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Das stille Leiden der Betroffenen

Wie es sein kann, dass jeden Tag einflussreiche Wissenschaftler:innen ihre Macht missbrauchen, viele es wissen und trotzdem nichts geschieht? Ein Essay über fehlende Kontrollmechanismen und die Ohnmacht als Berichterstatter.

Foto: Pxhere, CCO.

ES GIBT AUGENBLICKE, da gerate ich als Journalist an meine Grenzen. Da recherchiere ich über Monate, werde im Laufe der Zeit immer überzeugter, dass dramatisch etwas im Argen liegt – und kann am Ende doch nicht öffentlich darüber berichten. Warum? Weil die Erfahrung für die Betroffenen so niederschmetternd war, weil sie solche Sorgen und solche Ängste haben, dass sie zwar im Vertrauen darüber berichten. Aber sich sofort zurückziehen, wenn ich sie frage, ob ich mich in einem Artikel auf ihre Vorwürfe berufen dürfte.

 

Ich rede, Sie ahnen es, von mutmaßlichem Machtmissbrauch. Von systematischem Fehlverhalten einer Führungspersönlichkeit, das sich, stimmt das gute Dutzend mir vorliegender Zeugenberichte, über viele Jahre zieht und an verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen stattgefunden hat. Ich werde nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt, auch nicht, ob die Person eine Universität oder eine Hochschule für angewandte Wissenschaften leitet. Ich kann und werde Ihnen keine Information geben, aus der sich eine Identität ableiten lässt. Sie können sich kaum vorstellen, wie mich das frustriert angesichts all dessen, was ich an Berichten gehört habe. Zumal alle Aussagen zusammengenommen ein so stimmiges Gesamtbild ergeben, dass ich wenig Zweifel habe, dass sie den Tatsachen entsprechen.

 

Doch in erster Linie trage ich eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die zu Opfern dieser Person geworden zu sein scheinen und sich mir gegenüber offenbart haben. Ich müsste sie in meinem Artikel zwar nicht namentlich nennen. Aber spätestens wenn ich mich, was wahrscheinlich wäre, nach Veröffentlichung mit presserechtlichen Gegenmaßnahmen der beschuldigten Person konfrontiert sähe, müsste ich meine Aussagen belegen, das heißt: Dokumente vorlegen oder meine Quellen um eine juristisch wasserdichte eidesstattliche Erklärung bitten. Da aber besagte Führungspersönlichkeit offenbar ungemein geschickt agiert, existieren keine schriftlichen Zeugnisse persönlicher Verfehlungen, die für sich stehend aussagekräftig genug wären. Also käme es auf die eidesstattlichen Erklärungen an. 

 

Womit der Führungspersönlichkeit klar wäre, wer sich hier gegen sie auflehnt. Und genau das fürchten meine Gesprächspartner:innen mehr als alles Andere. Die einen, weil sie immer noch traumatisiert sind. Die anderen, weil sie noch irgendwo in der Wissenschaft tätig sind und den so langen wie mächtigen Arm der Person fürchten, unter der sie, wie sie sagen, so gelitten haben. Es gibt auch noch eine dritte Gruppe: diejenigen, die zwar mit mir geredet haben, aber nur widerwillig – und am liebsten das ganze Thema einfach hinter sich lassen wollen.

 

Was zum Wesen des
Machtmissbrauchs gehört

 

Jetzt runzeln Sie vielleicht die Stirn und fragen: Kann das wirklich sein? So viele Leute, die alle dasselbe sagen, die angeblich so gelitten haben, und keine traut sich an die Öffentlichkeit? Meine Antwort: Ja, das kann sein. Und schon die Skepsis der so Fragenden hilft, so verständlich sie ist, den mutmaßlichen Tätern. Denn ich glaube nicht, dass meine Erfahrung ein Einzelfall ist. Ich glaube, genau das gehört zum Wesen des Machtmissbrauchs, dass die erlebte Ohnmacht mitunter noch lange weitergeht, selbst wenn man der konkreten Situation entkommen zu sein scheint. 

