen Bühne das Gerangel um mögliche Ausnahmen. Für die Wissenschaft hatte etwa der damalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Peter-André Alt, schon vor vier Jahren eine Sonderregelung gefordert, direkt nach Bekanntwerden des EuGH-Urteils.

 

Um Rechtssicherheit zu schaffen, arbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) seit Monaten an einer Reform des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Ein Referentenentwurf kursierte bereits – und verursachte gerade in der Wissenschaft neue Aufregung, weil sie offenbar doch wie andere Branchen auch behandelt werden soll. Die Kultusminister sorgen sich ebenso: Müssen künftig sogar die Lehrkräfte jede Arbeitsstunde akribisch dokumentieren? Wie soll das überhaupt gehen? Und was würde das für die Attraktivität des Berufs in Zeiten des Pädagogenmangels bedeuten? 

 

KMK-Präsidentin Günther-Wünsch: Pflicht zur
Zeiterfassung gefährdet Attraktivität des Lehrerberufs

 

Grund für Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), zurzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), einen Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zu schreiben, in dem sie doch noch gesetzliche Sonderregelungen für Lehrkräfte und für die Wissenschaft einfordert. Die Antwort, die sie kürzlich aus Heils Ministerium erhalten hat und die mir ebenfalls vorliegt, dürfte Günther-Wünsch freilich nicht gefallen. Kurz gefasst lautet sie: Bei der Pflicht zur Zeiterfassung kann es nach Meinung des BMAS keine grundsätzliche Ausnahme geben, weder für Schulen noch für Hochschulen oder sonstige Wissenschaftseinrichtungen, und auch Beamte fallen unter die Regelung. Folgt man der Logik des Ministeriums, hieße das sogar: Lehrkräfte könnten theoretisch schon jetzt jederzeit eine Zeiterfassung einklagen. 

 

In ihrem Schreiben vom 11. Juli hatte KMK-Präsidentin Günther-Wünsch kritisiert, der gegenwärtige Referentenentwurf zum Arbeitszeitgesetz trage der "besondere(n) Situation der Lehrkräfte" nicht Rechnung. Diese bestehe darin, dass die Arbeitszeit von Lehrkräften, ob Beamte oder nicht, nur zu einem Teil messbar sei, und zwar in Form der erteilten Unterrichtsstunden, "während sie im Übrigen hinsichtlich der zahlreichen außenunterrichtlichen Tätigkeiten (Unterrichtsvorteil- und Nachbereitung, Korrekturen, Eltern- und Schülerbesprechungen, Verwaltungsarbeiten, Vertretungen, Aufsichten, Konferenzen, Schulausflüge, Klassenfahrten etc.) nicht im Einzelnen im Vorfeld prognostiziert und auch nicht arbeitgeberseitig überprüft werden kann." Es gehöre zum Berufsbild der Lehrkraft, "dass diese ihre Aufgaben eigenverantwortlich und selbstständig ausübt".

 

Außerdem, führte Günther-Wünsch aus, drohe eine Ungleichbehandlung, weil die geplante Novelle des Arbeitszeitgesetzes die Erfassungspflicht nur für tarifbeschäftigte Lehrkräfte festlegen würde. Eine solche Ungleichbehandlung widerspreche aber dem europäischen Arbeitnehmerbegriff. Und die KMK-Präsidentin warnte: Inmitten des Lehrkräftemangels hänge die Attraktivität des Lehrerberufs "maßgeblich mit der Flexibilität der zeitlichen Arbeitseinteilung zusammen".

 

Arbeitsministerium: Nachteil einer Aufteilungspflicht
in Schulen und Hochschulen "nicht ersichtlich"

 

Die Antwort aus dem BMAS wurde von Heils beamteter Staatssekretärin Lilian Tschan verfasst, und sie gibt Günther-Wünsch Recht – aber mit anderen Konsequenzen als von dieser erhofft: "Wie Sie richtig darstellen", schrieb Tschan Anfang August, schließe der europäische Arbeitnehmerbegriff Beamte ein. Daher müssten auch die für das Beamtenrecht zuständigen Innenministerien des Bundes under Länder die Auswirkungen der EuGH-Entscheidung von 2019 prüfen.

