Ursula Paintner leitet die "Nationale Akademische Kontaktstelle Ukraine" im DAAD. Vor der Ukraine Recovery Conference spricht sie über das Uninleben im Kriegszustand, das nachlassende öffentliche Interesse in Deutschland und sagt, was jetzt nötig ist.
Ursula Paintner ist promovierte Germanistin, Direktorin für Kommunikation des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und leitet die "Nationale Akademische Kontaktstelle Ukraine". Foto: DAAD/Krüger.
Frau Paintner, wie geht es den Hochschulen in der Ukraine?
Es geht ihnen nicht gut, es geht der Wissenschaft insgesamt nicht gut, wenn wir uns allein die Zahl der Hochschulgebäude und Forschungseinrichtungen anschauen, die ganz oder teilweise zerstört worden sind. Es sind so viele, dass man den Verdacht äußern muss, sie seien gezielt ins Visier genommen worden.
Kann der ukrainische Staat überhaupt noch Geld investieren in Lehre und Forschung?
Rudimentär: ja. Natürlich hat die Regierung in Kiew im Moment nachvollziehbar andere Prioritäten. Die positive Kehrseite ist, dass wir quer durchs ukrainische Wissenschaftssystem, bei Dozent:innen, Forscher:innen und Studierenden, ein außerordentliches Engagement beobachten, um die Wissenschaft und ihre Einrichtungen im Krieg am Leben zu halten. Mich beeindruckt, wie die Hochschulen unter den widrigsten Bedingungen weitermachen, wie weiter geforscht und gelehrt wird. Weil allen Beteiligten, glaube ich, sehr klar ist: Dieses Land hat nur eine Zukunft, wenn seine junge Generation eine Zukunft hat.
"Nebenher, erzählte mir der Leiter eines
International Office, kümmert sich sein Büro jetzt um hunderte von Binnenflüchtlingen auf dem Campus."
Wie sieht der Hochschulalltag in der Ukraine aktuell aus?
Es gilt zumindest in der Ostukraine die Regel: Es dürfen nur so viele Studierende auf den Campus, wie Platz im Bunker vorhanden ist. Mit dem Ergebnis, dass Dozierende häufig auf Online-Unterricht ausweichen müssen. Das klappt überwiegend sehr gut, wird aber gerade derzeit wieder durch massive Stromausfälle erschwert. Nebenher, erzählte mir der Leiter eines International Office, kümmert sich sein Büro jetzt um hunderte von Binnenflüchtlingen auf dem Campus, um sie mit Lebensmitteln, Kleidung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen. So läuft es vielerorts. Unterdessen melden sich Dozierende und Studierende freiwillig zum Kriegsdienst, auch für sie organisieren die Hochschulen vielfach warme Kleidung und anderes mehr. Die Aufgaben reichen also weit über die normale Lehre und Forschung hinaus, und die Hochschulen nehmen sie an und machen einfach.
Vor zwei Jahren entstand die Nationale Akademischen Kontaktstelle Ukraine im DAAD mit Unterstützung von BMBF, Kultusministerkonferenz, Wissenschaftsministerien und der Allianz der Wissenschaftsorganisationen. Um was genau zu tun?
Die Kontaktstelle steht Studierenden und Wissenschaftler:innen zur Seite, die wegen des Krieges nach Deutschland geflüchtet sind. Das waren vor allem zu Anfang sehr viele. Wir betreiben eine Website mit vielen Informationen und Serviceangeboten, und wir helfen bei der Integration in die deutsche akademische Community zum Beispiel durch Netzwerkveranstaltungen. Zunehmend wichtiger wird, den ukrainischen Studierenden und Wissenschaftler:innen zugleich die Brücken in die Ukraine offenzuhalten, denn sie werden dort dringend gebraucht. Zuletzt hat die Kontaktstelle auch wieder vermehrt die Aufgaben des geschlossenen DAAD-Büros in Kiew übernommen und berät Ukrainerinnen und Ukrainer, die mit einem regulären Stipendium nach Deutschland kommen wollen.
Als die Kontaktstelle 2022 eingerichtet wurde, waren Interesse und Mitgefühl hierzulande enorm. Was ist davon noch übrig?
Das Interesse hat sicherlich nachgelassen, außerdem haben sich andere Krisen in den Vordergrund geschoben. Geblieben ist die Bereitschaft der deutschen Hochschulen und auch der Studierenden, sich einzubringen und zu unterstützen – sowohl für Geflüchtete in Deutschland als auch für die Hochschulen in der Ukraine.
Und die Bereitschaft der Bundesregierung, das Engagement der deutschen Hochschulen finanziell zu unterstützen?
Die politischen Initiativen, die 2022 kurzfristig starteten, hatten zunächst eine Perspektive bis Mitte/Ende 2023 und sind dann teilweise, Stichwort "Ukraine digital" oder "Zukunft Ukraine", bis Ende 2024 verlängert worden. Ob der Haushalt 2025 weitere Mittel für die Ukraine umfassen wird, was wir für geboten hielten, muss sich zeigen.
"Unsere Prognosen haben sich nicht in der
Weise erfüllt, wie wir es erwartet hatten."