 

Und womöglich eignet sich genau die Wissenschaft besonders gut für das Entstehen dieser Art von Ohnmacht: durch die Art, wie in Hochschulen und Forschungsinstituten persönliche Abhängigkeiten entstehen, materiell und emotional, ohne ausreichende Transparenz, ohne Möglichkeit der institutionellen Abhilfe. Denn je weiter oben das Problem besteht, desto kleiner ist das Vertrauen in die Wirksamkeit der vorhandenen Kontrollmechanismen. Und so kommt es, dass an vielen Institutionen der Wissenschaft viele ziemlich gut Bescheid wissen über Personen, die ihre Untergebenen schlecht behandeln, mobben, krank machen, aber aus diesem Wissen nichts folgt. 

 

Um es klar zu sagen: Die weit überwiegende Zahl an Führungskräften verhält sich in der Wissenschaft verantwortungsbewusst und will für die Menschen um sie herum nur das Beste. Und als Journalist trage ich auch im konkreten Fall der beschuldigten Person gegenüber ebenfalls eine Verantwortung. Sie hat ein Anrecht darauf, dass die gegen sie gerichteten Vorwürfe nicht halboffen durch die Medienöffentlichkeit geraunt werden. Und obwohl ich überzeugt bin, dass all die Vorwürfe im Kern zutreffen – sie bestreitet es. Zu Recht gibt es ethische, professionelle und juristische Maßstäbe, die hohe Hürden für eine identifizierende Berichterstattung bedeuten. Nur trägt natürlich auch das wieder zum Frust der mutmaßlichen Opfer bei. Wieso kann das sein?, fragen sie. Wieso kommt diese Person damit durch?

 

Zumal, das darf man ebenfalls nicht vergessen, Machtmissbrauch und Fehlverhalten normalerweise nicht einfach enden. Das heißt, dass mutmaßlich noch mehr Menschen leiden werden. Auch wenn die beschuldigte Führungskraft nach Aussagen ihres nahen Umfelds zuletzt deutlich anders aufgetreten sein soll – seit ich sie von meiner Recherche informiert habe? Das wäre ja immerhin etwas. Aber wie lange hält das? Und was folgt daraus?

 

Was jeden Tag verborgen
vor der Öffentlichkeit geschieht

 

Ich werde jedenfalls meine Arbeit fortsetzen und Missstände, wo ich ihnen begegne, wo immer möglich, so offen wie möglich benennen und recherchieren. So habe ich es immer gehalten. Nur, das habe ich in den vergangenen Monaten nochmal lernen müssen, es geht eben nicht immer. Zumindest nicht sofort.

 

Ich weiß, dass ich Sie jetzt unbefriedigt zurücklasse. Sie würden so gern mehr wissen über die Art der Vorwürfe, über konkrete Zwischenfälle, Ereignisse und Äußerungen, wo sich was zugetragen hat, ob die betroffene Person jemals Sanktionen oder Gegenwind erlebt hat, wer zu welchem Zeitpunkt was wusste oder ahnte und von welchem Zeitraum wir sprechen. Aber so Leid es mir tut: All das werde ich nicht liefern können.  

 

Aber ich wollte Sie teilhaben lassen an meinem Frust und meinem Dilemma. Und falls Sie es noch nicht sind, wollte ich Sie noch ein Stückweit aufmerksamer machen gegenüber dem, was auch in Institutionen der Wissenschaft verborgen vom Blick der Öffentlichkeit jeden Tag geschieht.

 

Dabei sind es meist nicht die krassen Vergehen, die den Gegenstand einer Straftat erfüllen. Im Gegenteil: Ich bin davon überzeugt, dass viele derjenigen, die systematischen Machtmissbrauch betreiben, ihr Verhalten selbst so nie nennen würden. Es womöglich sogar für normal halten und Menschen, die damit nicht klarkommen, für zu zimperlich. Die nicht merken oder nicht merken wollen, wie sie Karrieren beeinträchtigen, was für Wunden sie reißen, und wie lange diese bei einigen bleiben.