 

Soll heißen: Die von Günther-Wünsch geforderte Gleichbehandlung besteht nach BMAS-Auffassung darin, dass wahrscheinlich auch Beamte ihre Arbeitszeit erfassen müssten, womit es tatsächlich zwischen angestellten und verbeamteten Lehrern keinen Unterschied mehr gäbe. Tschan macht das mit Verweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2022 nochmal explizit: "Auch das vom BAG in Bezug genommene Arbeitsschutzgesetz findet auf Beamtinnen und Beamte Anwendung."

 

Bleibt der Streitpunkt Wissenschaft. Auch hierauf war KMK-Präsidentin Günther-Wünsch in ihrem Brief an Heil eingegangen und hatte gefordert, dass "die Besonderheiten eines Arbeitnehmers im Bereich der Forschung und Lehre" in der geplanten Novelle Berücksichtigung finden sollten. Andernfalls drohe hier eine weitere Ungleichbehandlung: Zum einen seien da die Professoren, die auch unabhängig von einer Verbeamtung wegen der Besonderheit und Eigenständigkeit ihrer Tätigkeit nicht unter die Arbeitszeiterfassung fielen, zum anderen gebe es den Akademische Mittelbau, für den sich "künftig Fragen insbesondere in Bezug auf die einzelnen Personalkategorien" ergeben könnten.

 

Deshalb bitte sie um Prüfung, ob für die Wissenschaft die Ausnahmevorschrift der Europäische Arbeitszeitrichtlinie angewandt werden könne. Diese nehme Personen von der Zeiterfassung aus, "deren Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt werden kann, sowie Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis". 

 

Doch auch hier lautet die Antwort auf dem BMAS: Njet. Tschan schrieb: "Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten sind heute schon für Arbeitnehmerinnen in Schulen und Hochschulen einzuhalten und werden durch die Arbeitszeiterfassung nicht verändert. Daher sind für mich nachteilige Auswirkungen der Aufzeichnungspflicht nicht ersichtlich."

 

Pocht das Arbeitsministerium so auf der geltenden Rechtslage, weil die Novelle nicht vorankommt?

 

Außerdem werde die von Günther-Wünsch erwähnte Ausnahmeregelung der EU-Arbeitszeitrichtlinie  vom EuGH "eng ausgelegt", ergänzt Tschan. "Die Vorschrift kann daher nur in Bezug auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genutzt werden, bei denen die gesamte Arbeitszeit (Dauer und Lage) wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann." Sie finde hingegen keine Anwendung, wenn die Arbeitszeit nur teilweise nicht gemessen oder nicht im Voraus festlegt oder nur zum Teil selbst festgelegt werden könne. "Der Umstand, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nicht entgegen." 

 

Die Botschaft aus dem BMAS scheint damit klar: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt nach Auffassung des Ministeriums schon heute umfassend für alle Lehrkräfte in den Schulen, die Kultusministerien müssten sie jetzt umsetzen. Ob Gerichte das genauso sehen, bleibt abzuwarten. Doch erste entsprechende Klagen könnten jederzeit kommen.

 

In der Wissenschaft ist die Lage ähnlich: Auch für sie lehnt das BMAS eine Bereichsausnahme ab. Wie die Hochschulen und Forschungsorganisationen darauf reagieren, die seit Jahren genau eine solche Regelung fordern, wird spannend. Zumal die Unsicherheiten an der Stelle bleiben – verweigert das Arbeitsministerium in seiner sonst so klaren Antwort doch eine eindeutige Positionierung, ob zumindest Profs auch künftig nicht ihre Arbeitszeit erfassen müssen.

 

Vielleicht pocht man im BMAS ja deshalb so auf die vermeintlich bereits geltende Rechtslage, weil die Gesetzesnovelle festzustecken scheint. Nach Bekanntwerden des Referentenentwurfs ist nicht mehr viel passiert, weil die Bundesministerien untereinander im Clinch liegen sollen. Vor allem die FDP stehe auf der Bremse, heißt es in der Ampel-Koalition. Offiziell teilt das Arbeitsministerium auf Anfrage lediglich mit, dass der Gesetzentwurf sich "derzeit in der regierungsinternen Abstimmung befindet. Alles Weitere bleibt abzuwarten."


