Die Reaktionen von Wissenschaft und Politik auf die Pisa-Ergebnisse zeigten eine problematische Engführung der Bildungsdebatte. Für eine wirkliche Verbesserung müssen wir uns zunächst wieder an die eigentlich entscheidenden Fragen herantrauen. Ein Gastbeitrag von Kai Maaz, Sabine Reh und Tilman Drope.
DIE VIELEN ÖFFENTLICHEN REAKTIONEN auf die aktuelle PISA-Studie und die dort diagnostizierte nur mittelmäßige Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungswesens bringen wenig Neues. Sie lassen dominante, alte Denkmuster unangetastet, bildungspolitische Zielkonflikte bleiben ausgeblendet. Der Zustand der Schule wird nicht als Ausdruck vielfältiger gesellschaftlicher Problemlagen verstanden, vielmehr wird in der Hauptsache ihr die Schuld am konstatierten Elend gegeben. Gleichzeitig wird weiter die Hoffnung gehegt, die Schule werde, richtig gesteuert, gesellschaftliche Probleme heilen. Dass sie an einem solchen Anspruch nur scheitern kann, könnte man wissen. Denn dafür müssten alle Akteure sich endlich ehrlich den alten Denkmustern stellen und den mit ihnen verbundenen Narrativen, Gefühlen und Zielkonflikten.
Da ist zunächst die Enttäuschung der Bildungsforscher und -forscherinnen darüber, dass die Bildungspolitik nicht einfach tut, was die Bildungsforschung besser weiß. So kritisieren manche, dass Programme zur Verbesserung insbesondere des Mathematikunterrichts nicht dauerhaft installiert worden seien. Selbstverständlich wird niemand etwas gegen besseren Mathematikunterricht sagen wollen. Wenn aber eine solche Kritik mit der Diskreditierung anderer Maßnahmen, etwa denen zur Schulsanierung und Schulsozialarbeit im Rahmen des angekündigten "Startchancenprogramm", verbunden wird, zeigt sich eine problematische Engführung.
Die überschätzte Rolle
der einzelnen Lehrkraft
Denn die Annahme, dass guter Unterricht lediglich eine Frage des richtigen Vorgehens sei und losgelöst von den konkreten Handlungsbedingungen vor Ort wirken könne, bedient letztlich das alte Denkmuster eines durch die einzelne Lehrkraft zu steuernden Verhältnisses von Input und Output. Es bleibt außer Acht, dass Schülerinnen und Schüler ihre fachlichen Fähigkeiten und Lernerfolge miterzeugen; diese hängen daher auch mit den Lernbedingungen in einem intakten Schulgebäude und etwa der Begleitung durch sozialpädagogische Fachkräfte zusammen. Ganz abgesehen davon, dass die für guten Unterricht nötigen Fachkräfte es vielleicht vorziehen, ihre auch woanders begehrten Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie sich nicht als Einzelkämpfer um ein funktionierendes WLAN kümmern oder sich als Streitschlichter Gefahren für das leibliche Wohlergehen aussetzen müssen.
In der Fokussierung auf den Fachunterricht setzen sich Qualitätsdebatten und Fragen einer "inneren Schulreform" fort, wie sie in den 1980er begannen und bald darauf mit Ideen eines neuen Managements der Schulen und der Steuerung durch Monitoring und Evaluierung verbunden wurden. Die empirische Bildungsforschung, die sich fast parallel dazu im Laufe der 1990er Jahre zu einer elaborierten Kompetenzforschung entwickelte, erzeugte zwar neues und teilweise auch schulfachlich ausreichend detailliertes Wissen über den Unterricht. Dennoch reichte eine in deren Folge verbreitete neue Aufgabenkultur nicht aus, nachhaltig und flächendeckend erfolgreiches Lernen im Unterricht durchzusetzen. Im Gegenteil: Das Vertrauen in die Schule und ihre Leistungen sank und sinkt noch immer.