Wie viele ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind eigentlich seit Kriegsbeginn nach Deutschland gekommen?
Die Gesamtzahl kennen wir nicht, da keine übergreifende Statistik über all die Stipendien und Sonderförderungen geführt wird. Was wir wissen: Allein an den deutschen Hochschulen ist die Zahl ukrainischer Mitarbeiter:innen in wissenschaftlichen Positionen von 1.021 im Jahr 2021 innerhalb eines Jahres um rund 20 Prozent auf 1.245 gestiegen. Die Zahlen für 2023 liegen uns noch nicht vor, ich gehe aber inklusive Stipendien von einer Zahl mindestens im mittleren dreistelligen Bereich von Ukrainerinnen und Ukrainern aus, die seit Kriegsbeginn als Forscher:innen im deutschen Wissenschaftssystem angekommen sind.
Und ukrainische Studierende?
Auch da können wir keine genaue Zahl sagen, weil eine signifikante Menge junger Menschen in Vorbereitungs- und Sprachkursen nicht erfasst wird. Die Zahl der ukrainischen Studierenden und Promovierenden an deutschen Hochschulen ist jedenfalls von 6.359 im Wintersemester 2021/22 auf 9.069 im Wintersemester 2022/23 gestiegen.
Selbst wenn es doppelt so viele wären: DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee hatte im Frühjahr 2022 mit bis zu 100.000 aus der Ukraine geflüchteten Studierenden und Forschenden gerechnet. Wo sind die alle?
Unsere Prognosen haben sich nicht in der Weise erfüllt, wie wir es erwartet hatten; unter anderem, weil nicht abzusehen war, dass der vollständige Zusammenbruch der Ukraine und damit auch ihres Bildungssystems nicht eintreten würde. Nicht vergessen sollte man außerdem, dass eine Ausreisbeschränkung für ukrainische Männer besteht, die potenziell zum Kriegsdienst eingezogen werden können. Und was man immer mitdenken muss: Ukrainerinnen und Ukrainer besitzen keine unmittelbare Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland. Die meisten müssen erst einmal durch die Vorbereitungs- und Sprachkurse, wenn sie hier studieren wollen. Das dauert eine gewisse Zeit.
Es sind also vermutlich weniger gekommen, und bei den Gekommenen hat der DAAD trotz all seiner Erfahrungen mit der deutschen Kultus- und Hochschulbürokratie die Hürden für ukrainische Studieninteressierte unterschätzt?
Dass sprachliche und fachliche Vorbereitung nötig sein würde, war von Anfang an klar. Und die Studierenden und Studieninteressierten sind ja an den Hochschulen in entsprechenden Kursen, wenn auch nicht immatrikuliert und damit von der Statistik noch nicht erfasst.
"Wir sollten das gestiegene Selbstbewusstsein
der geflüchteten Studierenden und Wissenschaftler:innen wahrnehmen."
Verschlechtern die geringeren Zahlen ukrainischer Studierender und Forschender jetzt Ihre Argumentationsgrundlage, wenn Sie als Kontaktstelle eine anhaltende Unterstützung für die Betroffenen einfordern?
Das glaube ich nicht. Die Politik sieht ja, wie grundlegend zum Beispiel das Integra-Programm des DAAD war, damit die Hochschulen den Geflüchteten Sprachkurse und Studienvorbereitung anbieten konnten. Und unsere Hauptbaustelle ist inzwischen die Frage, wie es mit der Wissenschaft in der Ukraine weitergeht. Es ist doch so: Wenn wir eine stabile Ukraine wollen, die sich Europa weiter annähert, brauchen wir dort gut ausgebildete junge Menschen. Die deutschen Hochschulen können und wollen mit ihrer Expertise einen Beitrag dazu leisten.
Bitte ein konkretes Beispiel.
Nehmen wir "Ukraine digital", ein Programm, in dem deutsche und ukrainische Hochschulen miteinander kooperieren, um digitale Studienangebote dort zu entwickeln, wo keine Präsenzlehre möglich ist. Durch das Programm vernetzen sich die ukrainischen Hochschulen auch untereinander und tauschen ihre Konzepte aus. So stabilisieren wir den Lehrbetrieb. Als nächstes kommt es darauf an, die entstandenen Partnerschaften zu einem deutsch-ukrainischen Hochschulnetzwerk weiterzuentwickeln – hin zum gemeinsamen Aufbau von Studienangeboten und der Fortbildung von Dozierenden. Da hoffen wir auf Mittel im Bundeshaushalt 2025.
Nächsten Dienstag beginnt die diesjährige Ukraine Recovery Conference in Berlin. Ihr Appell Richtung Politik und Öffentlichkeit?
Ich knüpfe an das an, was ich gerade gesagt habe. Wir können auf dem hohen Engagement der vergangenen zwei Jahre aufbauen. Dazu gehört, dass wir das gestiegene Selbstbewusstsein der geflüchteten Studierenden und Wissenschaftler:innen wahrnehmen. Sie wollen sich in Deutschland einbringen, sie wollen aber auch ihren Beitrag zum Wiederaufbau ihrer Heimat leisten. Wir sollten ihnen durch stabile Rahmenbedingungen beides ermöglichen.
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