Eine neue Studie belegt die große bildungspolitische Bedeutung von Kitas: Sozial benachteiligte Kinder profitieren besonders, gehen aber seltener hin. Was folgt daraus?
Foto: 12138562O / Pixabay.
DASS DER KITABESUCH die soziale Kluft in der Bildung von Anfang an verringert, ist eine seit vielen Jahren in bildungspolitischen Debatten wiederholte Äußerung, die zuletzt nach den miesen PISA-Ergebnissen von Anfang Dezember Konjunktur hatte. Das Erstaunliche ist allerdings, sagt Corinna Kleinert vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi), dass es für Deutschland bislang gar keine Studie gegeben habe, die die tatsächliche Kompetenzentwicklung von Kleinkindern in deutschen Kitas unter die Lupe nahm. "Für die USA schon, aber nicht für Deutschland", sagt Kleinert. Doch könne man die amerikanischen Erkenntnisse nicht einfach auf die Bundesrepublik übertragen, dafür seien, angefangen von den Kosten eines Kitaplatzes und dessen Verfügbarkeit, die Systeme viel zu unterschiedlich.
Umso eindrücklicher ist, was Kleinert und Forscherkolleg:innen jetzt im Rahmen einer sogenannten Längsschnittstudie herausgefunden haben. Dabei wurden die Bildungsverläufe und die Kompetenzentwicklung von 992 Kindern über mehrere Jahre verfolgt, ihre Daten stammen aus dem Nationalen Bildungspanel (siehe Kasten).
Das NEPS
Das Nationale Bildungspanel (NEPS), beheimatet am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBI), besteht aus sechs großen Teilstudien, den sogenannten Startkohorten. Diese umfassen insgesamt mehr als 60.000 getestete und befragte Menschen von der Geburt über Ausbildungs- und Erwerbsphase bis in den Ruhestand hinein. Hinzu kommen 40.000 Personen aus ihrem Umfeld, zum Beispiel Eltern oder Lehrkräfte. Die Stichproben der Startkohorten wurden repräsentativ für ganz Deutschland gezogen. Hinter dem NEPS steht ein interdisziplinär zusammengesetztes, deutschlandweites Netzwerk, in dem zwölf Forschungsinstitute zusammenarbeiten.
Für die Startkohorte Neugeborene (NEPS-SC1) wurden 3.418 Kinder, die zwischen Februar
und Juli 2012 geboren wurden,
bundesweit zufällig ausgewählt. Im Alter von sechs bis acht Monaten und dann als Einjährige wurden sie getestet, parallel wurden ihre Eltern befragt. Danach gab es jährliche Tests und Befragungen. In die Kita-Studie von Corinna Kleinert und ihrem Team flossen die Daten von 922 Kindern aus den ersten sechs Erhebungswellen der SC1 ein. Für ihre Studie bearbeiteten die Forschenden die Daten mit logistischen und linearen Regressionen.
Als die 2012 geborenen Kinder ein Jahr alt waren, trat in Deutschland das bundesweite Recht auf einen halbtägigen Kitaplatz in Kraft. Tatsächlich besuchten 2014 aber nur 32 Prozent aller Kinder unter drei Jahren eine Kita, vor allem in den alten Bundesländern fehlten massiv Plätze. Auch heute gibt es dort noch die größten Unterkapazitäten.
Die wichtigsten Ergebnisse: Kinder aus sozial besser gestellten Familien besuchen in Deutschland häufiger eine Kita als Kinder aus benachteiligten Elternhäusern. Und das obwohl letztere besonders stark, vor allem kognitiv, vom Kita-Besuch profitieren. Der bundesweite Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz existiert seit August 2013."Wir konnten nachweisen, dass der frühe Zugang zur Kita die Bildungsunterschiede verringern kann", sagt Kleinert. "Die Frage ist nur: Wie schaffen wir es, dass mehr Eltern aus benachteiligten Familien von ihrem Recht auf einen Kitaplatz Gebrauch machen?"