 

Woran man den Durchbruch
wird erkennen können

 

Genau deshalb ist es so wichtig und überfällig, dass die Debatte über Machtmissbrauch die deutsche Wissenschaft erreicht hat und erst wieder aufhört, wenn die Karriere- und Kontrollsysteme andere sind. Führende Wissenschaftsmanager erklären inzwischen regelmäßig, sie hätten das Problem erkannt, Hochschulen geben Erklärungen und Selbstverpflichtungen ab. Zuletzt hatte die Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die besondere Verantwortung der Rektorate und Präsidien bekräftigt, entschieden gegen Machtmissbrauch an Hochschulen vorzugehen. Weshalb jetzt Vorschläge zur Weiterentwicklung und Verbesserung bestehender Verfahrensweisen in der HRK erarbeitet werden sollen.

 

Das ist respektabel und erfreulich, doch wird es reichen? Das Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft kritisiert in einem offenen Brief an die HRK, dass in der Pressemitteilung "die Ignoranz gegenüber den ermöglichenden Faktoren, der Vielfalt und der hohen Dunkelziffer von Machtmissbrauch deutlich" würde. Machtmissbrauch sei "ein systemimmanentes und strukturelles Phänomen des deutschen Hochschulsystems". Das Netzwerk fordert daher: "die Etablierung einer unabhängigen Kontroll- und Sanktionsinstanz mit entsprechenden Befugnissen und Ressourcen".

 

Woran man den Durchbruch erkennen wird? Daran, dass Opfer dann nicht mehr als Ausweg die Kündigung wählen, auch wenn sie dem eigenen beruflichen Erfolg schadet. Und daran, dass der Ruf nach Hilfe dann endlich nicht mehr Kraft und Mut erfordert als das stille Weiterleiden. 



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Kommentare: 16
  • #1

    Marcus (Montag, 20 November 2023 09:56)

    Vielen Dank für die Teilhabe an diesem nachvollziehbar frustrierenden Fall. Der Artikel schafft es, wie ich finde, sehr gut, die Bedeutung des Themas zu unterstreichen ohne auf konkrete Personen eingehen zu müssen.

    Natürlich gibt es Machtmissbrauch in allen Teilen der Gesellschaft. Was die Wissenschaft von anderen Berufskontexten unterscheidet, ist eine hohe intrinsische Motivation (man mag es auch Zuschreibung von Selbstverantwortung nennen) gepaart mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse und häufig einem absurden Maß an Abhängigkeit von den Vorgesetzten - gerade in der Promotionsphase.

    Wenn die HRK und andere Organisationen sich aktive Arbeit gegen Missbrauch auf die Fahnen schreiben wollen, dann müssen sie an diesen Stellen echte Veränderungen einfordern:
    stabile Wissenschaftsfinanzierung mit fairen Arbeitsverträgen, Aufsicht von Betreuungsverhältnissen und generell ein Modell weg vom bestehenden Lehrstuhlsystem.

  • #2

    Peter Wycisk (Montag, 20 November 2023 11:11)

    Bleiben Sie dem Athens treu. Hoffen wir auf sich verändernde Strukturen und eine zunehmendes Verantwortungsgefühl. Leider muss man sagen, das Personen in Personalverantwortung im Wissenschaftsbetrieb nicht automatisch Führungsqualitäten haben…

  • #3

    Who knows? (Montag, 20 November 2023 12:26)

    Herr Wiarda,
    Sie schreiben:
    "Die weit überwiegende Zahl an Führungskräften verhält sich in der Wissenschaft verantwortungsbewusst und will für die Menschen um sie herum nur das Beste. "

    Wie kommt es aber, dass man als Teil einer Minderheit in der Wissenschaft bei jeder Station eine Form von Machtmissbrauch durch eine bestimmte Gruppe erfährt? Sei es, dass man sich anbrüllen lassen muss, dass man sich als Forscher nicht frei entfalten kann, dass man nicht ernst genommen wird, dass man aktiv sabotiert wird, dass man aktiv übergangen wird, dass man sich immer zehnfach mehr beweisen muss?