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Kommentare: 22 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Django (Donnerstag, 31 August 2023 09:22)

    Man hört die Nachtigall doch laut und vernehmlich trapsen. Sollten z.B. Lehrerinnen und Lehrer anfangen, ihre Arbeitszeit ex post aufzuschreiben, käme wahrscheinlich schnell heraus - zuindest bei denen, die ihren Beruf ernst nehmen - , dass sie unbezahlte Mehrarbeit in nicht unerheblichem Umfang leisten. Das heißt, die Personaldecke ist noch kürzer als sie im Moment erscheint.

  • #2

    Edith Riedel (Donnerstag, 31 August 2023 09:56)

    Genau wie bei den Lehrer*innen würde sich auch bei den Wissenschaftler*innen sehr schnell herausstellen, dass exzessiv unbezahlte Mehrarbeit geleistet wird, oft auch zu zuschlagsrelevanten Zeiten (nachts, am Wochenende). Daran hat ein System, das auf Selbst- und Fremdausbeutung beruht, natürlich kein Interesse. Schön, dass das Bundesarbeitsministerium hier zumindest mal versucht, den Riegel vorzuschieben. Bleibt abzuwarten, ob das erfolgreich ist.

  • #3

    Michael (Donnerstag, 31 August 2023 10:07)

    Die Hochschulen hätten gerne Ausnahmen von allen Regelungen, das sieht man ja auch schon beim WissZeitVG. Ich sehe hier keinen Nachteil für die Arbeitnehmer, sehr wohl aber Probleme für die Arbeitgeber, hier können ja beispielsweise Doktoranden nicht mehr so ausgenutzt werden, wie das ohne Kontrolle der Arbeitszeiten passieren kann. Es führt dann auch zu der kuriosen Situation, dass TAs ihre Arbeitszeiten erfassen müssen, während das für die Wissenschaftler nicht gilt.

  • #4

    EmCe² (Donnerstag, 31 August 2023 10:51)

    @Fr. Riedel: Dann muss man sich aber ebenfalls fragen lassen, wie hoch der Anteil derjenigen Lehrer*innen etc. ist, die - weder in der Hochphase der Pandemie noch jetzt - schwer bis gar nicht zu erreichen ist und dessen Engagement insofern zu wünschen lässt, als dass man auch da kritisch fragen muss, ob denn das Minimum an Arbeitszeit überhaupt erbracht wurde. Dass es Mehrarbeit in vielen Ausprägungen gibt, ist sicher nicht anzuzweifeln. Das Gegenteil jedoch in der Diskussion zu ignorieren, kann auch nicht der richtige Ansatz sein. Man muss, insbesondere also der Arbeitgeber, die Möglichkeit haben, sicherzustellen, dass jemand "für´s Geld auch was tut"... Denn da wo das Potenzial die einen ausbeutet, die aus Eigeninitiative, Überzeugung und Herzblut mehr machen, als sie müssten, gibt es auch immer diejenigen, die sich auf dem "ausruhen" was sie haben / nicht nachweisen müssen etc. - und das bei Lehrer*innen, Professor*innen wie auch Tarifbeschäftigten .

  • #5

    BUSchneider (Donnerstag, 31 August 2023 10:55)

    Wissenschaft lebt elementar von freier Ausgestaltung und gerade in diesem Bereich ist es gerade nicht so, dass jede Minute "Arbeit" eindeutig als solche definier- und erfassbar ist. Ein Nachdenken auf einem Spaziergang bringt vielleicht eine wesentliche wissenschaftliche Erkenntnis - wie passt das in einen Arbeitszeitaufschrieb?

    Hat jemand die Wissenschaftler gefragt, ob sie diesen "Schutz" durch Arbeitszeitaufschriebe überhaupt wollen oder ob ihnen die freie Ausgestaltung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit wichtiger ist? Wir haben das an unserer Hochschule (indirekt und vor wenigen Jahren) gemacht und das Ergebnis war eindeutig: Der "Schutz" war nicht gewollt und wir leben Vertrauensarbeitszeit hier sehr erfolgreich.

    Es war schon immer so, dass man für jede zusätzliche Gängelung und jede Einschränkung von Flexibilität und Freiheit irgendeine Zielgruppe herangezogen hat, die "unbedingt" Schutz benötigt.

    Das Ergebnis sieht man jeden Tag - eine total überregulierte
    Gesellschaft, in der alles und jedes bis ins Detail geregelt
    werden muss.