Ein weiteres so altes wie dominantes Denkmuster zeigt sich, wenn Leistungssteigerung gegen Chancengleichheit ausgespielt wird. Hier werden die seit dem Sputnik-Schock oder dem ersten Ausrufen der Bildungskatastrophe tradierten Ängste vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Landes seit den 1960er Jahren gegen die nur unwesentlich jüngere Skandalisierung systematischer Benachteiligung unterer Sozialschichten immer wieder von Bildungspolitiker:innen und auch von Journalist:innen in Stellung gebracht. Heute wie vor 50 Jahren kann mit diesem Denkmuster sowohl der Appell an Lernende und ihre Familien als auch die Unantastbarkeit des auf die Universität vorbereitenden Gymnasiums begründet werden. So wird mindestens implizit die Verwirklichung von Chancengleichheit von der Leistungsorientierung benachteiligter Familien abhängig gemacht und inzwischen wieder – wenn auch vorsichtig – die Frage gestellt, ob nicht doch einfach mehr Druck helfe.
Die am Gymnasium ausgerichtete Gliederung des
Schulwesen wird kontrafaktisch begründet
Folgenreich ist zudem, dass die am Gymnasium ausgerichtete Gliederung des Schulwesens kontrafaktisch damit begründet wird, dass im internationalen Vergleich Länder mit Gesamt- bzw. Einheitsschulsystemen hinsichtlich der (Spitzen-)Leistungen nicht überlegen seien. Wenn in unserem Land sehr viele Schülerinnen und Schüler am Gymnasium die für die gesellschaftliche Teilhabe notwendigen Grundlagen erwerben, an anderen Schulformen zu viele aber entsprechende Ziele nicht erreichen, verdeutlicht das den Zielkonflikt: Das Festhalten am Gymnasium ist mit Blick auf die Leistungsspitze möglicherweise noch rational, die Absage an eine gemeinsame Beschulung bis zur neunten oder zehnten Klasse ist es mit Blick auf faire Chancen beim Erwerb von Basiskompetenzen sicherlich nicht.
Ein drittes Denkmuster zieht sich schließlich durch beinahe alle Debattenbeiträge der vergangenen Wochen. Es spiegelt sich in der Forderung (und Erwartung) schneller und punktueller Bearbeitung immer wieder neu und je etwas anders diagnostizierter Probleme. Die Vorstellung, dass man durch Nachsteuerung an einzelnen Stellschrauben die Outcomes des gesamten Bildungswesens entscheidend verbessern könne, besteht seit Jahrzehnten. Seitdem Mitte der 1970er Jahre großangelegte Bildungsreformen scheiterten und stattdessen Schulqualitätsdebatten begannen, wurde die Schule meist nicht mehr als vielfach verknüpfter Bestandteil der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt gesehen. Die in der Folge aufgesetzten bildungspolitischen Maßnahmen waren und sind stets auf das Innen der Schule und des Unterrichts gerichtet und dürfen dabei auf keinen Fall Fragen der – horribile dictu – Schulstruktur oder der Gesellschaftsstruktur berühren.
Dementsprechend fordert die Bildungspolitik Problemdiagnosen und Handlungsempfehlungen auch beinahe ausschließlich von einer Bildungsforschung ein, die beides evidenzbasiert anbietet. Grundsätzliche Fragen an die Verfasstheit von Schule und Gesellschaft, etwa danach, welche Gründe es für eine nachlassende Identifikation der Lernenden mit ihren Schulen und vielleicht auch mit den Zielen schulischer Bildung gibt, werden dabei nicht gestellt. Sie könnten im Moment evidenzbasiert auch nicht ohne Weiteres beantwortet werden. Symptome werden so in einer "educationalization of social problems" zur Ursache gemacht. Als Folge dieses Denkens bestimmt die Individualisierung struktureller und somit politischer Fragen die Debatte um Schule und Bildung. Gesellschaftliche Entwicklungen, deren problematische Auswirkungen sich in den Schulen zeigen, aber anderswo herrühren, sollen dennoch vorrangig in den Schulen gelöst werden.
Wirkt die Bildungsforschung zu bereitwillig mit
bei der Perpetuierung falscher Narrative?
Obwohl selbstverständlich an vielen Stellen im Bildungssystem Verbesserungsbedarf besteht, muss sich die Bildungsforschung die Frage gefallen lassen, ob sie an der Perpetuierung derart vereinfachend-falscher Narrative nicht zu bereitwilligt mitwirkt. Nehmen wir die Situation von Schulen "in schwierigen Lagen". Sie würde nachhaltig eher durch eine auf sozialen Ausgleich bemühte Stadtentwicklung verbessert werden – und nicht umgekehrt. Auch lässt sich zwar das Ziel anstreben, die Ungleichheit der Bildungschancen zu reduzieren, es ist jedoch unmöglich, den Zusammenhang von familiärem Hintergrund und Bildungserfolg in Gänze aufzulösen. Seit über 50 Jahren wird überzeugend theoretisch erklärt und fortlaufend empirisch bestätigt, dass die Schichtung der Gesellschaft Bildungsungleichheit zur Folge hat. Die Reduzierung letzterer muss also über die Abschwächung erster erfolgen – und nicht umgekehrt.