    Schauen Sie sich genau an, welche Gruppierung die Macht ungern teil. Sie ist alt, weiss, und männlich i.d.R.

  • #4

    Tobias Denskus (Montag, 20 November 2023 18:22)

    Machtmissbrauch wird immer durch träge buerokratische Strukturen befördert, insbesondere dann, wenn Menschen verbeamtet oder sonstwie de-facto unkuendbar sind-die Kehrseite des öffentlichen Dienstes und der Freiheit die Verbeamtung insbesondere von Professorinnen mit sich bringt. Wer in diesen Strukturen Macht missbraucht weiss ganz genau, dass es mit "dann wird der halt entlassen" selten getan ist. Sicherlich trägt dazu bei, dass z.B. das Beamtenrecht hoffnungslos veraltet ist und oft kaum fuer moderne Arbeitsplätze gedacht ist. Und buerokratische Strukturen wie eine Uni haben aus Management-Sicht nur ein Ziel: Der Laden muss laufen. Dauerkranke, langwierige Prozesse, disziplinarische Wege stören da nur, denn der Betrieb ist auf Kante genäht: Wenn ich Prof X an den Pranger stelle, habe ich monatelang Theater und das schadet dem "Ruf". Es wird sich also wenig tun.

  • #5

    Ulrich Weber (Montag, 20 November 2023 19:05)

    Das Besondere in der Wissenschaft: die mehrfache Abhängigkeit: 1. Vorgesetztenfunktion mit Weisungsbefugnis (die Personalabteilung sieht nur die, nicht ob sinnvoll, angemessen etc.), 2. Begutachtung und Benotung der Promotion/Fürsprache für die Habilitation, 3. Zugang zur Science Community: Zeugnisse spielen hier kaum eine Rolle, aber Empfehlungen oder Schlechte Nachrede, 4. Schlüssel zu allen Ressourcen: Dienstreisegenehmigung, Reisekosten, Zugang zu Arbeitsmaterialien, zu Laboren, Großgeräten, …
    Hinzu kommt: die enge Zusammenarbeit in einer kleinen bzw. überschaubaren Arbeitsgruppe, das gemeinsame Interesse, persönliche Nähe über das Arbeitsverhältnis hinaus.

  • #6

    Karla K. (Montag, 20 November 2023 21:03)

    Lieber Herr Wiarda,

    Sie beschreiben auf den Punkt den Frust, der für Personalräte und Gleichstellungsbeauftragte trauriger Alltag ist, zum zermürbenden "Tagesgeschäft" gehört.

    Und nun stellen Sie sich vor, Sie müssten regelmäßig mit solchen Menschen Zeit in Gremiensitzungen verbringen. Müssen miterleben, wie solche Menschen mitunter noch hofiert werden, weil sie über die Zuweisung finanzieller und anderer Ressourcen entscheiden. Oder gefeiert werden, weil sie wieder ein dickes Drittmittelprojekt an Land gezogen haben. Zum Wohle des Fachbereichs, zum Wohle der Hochschule. Wer wird da schon so genau hinsehen? Der Zweck heiligt die Mittel.

    Da verschließen Hochschul- und Fachbereichsleitungen weit überwiegend lieber weiterhin die Augen und schwadronieren von "Einzelfällen" (Wobei "Einzelfall" ja eine Frage der Perspektive ist: wie viele "Fälle" hat der "Einzelfall" zu verantworten?). Und Politik und Wissenschaftsministerien teilen diese Lesart. Wie sollte sich da etwas ändern können?

    HRK und andere wollen weiterhin nur ein bisschen Kosmetik betreiben und weigern sich beharrlich, an den Ursachen des Problems anzusetzen. Zu viel steht auf dem "Spiel".

    Vielleicht sollte die Vergabe von staatlichen Mitteln (Ministerien, DFG, ZSL etc.) an den Nachweis geknüpft werden, dass die Hochschule das Problem Machtmissbrauch (und Diskriminierung und Gewalt) ernsthaft angeht. Und ein Bestandteil des Nachweises ist eine entsprechende Stellungnahme von Gleichstellungsbeauftragter, Personalräten und Studierendenvertreter:innen.

