Viel eigenes Nachdenken, gute Erklärungen und hilfreiche Materialien: Was es braucht, damit mehr Kinder sich die Welt der Mathematik erobern können. Ein Gastbeitrag von Michael Felten.
MAL WIEDER wurden Deutschlands Schüler getestet, diesmal mit einem Schwerpunkt in Mathematik. Und mittlerweile haben sich die Leistungen, so die neue PISA-Befunde, derart verschlechtert, dass manchen die Spucke wegbleibt. Dass die Pandemie wenig lernförderlich gewirkt hat, ist klar; dass die Deutschkenntnisse des spezifischen Zuwanderermix in Deutschland die Befunde gewichtig beeinflussten, ebenfalls; zudem wirken Smartphones als neue Zeitfresser und Lernbremsen. Insgesamt: Sinkflug seit 2012.
Speziell wenn es um das Schulfach Mathe geht, sind nun immer auch Stimmen zu hören, die meinen, der Lehrplan Mathematik sei eben viel zu anspruchsvoll oder lebensfern, das könne erheblich erleichtert werden, der Umgang mit Zahlen, Formen und Mustern sei doch eigentlich reizvoll, salopp gesagt: Mathe sei grundsätzlich kein Arschloch, sondern eine Orchidee.
Das stimmt wohl – allerdings muss diese Orchidee gedeihen und erblühen können. Die Anfangsvoraussetzungen dafür sind auch keineswegs schlecht: Laut Umfragen ist die Welt der Ziffern und Zuordnungen nicht nur das Schulfach, das die größten Befürchtungen auslöst – es gilt unter Schülern gleichzeitig als beliebteste Disziplin. Aber: Zur Eroberung dieser Welt braucht man viel eigenes Nachdenken, gute Erklärungen sowie hilfreiche Materialien. Und in diesen drei Hinsichten liegt in Deutschland einiges im Argen.
Michael Felten, Jahrgang 1951, hat 34 Jahre Mathematik und Kunst in Köln unterrichtet, arbeitet weiterhin als Autor und freier Schulentwicklungsberater.
Foto: privat.
Zwar werden Schüler heute mit Lernmaterialien zugeschüttet, aber deren Gestaltung krankt oft schon daran, dass die Verlage anscheinend mehr an ihren Profit als an die Psyche von Siebtklässlern denken: eine Gedrängtheit der Aufgaben, die schon bei Erwachsenen Beklemmung auszulösen vermag, dazu mathematische 'Angstbegriffe', die man gut und gerne zunächst anschaulich umschreiben könnte; schließlich Formulierungen, die die meisten jungen Menschen höchstens mit viel pädagogisch-fachlicher Hilfe verstehen können.
Wenn Mathelehrer das Erklären verweigern
An dieser hapert es aber ebenfalls. Abgesehen davon, dass es manchen Mathelehrern schwer fällt, sich auf das Abstraktionsniveau von Kindern und Jugendlichen zu begeben: Viele verweigern das Erklären mittlerweile förmlich. Sie wurden im Referendariat auf "selbstgesteuertes Lernen" oder "eigenverantwortliches Arbeiten" getrimmt – und sind nun überzeugt, das Beste für ein ratloses Kind sei der gönnerhafte Hinweis: "Versuch es Dir doch mal selbst zu erklären!"
Das reicht natürlich keineswegs, grenzt bisweilen gar an Dienstverweigerung - auch wenn es die dritte Schwachstelle berührt: Zu viele Kinder lassen heute prompt den Griffel fallen, äh: die Flügel hängen, wenn sich Erfolge nicht im Handumdrehen einstellen. Ein Mindestmaß an Hartnäckigkeit aber gilt in diesem Fach als conditio sine qua non. Entscheidend im Matheunterricht ist nämlich, so Kognitionspsychologin Elsbeth Stern, "die geistige Aktivität des Verstehens“. Wobei Verstehen das "Ergebnis eines aktiven Konstruktionsprozesses auf Seiten des Lernenden" ist – und keine simple "Übertragung von Wissen vom Lehrenden auf den Lernenden".
Genau dieser aktive geistige Konstruktionsprozess aber ist anstrengend, erfordert eigenständigen inneren Einsatz: eine Idee ausprobieren, sich Vorstellungen von Situationen oder Rechenhandlungen machen, einen Gedanken prüfen, die Enttäuschung von Irrwegen verkraften, nicht vorschnell aufgeben. Ganz zu schweigen von den Grundtugenden effektiven Lernens: sich konzentrieren, auch wenn man nicht im Mittelpunkt steht; gründlich genug üben, auch wenn Social Media locken; hartnäckig bleiben, auch wenn Erfolge sich nicht im Handumdrehen einstellen.