Den ständigen Anspruch an die Schulen und an die dort Tätigen, gesellschaftliche Missstände zu korrigieren, müssten diese eigentlich als Zumutung zurückweisen. Das gilt auch für die Illusion, allein Bildung könne den individuellen Aufstieg ermöglichen. Damit die Lehrkräfte nicht wirklich irgendwann aufgeben, ist es unerlässlich, dass wenigstens die jeweils unterschiedlichen Lagen von Schulen und Schüler:innen erkannt, benannt und berücksichtigt werden. Der landesweite Einsatz bereits erprobter Instrumente wie der Mittelzuweisung auf Grundlage von Sozialindizes ist hier naheliegend.
Für eine erfolgreiche Arbeit vor Ort wäre es überdies an der Zeit, die verschiedenen Verantwortungsebenen aufeinander abzustimmen. Gemeint sind hier alle im System beteiligen Akteure, also Schulträger, Schulaufsicht, Kommunen, Ministerialverwaltung, Landesinstitute und Qualitätsagenturen, Schulentwicklungsbegleitung und schließlich und vor allem auch die einzelnen Schulen, die alle abgestimmt und gemeinsam arbeiten müssen. Die Erfahrungen zeigen, dass es den Ländern unterschiedlich gut gelingt, in den gegebenen Strukturen kohärente und passgenaue Angebote für die Schulen vorzuhalten. Dies trifft umso mehr zu, wenn immer wieder verschiedene Programme von unterschiedlichen Anbietern implementiert werden.
Ein geteiltes Verständnis der Akteure, die Definition einer gemeinsamen Zielperspektive, ist dafür ebenso unerlässlich wie eine unterstützende Struktur, vielleicht eine neue Form intermediärer Organisation. In dieser würden alle relevanten Informationen für die Auswahl, Implementation und Umsetzung einer Innovation oder Maßnahme an einer Schule gebündelt werden. So könnten Erkenntnisse der Wissenschaft mit Gesetzesgrundlagen, Umsetzungslogiken der Verwaltung, politischen Interessen und Bedarfen der schulischen Praxis im Sinne einer kohärenten Schulentwicklung abgestimmt werden und in Angeboten münden, die die unterschiedlichen Perspektiven zusammenbringen. Dafür müssten wir vielleicht aber auch diskutieren, was für eine Gesellschaft wir sein wollen und welchen Beitrag die Schule dazu realistisch leisten kann.
Kai Maaz ist geschäftsführender Direktor des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation; Sabine Reh ist Direktorin der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF; Tilman Drope leitet den Arbeitsbereich BBF-Forschung am DIPF.
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JF (Donnerstag, 28 Dezember 2023 17:08)
Danke für den wertvollen Beitrag, der aber selbst für einen Akademiker schwer verständlich ist. Vielleicht handelt es sich bei ihm zwar nicht um die "Perpetuierung falscher Narrative" (sic!). Er ist aber vielleicht für folgendes ein Sinnbild: Wissenschaftler*innen in Deutschland müssen besser kommunizieren lernen, damit ihre Erkenntnisse auch in den Schulen ankommen!
Katja Knuth-Herzig (Freitag, 29 Dezember 2023 10:04)
Ich kann mich dem ersten Kommentar nur anschließen. Der Beitrag hat so viele wichtige Dinge zu sagen, dass es sehr schade ist, wenn diese in der unnötig komplizierten Sprache untergehen. Möglicherweise liegt hier ein Schlüssel, wie die Bildungsforchung künftig noch mehr Gehör finden kann: Kompetenzaufbau im Bereich Wissenschaftskommunikation.
TS (Freitag, 29 Dezember 2023 11:59)
Angeregt von JFs Kommentar versuche ich einmal, diesen Beitrag in Leichte Sprache zu übersetzen:
Schulen in Deutschland haben Probleme.
Es sind jedoch nicht die, von denen man immer hört.