  • #7

    Dank an Herrn Wiarda (Dienstag, 21 November 2023 03:38)

    Solange Opfer oder Beteiligte von Machtmissbrauch existentielle und gesundheitliche Konsequenzen fürchten müssen und strukturell allein gelassen werden,

    … solange viele Führungsfiguren im Hochschulbetrieb v.a. Professor*innen sich nicht im professionellen Sinne als Führungskräfte und gesellschaftliche Verantwortungsträger*innen verstehen und v.a. für sie, obwohl von der Gemeinschaft hoch bezahlt, keine dem Gemeinwohl dienende Standards gelten,

    … solange akademische Selbstverwaltung bedeutet, dass v.a. höhere Gremien und zentrale Entscheidungsstrukturen im Hochschulbetrieb nicht selten impliziten machterhaltenden Mechanismen und weniger inhaltlichen Erfordernissen folgen (welcher abzustimmende Beschluss nützt wem und welcher schadet mit Blick auf die Ressourcen im eigenen Lager)

    … solange der organisatorische Aufbau sowie die Governance-Struktur in Hochschule oder Uni ein System ohne eine über alle Statusgruppen hinweg gerechte Machtverteilung - auch im Sinne von Checks und Balances ist,

    … solange auf Lippenbekenntnisse und geschönte Berichte von den Profiteur*innen, also von denen bei welchen die Macht zentriert ist, vertraut wird, anstatt wirksame Hebel zu bedienen und eben jene Mächtigen über sie kontrollierende Instanzen selbst entscheiden (und dabei teils sehr bewusst und strategisch Personen in expliziten oder subtileren Abhängigkeitsverhältnissen einsetzen)

    … solange Exzellenz im Sinne egoistischen Strebens verstanden und belohnt wird und Ressourcen nach diesem Prinzip auf allen Ebenen verteilt werden,

    … solange es nur wenige Versierte gibt, die diese Strukturen in Gänze durchschauen (wollen) und aufdecken, um sie dann sachlich breitenwirksam zu verhandeln und ernsthaft anzugehen,

    … solange es viel zu Viele gibt, die auf allen Ebenen wegschauen und sich so auf eine Art zu Beteiligten machen - von der Bundes- sowie Landespolitik angefangen bis in die Gremien- und Arbeitsstrukturen des Hochschulbetriebs hinein,

    … solange wird sich auch nichts ändern und wird es weiterhin schlecht bestellt sein, um Lehre und Forschung im deutschen Hochschulsystem, weil sich ein solcher Apparat leider nicht mit dem Ideal des freien, innovativen Denkens verträgt.

  • #8

    Edith Riedel (Dienstag, 21 November 2023 10:26)

    Dieses Beispiel ist symptomatisch für den deutschen Wissenschaftsbetrieb. Die Karrierechancen der vom Machtmissbrauch Betroffenen sind so sehr gefährdet, dass kaum eine*r Whistleblower*in sein möchte oder kann. Whistleblower*innen, die Karrierechancen außerhalb der Wissenschaft haben und diese auch wahrnehmen, werden nicht ernst genommen. Die Personalräte haben es schon lange aufgegeben, gegen Professor*innen vorzugehen, Anlaufstellen für Betroffene scheitern an dem hier geschilderten Problem: sie erfahren von Vorfällen, können sie aber nicht aufdecken und verfolgen, da die Angst der Betroffenen vor Repressalien viel zu groß ist. Hochschulleitungen sind hier in der Pflicht, wollen sich aber ihre Wiederwahl nicht verderben.

