· 

Die richtigen Worte finden

Wie gehen Deutschlands Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen mit dem Nahostkonflikt um? Wie mit Antisemitismus und einer extrem aufgeheizten politischen Stimmungslage? Eine Analyse.

"AN DEUTSCHEN HOCHSCHULEN ist kein Platz für Antisemitismus", sagte Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) am Tag nach der HRK-Mitgliederversammlung Mitte November 2023. Die Hochschulen müssten Orte sein, an denen sich Jüdinnen und Juden wohl und sicher fühlen können, "ohne Wenn und Aber". Die Erklärung, die Rosenthal diesmal im Namen aller HRK-Mitgliederhochschulen abgab, war nicht seine erste, und sie kam fünf Wochen nach dem Terrorangriff auf Israel.

 

Dennoch kam sie genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn seit Hamas-Terroristen am 7. Oktober die Grenzanlagen überwunden und wahllos Männer, Frauen und Kinder misshandelt und ermordet und rund 240 Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt hatten, war viel passiert. In Israel, im Gazastreifen, aber auch auf dem deutschen Hochschulcampus. Die HRK zählt auf: "Unverhohlene Drohungen mit körperlicher Gewalt, das Anbringen von Plakaten oder Graffiti sowie Kundgebungen, die den Terror der Hamas gutheißen, die Opfer ausblenden oder aufrechnen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen und Jüdinnen und Juden insgesamt angehen und einschüchtern sollen".

 

Erste Einigkeit bröckelte schnell

 

Dabei hatte es direkt nach den Hamas-Verbrechen so ausgesehen, als würde Deutschlands Wissenschaftscommunity in großer Einigkeit reagieren. Vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) über die Allianz der Wissenschaftsorganisationen bis hin zu Studierendenverbänden und Hochschulen überall im Land: Die Verurteilungen der Untaten waren fast immer ohne Zögern und Relativierungen, unmissverständlich, mitfühlend und zugleich kämpferisch ausgefallen. "Wir stehen solidarisch an der Seite des Staates Israel. Wir gedenken der Israelis und der Menschen aus aller Welt, die dem Terror der Hamas zum Opfer gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt ihren Familien und Freunden, insbesondere auch unseren Kolleginnen und Kollegen an den israelischen Universitäten und am Weizmann Institute of Science", schrieben etwa Max-Planck-Gesellschaft und Minerva-Stiftung am 11. Oktober 2023. "Sehr klar" und "außergewöhnlich" nannte denn auch etwa die Vizepräsidentin für Internationales der Universität von Tel Aviv, Milette Shamir, im Research.Table die deutschen Reaktionen. 

 

Während die Hochschulleitung der Hebräischen Universität in Jerusalem den amerikanischen Elite-Unis Stanford und Harvard vorwarf, diese hätten "uns im Stich gelassen". Die ersten Erklärungen der beiden US-Universitäten hätten trotz der extremen Immoralität der Hamas-Terrorakte nicht klar Täter und Opfer benannt. Das Ziel, eine geschlossene Hochschul-Gemeinschaft zu erhalten, sei von Stanford und Harvard über die eindeutige Verurteilung des Bösen gestellt worden, so der Vorwurf aus Jerusalem. 

 

Weitere Aufregung verursachte ein Brief des studentischen "Harvard Undergraduate Palestine Solidarity Committee", demzufolge allein das "israelische Regime" mit seinem "Apartheid"-System die Verantwortung trage für alle kommende Gewalt. 33 weitere Harvard-Studierendengruppen setzten ihre Unterschrift darunter. Woraufhin unter anderem der frühere US-Finanzminister und ehemalige Harvard-Präsident Larry Summers auf der Plattform "X", vormals Twitter, kommentierte, dieses Statement mache ihn krank: Das "Schweigen der Harvard-Leitung" verbunden mit dem Brief der Studierenden sorge dafür, dass Harvard "bestenfalls neutral" dastehe angesichts der "Terrorakte gegen den jüdischen Staat Israel".

 

Den richtigen Ton treffen

 

Es sollte nur ein paar Tage länger dauern, bis die Auseinandersetzungen um die Einordnung der Ereignisse in Israel und Gaza dann doch die deutsche Wissenschaft erreichten. So löschte die Hochschule Düsseldorf (HSD) Mitte Oktober 2023 einen Instagram-Beitrag, in dem sie ihre Solidarität mit Israel erklärt hatte, nachdem die antisemitischen Kommentare darunter überhandnahmen. In einer neuen Version, diesmal ohne Kommentarfunktion, sprach die Hochschule dann von einer politischen Diskussion, die zum Teil "in Ton und Inhalt nicht angemessen war". Der Post sei so verstanden worden, "dass nur das Leid der Menschen in Israel gesehen wird. Aber die HSD steht selbstverständlich an der Seite aller Opfer von Krieg und Gewalt." Ein Schritt hin zur nötigen Ausgewogenheit – oder das Einknicken vor dem Mob?