Das Problem ist nämlich unsere Wirtschaft. Sie heißt „Kapitalismus“.
Im Kapitalismus haben manche mehr, manche weniger. Das ist schlecht.
Deshalb lernen in Schulen auch manche mehr, manche weniger.
Deshalb muss der Kapitalismus weg. Dann ist alles gut.
SP (Samstag, 30 Dezember 2023 17:01)
Ja, wenn der Inhalt dieses Beitrags auch bei der Bevölkerung, bei Eltern ankommen soll, dann sollte dieser auch noch in "einfache Sprache" übersetzt werden, damit man ihn in der Breite verteilen kann. :-) Danke.
Geplagte Eltern (Dienstag, 02 Januar 2024 12:04)
Im Text wird viel über evidenzbasierte Ansätze gesprochen, aber mein Eindruck bleibt, dass es sich bei den sogenannten evidenzbasierten, pädagogischen Empfehlungen eher um "Eminenz-basierte" handelt [obwohl Expertenmeinungen immer noch als Evidenzgrad 5 gelten und somit auch als evidenzbasiert betrachtet werden können ;-) ].
Für pädagogische Ideen, wie zum Beispiel "Schreiben nach Gehör" oder die Abschaffung des Gymnasiums, würde ich mir ähnliche Anforderungen wünschen, wie sie bei klinischen Studien gelten:
- Die Teilnahme sollte freiwillig sein.
- Es sollte eine Informationspflicht geben, zum Beispiel darüber, dass man an einer Studie teilnimmt.
- Im Vorfeld sollte ein festes Studienprotokoll mit definierten Endpunkten erstellt und veröffentlicht werden.
- Negative Ergebnisse müssen veröffentlicht werden.
-Eine qualifizierte statistische Begleitung und Auswertung sollte gewährleistet sein.
-Die Studienteilnehmer sollten die Möglichkeit haben, die Studie jederzeit abzubrechen.
Django (Mittwoch, 03 Januar 2024 12:48)
Vielleicht würde es auch helfen, sich gesamtgesellschaftlich darauf zu einigen, was das Ziel des Systems Schule denn sein soll. Und was man bereit ist, dafür an Geld aufzuwenden.
Ralf Meyer (Mittwoch, 10 Januar 2024 13:57)
In den letzten 20 Jahren haben sich die Fähigkeiten der Schüler*innen, gemessen z.B. in Pisa-Tests, ja schon erheblich geändert. Erst wurden die Leistungen einige Jahre besser, dann seit einigen Jahren wieder schlechter. Ich vermute, dass das mehr durch Änderungen im Schulunterricht verursacht wurde und nicht durch die Änderungen der Gesellschaft als Ganzes. Insofern bin ich auch optimistischer, dass man durch Verbesserungen der Schule die Leistungen der Kinder verbessern kann und nicht auf gesellschaftliche Veränderungen warten muss.
Jörg Schlömerkemper (Donnerstag, 18 Januar 2024 12:03)
"Die Schule" kann nicht "ganz anders" sein als ihr soziales und kulturelles Umfeld. Die Erwartungen sind aber vielfältig und werden in den vertrauten Formen des Lehrens und Lernens einigermaßen "bedient". Reformen seit den 1960er Jahren haben daran manches, aber nicht alles ändern können.
Ein Grundproblem ist immer noch die übliche Organisation des Lernens: Eine Lerngruppe wird darüber "unterrichtet", was in der nächsten Klausur drankommt, und dann wird vergleichend sortiert, wie erfolgreich gelernt wurde (und dann kann man das auch wieder vergessen). Sinnvoller und effektiver wäre es, wenn jede/jeder ein persönliches Profil des Könnens erarbeitet und seine Fähigkeiten verlässlich und verantwortlich in geneinsame Vorhaben einbringt. Vermutlich könnten die Heranwachsenden sich (wieder?) besser mit der Schule "identifizieren", wenn es nicht nur um "Bildung" (im Sinne von "Leistung") geht, sondern alle als Persönlichkeit ernst genommen werden, also auch mit ihrer Emotionalität, mit ihren sozialen Haltungen, ihren Einstellungen zu Politik und der Bereitschaft, sich verantwortungsbewusst in gemeinsame Aufgaben einzubringen. - Das wäre allerdings ein "etwas" anderes Bild von Schule. Ob das gewollt wird?