  • #9

    Andrea Büttner (Mittwoch, 22 November 2023 06:47)

    Danke
    In dem Moment, in dem die Erkenntnis um sich greift, dass das Wissenschaftssystem in Deutschland und gerade der wissenschaftliche Nachwuchs, dass Chancengerechtigkeit und Fairness so stark beschädigt wurden und durch die immer selben Personen weiter geschädigt werden, sobald die ersten Personen Namen nennen, gemeinsam, in dem Moment wird es zu einer Klärung mit ungeahntem Ruck kommen.
    Denn dann wird schlagartig klar werden:
    Es ist nie die eine Person, die Machtmissbrauch allein ausübt.
    Die Person lebt immer von der Struktur, in die sie eingebettet ist, von denen die zuarbeiten oder umsetzen, denen die (mit)wissen, denen die davon profitieren, dass die eine Person zentral und sichtbar für Machtmissbrauch steht und dass ihre eigene Mitwisserschaft und Mittäterschaft oder gar Steuerung aus dem Hintergrund so viel schwerer beweisbar ist.

    Dabei sind gerade sie so gut erkennbar. So bekannt. So sichtbar.

    An ihren Erfolgen, die sie im (nahen) Umfeld der machtmissbrauchenden Person gefeiert haben, ihren Karriereschritten, ihrer nachweisbaren Teilhabe an machtmissbrauchenden Entscheidungen, auch wenn vielleicht nicht protokolliert, dokumentiert, öffentlich artikuliert.

    Aber wenn genug Betroffene diese Personen benennen und gemeinsam ihre Taten konkret beim Namen nennen, sind sie sehr wohl beweisbar.
    Durch Besprechungen, in denen Betroffene nachweislich nicht eingebunden wurden.
    Durch Entscheidungen die gefällt wurden eben gerade ohne Dokumentation und Partizipation.
    Durch fehlende Protokolle, fehlende Nachweise einer Freigabe, einer Zustimmung etc.

    Der Mangel an Beweisen ist in seiner Gesamtheit ein Beweis, der von dem Macht missbrauchenden Netzwerk massiv unterschätzt wird.

    Alles was es braucht sind sehr gute Analytiker, die die Fragen stellen gerade auch nach allem was fehlt.
    Es wird ein riesiger Gewinn sein und Konsequenzen haben, die man bis dato nicht kannte in Deutschland.

  • #10

    Dank und Kompliment! (Mittwoch, 22 November 2023 10:37)

    Ein Dank an Sie, Herr Wiarda, für die Recherche zu diesem frustrierenden Thema, und ein Kompliment, dass Sie das Thema Ihrer Recherche und die Problematik trotzdem so verständlich und empathisch in einen Text gepackt haben, obwohl Sie selber in der frustrierenden Situation sind, Ihre eigentlichen Rechercheergebnisse (bisher) nicht nutzen zu können.

  • #11

    D. (Mittwoch, 22 November 2023 11:04)

    Unbefriedigt zurückgelassen? Nein, mit Ihrem Artikel machen Sie klar: Sie sind dran an dem Thema. Bitte geben Sie nicht auf, auch wenn es Sie selbst frustriert.

    Hinzuzufügen ist, dass man neben Unis, Hochschulen, Instituten, außeruniversitären Einrichtungen usw. auch die Welt der vielen, davon "unabhängigen" Fachgesellschaften nicht vergessen sollte.
    Hier gibt es oftmals nur wenige Mitarbeitende, die die Geschäftsstellen koordinieren, die manchmal jahrelang den ganzen Laden stemmen. Und die mit ständig wechselnden Vorständen und Präsident/innen - alles Professor/innen aus dem jeweiligen Fach - konfrontiert sind, die in ihrer Amtszeit jedes Mal das Rad neu erfinden müssen (Profilierungszwang). Das führt manchmal und tragischerweise zu genau dem subtilen Machtmissbrauch, den Sie beschreiben: Schikanen, Diskreditierung, Kompetenzentzug. Das Konstrukt "Wissenschaftseinrichtung als gemeinnütziger, eingetragener Verein" befördert diese Konstellation. Das ist auch von nicht-wissenschaftlichen NGOs bekannt.