    Ich hoffe, dass sich die Überregulierer zumindest im Bereich
    der Wissenschaft nicht durchsetzen.

    Und nebenbei - warum sollen HochschullehrerInnen eigentlich ausgenommen sein? Die Regeln des Arbeitsschutzes, die hier - insgesamt wenig nachvollziehbar - herangezogen werden, gelten auch für HochschullehrerInnen.

  • #6

    Michael Liebendörfer (Donnerstag, 31 August 2023 11:25)

    Die Kirche wird im Dorf bleiben. Zumindest für die Wissenschaft ahne ich eine wenig spektakuläre Zukunft.

    - Die meisten werden eine Dokumentation der "Arbeitszeit" mit geringem Aufwand erstellen, erstaunlicherweise weder mit vielen Überstunden noch mit Fehlstunden. Wir kennen doch alle solche Listen von unseren Hilfskräften.
    - In manchen Fällen wird es Streit geben, da hilft eine exakt dokumentiere Arbeitszeit vielleicht noch etwas. Das ging aber bisher auch. Und den Streit können sich eigentlich nur Leute auf Dauerstellen leisten.
    - Wer unbezahlte Überstunden im wissenschaftlichen Wettbewerb leisten will, wird das weiter tun. Entweder man wird das legal können (Grundrecht Wissenschaftsfreiheit) oder man wird eben nicht alles dokumentieren. Hier hilft, dass aufgewendete Arbeitszeit wie beschrieben für den Arbeitgeber nicht immer nachvollziehbar ist.

    Echte Änderungen sind nur da zu erwarten, wo Leute angewiesen werden, mehr als vertraglich vereinbart zu leisten - und dieses "Mehr" persönlich nicht auch irgendwie wollen. Das ist gut. Zumindest in meinem Umfeld trifft das aber nur selten zu. Die große Mehrheit der Überstunden basiert auf Chancen und Wünschen (mehr Publikationen, eine sehr gute Promotion, usw.). Der akademische Leistungsdruck ist nicht schön, aber wer will eine Welt, in der Hannas Chef:in anordnet, die Deadline für das special issue verstreichen zu lassen und die Konferenzreise abzusagen, weil dafür nicht genug Arbeitszeit da ist?

  • #7

    Klaus (Donnerstag, 31 August 2023 17:17)

    Als angestellter Professor (ja, die gibt es) gehe ich davon aus, dass die Argumentation des BMAS auch für mich gilt, ähnlich wie in der Differenz angestellter und verbeamteter Lehrer*innen.
    Wenn diese Argumentation und Einschätzung der Rechtslage gehalten wird, dann scheint es mir unumgänglich dies auch auf verbeamtete Professor*innen zu übertragen.

    Allerdings - und hier wird es meines Erachtens spannend - kenne ich einige Kolleg*innen, die angekündigt haben sich immer 8 Stunden aufzuschreiben, unabhängig von dem, was sie tatsächlich leisten.
    Wir werden hier - hoffentlich - genügend "Whistleblower" finden, die auf Unregelmäßigkeiten in der Arbeitszeiterfassung hinweisen, so dass diese ihren Kontrollaspekt zur Verhinderung von Mehrarbeit auch leistet. Der Gewinn liegt dann nämlich nicht in weniger Papers pro Person oder abgesagten Konferenzreisen, sondern in einer realistischeren Setzung von Deadlines.

    Das wäre meine Hoffnung.

  • #8

    Zinnsoldat (Freitag, 01 September 2023 07:23)

    Wenn es zu einer Zeiterfassung gepaart mit den aktuellen Vorstellungen zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes kommt, werden Scheunentore der Einklagmöglichkeiten auf unbefristete Beschäftigungsverhältnisse geöffnet. Die einzig realistische Ausweichbewegung des deutschen Wissenschaftssystems wird sein, statt Beschäftigungsverhältnisse Stipendien zu vergeben. Die neuen Regelungen müssen ins aktuelle Systemkorsett passen, ansonsten werden alternative Möglichkeiten zur Finanzierung junger Wissenschaftskarrieren gesucht, die bereits funktionieren.