 

Fest steht: In den Chef*innen-Etagen vieler deutscher Wissenschaftseinrichtungen war in den vergangenen Wochen die Sorge groß, nicht den richtigen Ton zu treffen. Man möchte in der jetzigen politischen Lage alles richtig machen, aber was heißt das? Das Ergebnis waren mitunter gleich klingende, schablonenhaft ähnliche Formulierungen. 

 

Eine blutige Nase wiederum holte sich der Potsdamer Universitätspräsident Oliver Günther, als er – nach einem ersten sehr klaren Solidaritätsstatement zugunsten Israels – einen verunglückten Versuch der vermeintlichen Differenzierung unternahm. Günther kritisierte die durch die israelische "Besetzung verursachten prekären und teilweise menschenunwürdigen Lebensumstände weiter Teile der palästinensischen Bevölkerung" und fügte hinzu: "Offensichtlich ist auch, dass sich diese Probleme nicht durch eine aggressive Siedlungspolitik und Schikanen gegen die Zivilbevölkerung – schlicht: Gewalt jeglicher Art lösen lassen. Ganz im Gegenteil führen solche Maßnahmen, wie wir vor wenigen Tagen gesehen haben, nur zu mehr Gewalt." Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) kommentierte flugs im Berliner Tagesspiegel: "Was Israel in diesen schweren Stunden nicht braucht, sind Schuldzuweisungen, Belehrungen, Relativierungen oder gar Versuche einer Täter-Opfer-Umkehr ausgerechnet aus Deutschland."

 

Trauerfeier eskaliert

 

Besonders eindrücklich sind die Ereignisse, die sich in den vergangenen Wochen an der Universität Kassel zugetragen haben. Ein autonomes AStA-Referat hatte einen Film zeigen wollen, der ausschließlich Position für Palästina ergreift. Was die Hochschulleitung um Unipräsidentin Ute Clement untersagte. Als wenig später die Jüdische Hochschulunion einen Stand auf dem Campus aufbaute, inklusive Israel-Flagge, kochte die Stimmung hoch. Umso mehr, als bekannt wurde, dass ein früherer Kasseler Student mitsamt seiner Familie im Gazastreifen getötet worden war, laut "Palestinian Lives Matter" bei einem israelischen Angriff. 

 

Clement erlaubte eine Trauerfeier auf dem Campus unter der Auflage, sie nicht zu einer politischen Kundgebung zum Konflikt zwischen Israel und Palästina zu missbrauchen. Clement hielt sogar eine Rede. "Zuerst sah es so aus, als würde es eine würdige Veranstaltung bleiben, dann wurde sie aber doch gekapert." Ihre Palästinensertücher hatten Teilnehmer nach Aufforderung der Unipräsidentin während deren Trauerrede noch abgenommen. Als dann Redner doch gegen Israel zu agitieren begannen, stellte Clement das Mikrofon ab. Später erklärte die Hochschulleitung, sie sehe ihr "Vertrauen missbraucht".  

 

"Morgens, mittags und nachts", denke sie seitdem über sie Situation nach, sagt Clement, ihr sei dabei immer klarer geworden: Es gebe bei dem Thema in Deutschland ein Schisma, auch an den Hochschulen. "Da sind Menschen meiner Generation, etwas jünger und älter, die alle ihr Leben lang gesagt haben: Nie wieder. Und die jetzt fassungslos vor dem stehen, was Juden in Israel und anderswo geschieht. Und da sind viele Studierende und Angehörige der jungen Generation, viele mit arabischen Wurzeln, aber nicht nur, die das für einseitige Parteinahme halten und das Gefühl haben, ihre Stimme werde in dem Konflikt nicht gehört. Die uns Älteren, die wir an das Existenzrechts Israels als deutsche Staatsräson glauben, vorwerfen, wir würden in unserem Rassismus nicht das Leid der getöteten Kinder in Gaza und anderswo sehen.“

 