  • #12

    Forschungsreferent (Mittwoch, 22 November 2023 16:04)

    Es gibt KEINE Berufsgruppe in Deutschland, die so frei ist wie verbeamtete Professor*innen (keine Vorgesetzten, keine Weisungsbefugnis, keine Kündbarkeit).

    Diese immense Freiheit geht immer mit Verantwortung einher. Nicht alle Menschen können mit dieser Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung angemessen umgehen (Opportunismus, schlechter Charakter, toxische Männlichkeit etc.).

    Ja, es gibt auch eine Art Omertà an Hochschulen was professorales Fehlverhalten angeht. Menschen kommen, Menschen gehen, die Probleme bleiben. Alle kuschen vor den Key Playern für das Erreichen von akademischen KPIs. Man sollte dieses kritische Setting nicht unterschätzen!

    Deshalb braucht es in der Governance einer Hochschule institutionelle Checks und Balances. Ein erster Schritt ist: Betreung und Prüfung z. B. bei Promotionen personell zu trennen. Es braucht Schutz und sichere "Ausgänge" für Whistleblower*innen.

    Es gibt sicher noch viele andere Schritte.

    Aber es wäre naiv daran zu glauben, dass sich Menschen mit zu viel Freiheit selbst korrigieren.

    Warum auch? Sie sind ja "unantastbar".

  • #13

    Gerit (Donnerstag, 23 November 2023 16:18)

    Da können Sie allen Betroffenen/Zeug:innen nur anbieten, sich zusammenzuschließen. Ist die Zahl der Ankläger:innen groß genug, haben sie keine Konsequenzen zu fürchten. Ein großes Dankeschön aber für Ihren Mut schon. Sie sollten an die denken, die ihnen folgen und ebenso unter Machmissbrauch zu leiden haben.
    siehe #metoo

  • #14

    Brite (Freitag, 24 November 2023 15:52)

    In Großbritannien war es (früher) mal so, dass die Performance eines Forschers in der Abwicklung eines (öffentlich finanziertes) Projektes auch in die Bewilligungswahrscheinlichkeit für ein zukünftiges Projekts einging. Kenngrößen waren u.a. die Dauer von Promotionen, die durch das Projekt finanziert worden sind.
    Das wäre vielleicht ein sinnvoller Hebel, um auch hierzulande, indirekt, Druck auf Chefs auszuüben, die inakzeptable Leitungsfähigkeiten zeigen.

  • #15

    #IchBinTina (Freitag, 24 November 2023 19:23)

    @Brite: Ich bin Betroffene und unfreiwillige Expertin in dieser Thematik geworden. Denke auch, dass das eine schnell umsetzbare Lösung wäre: Das Qualifikationsziel (Promotion, Berufungsfähigkeit, ...) sollte im Arbeitsvertrag oder der Stipendienbewilligung festgehalten werden & bei Abbruch oder „Asynchronität“ (Mittelbewilligung zu Ende, aber Qualifikationsziel nicht erreicht), sollte sich die Hochschule aktiv einschalten und erkundigen, woran es hakt. Das ist schlicht Fürsorgepflicht.

  • #16

    Roman Held (Samstag, 25 November 2023 19:02)

    Ganz wichtiges Thema! Ich habe es selber erlebt (mich persönlich und viele meiner Ex-Kollegen hat es arg getroffen - teilweise mit Anwälten und Gerichten) und beim damaligen Vorstand angezeigt. Die Reaktion wurde abgetan mit: “Was soll das?”’ Andere Betroffene habe ich ermutigt. Kein Mut. Auch nach Vorstandswechsel bisher keine Konsequenzen. Muss man dann wohl besser hinnehmen, um Ruhe zu finden. Vorstände sprechen lieber nur über positive Dinge und packen Missstände gar nicht oder sehr ungern an! Frust pur. Erinnert mich a die Kirchenskandale, die Jahrzehnte vertuscht wurden. Erst mit der Abkehr von den christlichen Kirchen wurden Betroffene endlich ernster genommen. Trotzdem sehr schleppend. Schlimm geworden in Deutschland. Habe ich früher im Berufsleben nie erlebt.