  • #9

    Nikolaus Bourdos (Samstag, 02 September 2023 10:57)

    @Zinnsoldat: Guter Punkt! Dabei wollen wir doch gerade weg von einem Übermaß an Stipendien, um Doktoranden zB eine bessere soziale Absicherung zu ermöglichen. Gott bewahre, dass sich dieser Trend wieder umgekehrt und es sogar bei Postdocs mehr Stipendien geben wird. Jedoch wäre für mich schwer vorstellbar, dass sich Drittmittelgeber wie die DFG darauf einlassen würden.

  • #10

    Franz Schreiber (Samstag, 02 September 2023 12:58)

    Wollte die amtierende Regierung nicht gerade den Abbau von Bürokratie betreiben? Wenn es schon nicht mehr um Qualität in der Sache geht, dann kann man wenigstens Beschäftigung mit der Quantität demonstrieren. Armes Deutschland!

  • #11

    oh je (Samstag, 02 September 2023 13:34)

    Zeiterfassung in der Wissenschaft ist ein unglaublicher Schwachsinn. Darauf können nur Leute kommen, die nie geforscht haben. Selbstverständlich kann das nur unterlaufen werden, so wie es jetzt bereits in Österreich der Fall ist. Man gibt jede Woche denselben Stundenzettel ab und lacht darüber. So wie oben in Beiträgen bereits erwähnt, ein Wissenschaftler denkt bei allen möglichen Gelegenheiten über seine Probleme nach. Als ich promoviert habe und meine Kinder klein, habe ich abends beim Geschichtenvorlesen über meine mathematischen Fragestellungen nachgedacht. Wenn man drin ist im Problem, geht sowas. Beim Duschen, beim Staubsaugen, beim Bügeln. Immer. Und wer leidenschaftlich forscht, qualifiziert dieses Nachdenken nicht als Arbeit, sondern als Sinn seines Lebens. Anderswo lacht man nur noch über D.

  • #12

    Sonstige (Sonntag, 03 September 2023 09:11)

    Es wäre interessant zu wissen, wie das europäische Ausland die Vorgaben umsetzt. Ob dort eine Arbeitszeiterfassung für Lehrer und Wissenschaftler erfolgt. Hierzu hat bislang kein Journalist recherchiert und den Kontext hergestellt.
    Das würde vielleicht die aufgeregten Gemüter beruhigen.

  • #13

    Eine Hanna (Sonntag, 03 September 2023 10:22)

    @EmCe²: Wenn Sie Minderarbeit vermuten, was meiner Ansicht nach bei Lehrer:innen seltenst der Fall ist, ist doch eine Arbeitszeiterfassung ebenfalls hilfreich?
    @Michael Liebendörfer: "wer will eine Welt, in der Hannas Chef:in anordnet, die Deadline für das special issue verstreichen zu lassen und die Konferenzreise abzusagen, weil dafür nicht genug Arbeitszeit da ist?" - Viele Hanna's hätten gern eine Welt, in der überhaupt genug Arbeitszeit für ihre Dissertation oder Habilitation da ist. Eine Welt wäre schön, in der nach WissZVG befristete Hochdeputatsstellen für Wiss. Mitarbeiterinnen (z.B. mit 10 LVS in Niedersachsen oder 11 LVS in Brandenburg) der Vergangenheit angehören. Es muss v.a. die Einhaltung der Arbeitszeitanteile gemessen und dokumentiert werden, die für Lehre, Administration und Forachungsdienstleistungen zu erbringen ist, damit der nach WissZVG vorgesehene Anteil zu eigenen Weiterqualifikation überhaupt gegeben ist. (Wer dann noch privat mehr für seine Forschung macht, bitteschön). - In der Niedersächsischen LVVO §4(2)2 hat man ja sogar explizit Lehre (!) der eigenen Weiterqualifikation zugerechnet, so dass die Hochschulen nach WissZVG befristen und hohe Deputate vergeben können, ohne dass jemand in der Qualifikationsphase genügend Zeit für die Qualifikation bekommt. In Niedersachsen qualifiziert man sich auf befristeten Stellen für die Lehre (und nicht für die Promotion/Habilitation). Um dieses Ausnutzen zu beenden ist die Arbeitszeiterfassung ein erster Schritt. Es müssen auch die Lehrdeputate für nach WissZVG befristete Personen auf 2-4 LVS reduziert und Ausnahmen/Umgehungskonstruktionen aus den LVVO entfernt werden.