Die Befunde im Einzelnen:
o Die Wahrscheinlichkeit für Kinder aus Familien mit sehr hohem sozioökonomischen Status (SES), mit zwei Jahren eine Kita zu besuchen, betrug in der LIfBi-Studie 60 Prozent. Für Familien mit einem sehr niedrigen SES lag sie bei 35 Prozent. Der SES wurde über einen Index von Haushaltseinkommen und Bildungsabschlüssen der Eltern gemessen.
o Ob für die Fähigkeit, in Kategorien zu denken, den Wortschatz oder fürs mathematische Grundverständnis: Überall gab es eine statistisch nachweisbare, positive Wirkung durch den Kitabesuch – umso größer, je niedriger der sozioökonomische Status der Kinder war. Bei Kindern mit sehr hohem SES verkehrte sich der Effekt bei Wortschatz und Mathematik sogar ins Gegenteil: Sie waren vor Schuleintritt im Schnitt fitter, wenn sie nicht die Kita besucht hatten.
o Kaum Unterschiede existierten bei der Entwicklung sozialemotionaler Kompetenzen. Hier ergab die Untersuchung, dass Kitakinder etwas seltener Probleme mit Gleichaltrigen hatten als ihre zu Hause betreuten Konterparts.
o Auf der Grundlage ihrer Daten berechneten die Forschenden zwei Extremszenarien: Wie wäre es um die kognitiven Kompetenzen aller Kinder bestellt, wenn A) keines die Kita besuchen würde oder B) eine 100-prozentige Kitapflicht herrschte? "In Szenario A würde das soziale Gefälle deutlich zunehmen, in der Mathematik konkret um 0,33 Standardabweichungen gegenüber dem Status Quo", sagt Kleinert. "In Szenario B würde es sich dagegen um 0,14 Standardabweichungen verringern. Das ist viel."
"Eine Kitapflicht würde
vermutlich wenig bringen"
Was aber folgt aus diesen Erkenntnissen? Eines, sagt Corinna Kleinert, jedenfalls nicht ohne Weiteres: "Eine Kitapflicht würde vermutlich wenig bringen." Warum? "Weil wir in einer anderen Studie nachweisen konnten, dass sich die Einstellung und der Wille der Eltern, ihr Kind in die Kita zu schicken, nicht nach der sozialen Herkunft unterscheidet. Die Eltern wollen ja." Sehr wohl aber gebe es Unterschiede beim Informationsstand über Rechte und Möglichkeiten.
Auch hätten einer neuen Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zufolge Eltern mit niedrigem sozialen Status die Kitasuche als schwieriger empfunden und häufiger fehlende wohnortnahe Betreuungsangebote vermisst. Das Problem, sagt Kleinert, sei also, dass es auch zehn Jahre nach Einführung des Rechts auf einen Kitaplatz nicht ausreichend davon gebe. "Und bei dem Kampf um diese knappe Ressource setzen sich bessergestellte Eltern offenbar erfolgreicher durch."
Wie aber ändert man das? "Ja", sagt Kleinert. "Das ist die große Frage." Hier fehle es an Forschung zu den sozialen und psychologischen Effekten. Für eines brauche es aber nun wirklich keine Forschung mehr. "Wir brauchen mehr qualitativ hochwertige Kitaplätze. Je mehr der Staat zur Verfügung stellt, desto mehr lernen Kinder kognitiv und emotional bis zum Schulstart und desto geringer sind die sozialen Unterschiede." Viel sei momentan von notwendigen Investitionen in die Zukunft die Rede. "Hier ist eine, die sich wirklich lohnt."
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Falk Müller (Mittwoch, 17 Januar 2024 21:45)
Hamburg hat sich in den letzten Jahren auch deshalb besser in den Bildungsrankings geschlagen, weil es einen Fokus auf frühkindliche Bildung legt. Hier gibt es auch ein verpflichtendes Vorschuljahr. Das ist kein Kita-Ersatz, zeigt aber, dass in einem Stadtstaat mit hohem Anteil an SES-Kindern mehr erreicht wird als in den anderen Stadtstaaten/Ländern, wo das nicht so ist.