Zu eigener Aktivität verlocken
Die Gewöhnung an unterhaltende Bildschirmmedien wirkt da natürlich kontraproduktiv: Man muss sich nichts mehr vorstellen oder erproben, alles ist schon fertig, wird einem spannend vorgespielt. Zudem kommen immer mehr Kinder aus einem seelisch verwöhnenden Erziehungsklima. Sie haben sich daran gewöhnt, bei aufkommenden Problemen aller Art die Hände in den Schoß zu legen und auf Hilfe zu warten – Mama, Papa oder die Großeltern werden das Ding schon schaukeln. Je weniger Beharrlichkeit ein Kind erworben hat, desto schwerer muss es ihm fallen, die geistige Aktivität fürs Mathelernen aufzubringen – so konstatierte schon vor 100 Jahren Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie: "Rechnen ist für verzärtelte Kinder immer ein gefährliches Fach."
Seelisch verwöhnte Kinder gibt es heute zuhauf, quer durch alle Schichten. Deshalb ist es so wichtig, dass Mathelehrer ihre Schüler nicht zu früh im Regen stehen lassen. Sondern sie als beständiger "activator" (John Hattie) zu eigener Aktivität verlocken: durch geduldiges persönliches Ermuntern und Erklären; durch ein Unterrichtsklima, in dem die Kids sich trauen, Fehler zu machen; durch mehr Alltagsbezug und Anschaulichkeit der Aufgaben. Dabei wäre daran zu erinnern, wie kostbar fachliche Erklärungen eines zugewandten Menschen gerade für leistungsschwächere Schüler und solche mit sprachlichen Defiziten sind – sie geben auch emotionalen Halt beim Gang in kognitives Neuland.
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Lehrerkind (Donnerstag, 14 Dezember 2023 11:57)
Puuuuuh, "Smartphones als neue Zeitfresser und Lernbremsen" und "Kinder aus einem seelisch verwöhnenden Erziehungsklima". Das ist doch sehr polemische und holzschnittartige Kritik an der jungen Generation! Der Hinweis, dass diese Kritik schon seit über 100 Jahren geübt wird, macht sie auch nicht wirklich valide. Was nehmen wir denn jetzt mit? Die heutigen Kinder sind verwöhnte Snowflakes, die man dringend mal auf Spur bringen muss?
Ich bin ziemlich überrascht, einen deratigen Artikel hier zu lesen! Dieser Blog überzeugt in der Regel durch differenzierte Beiträge, dieser ist es leider überhaupt nicht.
RS (Dienstag, 19 Dezember 2023 10:02)
Ich würde mich dem Lehrerkind anschließen. Was auch fehlt, ist der Kontext früherer Bildungsstudien: Vor PISA war der erste Schock ja schon TIMSS gewesen, ebenso mit Mathematik-Schwerpunkt. Dieser Third Survey erneuerte - was zu wenig gesagt wird - den Befund von FIMS, dem First Survey von 1964. Kuschelpädagogik war damals glaub ich noch kein Phänomen, ebenso wenig die Vokabel Migrationshintergrund. Die Ergebnisse ähnelten sich aber stark: starke Sozialselektivität und mangelnde Literacy. Man beschloss dann damals, an solchen Studien nicht mehr teilzunehmen, und lieber evidenzfrei am Bildungssystem herumzuschrauben . Ergebnis sind dann diese Schulbücher, Curricula und Fachkulturen. Da muss man nicht über Handys meckern, sondern besser selbst ein paar mehr Hausaufgaben machen.
Laubeiter (Mittwoch, 20 Dezember 2023 11:28)
Ich habe zwei Kinder in den Kl. 9 u. 11, eins kommt in Mathe mit, das andere nicht. Viele Dinge, die dieser Artikel ausführt, kann ich aus unserer Erfahrung bestätigen oder finde ich hilfreich. Gegen Smartphone-Gewohnheiten anzukämpfen, ist in der Tat die Aufgabe, an der meine Frau und ich seit einiger Zeit scheitern. Bis Kl. 8 habe ich über family controls der iPhones eine Begrenzung der Zeiten der Nutzung durchgesetzt, seitdem gibt es jeden Tag Geschrei darüber, ob nun erst die Serie auf dem Handy oder erst die Mathehausaufgaben nach der Schule begonnen werden sollten.
Mit dem Ausdruck "seelisch verzärtelt" kann ich wenig anfangen. Ich denke, ich bin selbst seelisch verzärtelt, und sollten unsere Kinder seelisch verzärtelt sein, was soll daran falsch sein? Mathe und seelische Verzärtelung sind für mich zwei Paar Schuhe.
Wenn die Lehrer:innen nicht durchsetzen, dass immer alle die Hausaufgaben mit in die Schule bringen und dann korrigiert nach Hause bringen, dann unterscheidet sich der Unterricht von heute darin von meinem Matheunterricht in den Achtzigern - so lange ist das her.