  • #14

    Wirklich? (Sonntag, 03 September 2023 12:38)

    @Klaus: Sie schreiben

    "Allerdings - und hier wird es meines Erachtens spannend - kenne ich einige Kolleg*innen, die angekündigt haben sich immer 8 Stunden aufzuschreiben, unabhängig von dem, was sie tatsächlich leisten.
    Wir werden hier - hoffentlich - genügend "Whistleblower" finden, die auf Unregelmäßigkeiten in der Arbeitszeiterfassung hinweisen, so dass diese ihren Kontrollaspekt zur Verhinderung von Mehrarbeit auch leistet."

    Schlagen Sie hier allen Ernstes vor, Kollegen zu denunzieren, weil die länger als 8h pro Tag über wiss. Probleme nachdenken wollen? Oder wie meinen Sie das?

  • #15

    Remus (Montag, 04 September 2023 12:49)

    @BUSchneider: "Ein Nachdenken auf einem Spaziergang bringt vielleicht eine wesentliche wissenschaftliche Erkenntnis - wie passt das in einen Arbeitszeitaufschrieb?"
    Das gilt grundsätzlich auch in den meisten anderen Gebieten, wenn einem Koch beim Spaziergang eine Idee für ein neues Gericht kommt, oder der Bäcker eine neue Idee für eine Kuchenkreation hat.

  • #16

    Zeiterfassung ändert an Mehrarbeitnichts (Montag, 04 September 2023 18:25)

    Zeiterfassung, selbst elektronische Zeiterfassung, ändert an "freiwilliger" Mehrarbeit nichts. Entweder wird nach dem "Ausstechen" weiter gearbeitet oder, noch perfider, das System kappt nach der maximal zulässigen Arbeitszeit, egal, wann man sich aussticht. Das Home Office trägt dem Überstundenmachen (in Zuschlagszeiten wie z.B. nachts) sogar noch zu. Hier wird ein riesiger Aufwand für etwas gestartet, was abgesehen von Ausnahmefällen nichts bewirken wird. (Und ja, ich habe schon mit allen Regelungen gearbeitet: Arbeit ohne Zeiterfassung, Arbeit mit elektronischer Zeiterfassung, Arbeit mit selbstverantworteter Zeiterfassung - ausschlaggebend war allein das Umfeld, das Vorgesetzte geschaffen haben.)

  • #17

    oh je (Montag, 04 September 2023 23:08)

    An den Blogeinträgen hier sieht man, dass die meisten nicht verstehen, dass Zeiterfassung völlig sinnlos ist für Wissenschaftler. Wer selbständig forscht und publiziert, arbeitet für sich selbst und nicht für irgendeinen Chef. Das scheint vielen Leuten überhaupt nicht klar zu sein. Da muss nichts erfasst werden, wozu denn bloß? Es gibt natürlich Leute, die im Labor als wiss. Mitarbeiter unselbständig Auftragsarbeit leisten. Da mag es Sinn machen, von unbezahlter Mehrarbeit und Überstunden zu sprechen, bei eigenständigen Forschern ist das gesamte Konzept der Arbeitszeiterfassung völlig absurd. Na ja, das wird sich wie gesagt von alleine erledigen, auch wenn hier manche schon nach Denunziation rufen, s.o.

  • #18

    Hanna (Dienstag, 05 September 2023 15:59)

    @oh je: "An den Blogeinträgen hier sieht man, dass die meisten nicht verstehen, dass Zeiterfassung völlig sinnlos ist für Wissenschaftler. Wer selbständig forscht und publiziert, arbeitet für sich selbst und nicht für irgendeinen Chef."

    Hier scheint ein Missverständnis vorzulegen: Die meisten Personen, die in der Wissenschaft arbeiten, arbeiten gerade nicht für sich selbst, sondern sind weisungsgebunden. Sie arbeiten in Forschungsprojekten, in der Hochschullehre usw. Damit hier die Vorgesetzten bzw. die Institution die Arbeitskraft nicht ungebührlich ausnutzen können, ist Zeiterfassung sinnvoll. Auch in privatwirtschaftlichen Forschungsabteilungen wird die Arbeitszeit standardmäßig erfasst. In anderen Ländern oder in der Akademie der Wissenschaften funktioniert Zeiterfassung auch. Wenn es gut gemacht ist, kostet es keine Minute am Tag.