Sie sei erschrocken über solche Wahrnehmungen, sagt Clement, aber es sei wichtig, ihnen einen Rahmen zu geben, um Radikalisierungen zu verhindern. "Genau das sehen wir als Hochschulleitung jetzt als unsere Aufgabe: eine gewaltfreie Debatte ermöglichen, die auf der Grundlage von Argumenten und Fakten stattfindet." Weshalb sie auf dem Zentralcampus jetzt zwei Banner aufgehängt haben, auf Deutsch und auf Englisch, mit den Grundsätzen, die für alle gelten sollen. Unter anderem steht da: "Klar muss sein: Wir schauen nicht weg, wenn Menschen leiden. Das Existenzrecht Israels wird nicht in Frage gestellt. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat wird nicht in Frage gestellt." Jede Form des Terrors sei abzulehnen, jegliche NS-Vergleiche verböten sich. "Genau wie jede Form von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit." Der gesamte Uni-Senat stehe dahinter, sagt Clement. Was sie sich wünscht: dass sich alle Hochschulen in Deutschland gemeinsam einen solchen Diskursrahmen geben. 

 

Hitzige Töne und gegenseitig Vorwürfe

 

Und tatsächlich lud HRK-Präsident Walter Rosenthal direkt nach der HRK-Mitgliederversammlung zu einer weiteren virtuellen Austauschrunde ein "mit einem besonderen Fokus auf Maßnahmen zum Schutz von jüdischen Studierenden sowie auf die Moderation von Konflikten auf dem Campus". Wie hatte er in seiner Erklärung gesagt: "Wir dulden keine Gewalt, weder verbal noch physisch, keinen Antisemitismus, keinerlei Ausgrenzung – auch nicht gegen Studierende und Mitarbeitende palästinensischer Herkunft, die sich aktuell ebenfalls Sorgen machen." Und er fügte hinzu: Das Miteinander an einer Hochschule und die produktive Diskussion auf und neben dem Campus beruhten auf wechselseitigem Respekt, der Wahrung wissenschaftlicher Grundsätze, auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Einhaltung der Gesetze.

 

Doch statt produktiven Diskussionen und wechselseitigem Respekt gibt es seit Wochen hitzige Töne und gegenseitige Vorwürfe. Etwa als die Staatsekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Sabine Döring auf "X" kritisierte, die international bekannte US-Philosophin Judith Butler kontextualisiere in einem Meinungsbeitrag das "Opfer" Hamas, aber nicht den "Täter" Israel. "So kommt – trotz ‚Ich verdamme den Terror der Hamas‘ — am Ende eben doch eine Relativierung desselben heraus". Und Döring, zugleich Philosophieprofessorin an der Universität Tübingen, fügte hinzu: Wenn man Butlers "hehre Vision" umsetze, würde der Staat Israel empirisch aufhören zu existieren und jüdisches Leben würde aus der Region rückstandsfrei getilgt. 

 

Dörings Post löste Zustimmung, aber auch empörte Reaktionen in der Wissenschaftsszene aus. Der Historiker Ben Miller bezeichnete es ebenfalls auf "X" als "intellektuell grotesk, wenn jemand, insbesondere eine Deutsche, auf die Arbeit einer jüdischen Philosophin, die in der jüdischen intellektuellen Tradition arbeitet, mit dem Vorwurf reagiert, sie würde das jüdische Leben nicht genug wertschätzen". Was Döring pessimistisch resümieren ließ: "Sehen Sie, das ist genau der Grund, warum wir keine Chance mehr haben, miteinander einen fruchtbaren Diskurs zu führen."

 

Ein praktisches Ausrufezeichen der Verbundenheit mit Israel setzte derweil die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und vereinbarte mit ihrer israelischen Partnerorganisation Israel Science Foundation (ISF) eine weitere Stärkung ihrer Zusammenarbeit. Zu den Zielen gehört, die gemeinsame Förderung deutsch-israelischer Forschungsprojekte zu ermöglichen und die Ausarbeitung eines bilateralen Begutachtungsverfahrens. DFG-Präsidentin Katja Becker betonte, das sogenannte Memorandum of Understanding sei bereits vor dem Terrorangriff der Hamas ausgearbeitet worden. "Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Israel und in der Region bekommt die Stärkung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit nun zusätzliche Bedeutung, auch als Zeichen der Solidarität." 

 

Dieser Artikel erschien zuerst im DSW Journal 4/2023.



In eigener Sache: Blog-Finanzierung

Wie dieser Blog finanziell aufgestellt ist, warum er Ihre Unterstützung braucht – und welche Artikel im November am meisten gelesen wurden. 

 

Mehr lesen...



></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0