  • #19

    Edith Riedel (Dienstag, 05 September 2023 16:00)

    @oh je. Sie merken schon, dass sie hier zahlenmäßig für eine sehr kleine Klientel sprechen, und zudem den Begriff der Wissenschaftler*innen sehr eng fassen? Die wiss. Mitarbeiter*innen im Labor , die "unselbständige Auftragsarbeit" leisten, machen nun mal den Großteil des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen aus. Selbständig forschen und publizieren tun Professor*innen und Nachwuchsgruppenleiter*innen, alle anderen forschen (oder lehren) per Definitionam weisungsgebunden und daher "unselbständig", wenn Sie das so nennen wollen: alle Promovierenden und Postdocs, aber auch akademische Räte, Lehrkräfte für besondere Aufgaben, etc. Fassen wir zusammen: der Großteil der Wissenschaftler*innen an Hochschulen forscht und publiziert weisungsgebunden. Für diesen Großteil sind unbezahlte Mehrarbeit und Überstunden sehr wohl ein Thema, und diese Menschen sollten vor Ausbeutung geschützt werden. Es ist übrigens, nebenbei bemerkt, eine recht durchsichtige Verunglimpgung, Whistleblower*innen Denunziation vorzuwerfen. Ich hoffe, die Kolleg*innen bringen den Mut auf, Missstände anzuprangern!

  • #20

    oh je (Donnerstag, 07 September 2023 18:35)

    @Edith Riedel und @Hanna

    ich forsche und publiziere seit 30 Jahren im Bereich Mathematik. Alleine oder mit Mitarbeitern oder Kollegen. Alle mir bekannten Kollegen, die mit ihren Mitarbeitern gemeinsam forschen, tun das auf Augenhoehe. Das ergibt sich ganz simpel daraus, dass nur das Ergebnis zaehlt und nicht, wer er rausbekommen hat. Sie arbeiten gemeinsam an einem Problem. Wer eine Idee hat, verfolgt sie einfach. Egal, ob Mitarbeiter oder Lehrstuhlinhaber. Ich kenne niemanden im Bereich Mathematik (und Informatik und Ingwiss.), der nur deshalb publiziert, weil es ihm befohlen wurde. Wie sollte das gehen? Ich frage mich, welche Forschungserfahrung Sie selbst eigentlich haben, um derartige Behauptungen aufstellen zu können. Dass es bei gross angelegten Experimenten in den Natur- oder Ingwissenschaften technische Mitarbeiter gibt, die reine Standardaufgaben durchfuehren und selbstverstaendlich vor Ausbeutung geschuetzt werden muessen, ist eine andere Sache. Das hat mit Forschen aber nichts zu tun.

  • #21

    oh je (Donnerstag, 07 September 2023 18:40)

    @Edith Riedel

    Nachtrag zum Thema Whistleblower: Wenn Sie den Beitrag des Kollegen "Klaus" genau gelesen haetten, dann haetten Sie bemerkt, dass er dazu aufruft, kuenftig Personen wie mich, die zu jeder beliebigen Tages und Nachtzeit ueber ihre wiss. Probleme nachdenken und kuenftig - sollte es tatsaechlich auch auf Professorenebene dazu kommen - einen fake Stundenzettel abgeben, und das dann im Kollegenkreis mitteilen, zu denunzieren. Ich bin fassungslos ueber diesen Irrsinn, der hier stattfindet. Und nochmals: in Oesterreich gibt es die Zeiterfassung schon und dort wird sie als laecherlich eingeordnet und sinnvollerweise unterlaufen.

  • #22

    Foam (Freitag, 08 September 2023)

    @oh je
    Bitte gehen Sie in die Wirtschaft oder gründen Sie Ihr eigenes Unternehmen. Sie werden von öffentlichen Geldern finanziert und wollen gleichzeitig Gesetzen keine Folge leisten? In welcher Märchenwelt leben viele Wissenschaftler_Innen eigentlich?
    Der Grund warum Menschen Ihr Fehlverhalten aktiv melden wollen ist doch gerade diese Misslage. Sie haben etwas gegen eine Zeiterfassung? Klagen Sie.