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Eine Verpflichtung zum Aufarbeiten, nicht zum Rechthaben

Der Leak der RKI-Protokolle lieferte kaum neue Erkenntnisse, aber macht deutlich, worum es jetzt gehen muss: Die Lektionen aus der Corona-Pandemie ziehen wir nur, wenn wir mit dem Gegeneinander aufhören.

SEIT DIE RKI-PROTOLLE UNGESCHWÄRZT geleakt wurden, läuft die Debatte. Welche zusätzliche Erkenntnisse ergeben sich gegenüber der vorher bekannten Version? Tun sich bislang unbekannte Abgründe auf? Die Gruppe um die Journalistin Aya Velázquez, die den Datensatz veröffentlicht hat, sagte, es handle sich um alle Sitzungsprotokolle des Krisenstabes des Instituts aus zwischen 2020 und 2023. Nicht alles habe ich gelesen, aber sehr viel habe ich auch an Auswertungen, Analysen und Kommentaren darüber gelesen. Mein Eindruck: Nirgendwo ist mir bislang wirklich Überraschendes begegnet. Nichts, was neue Aufregung rechtfertigt. Dafür aber die alte Aufregung, die von vor drei, vier Jahren umso mehr.

 

Aus den Protokollen spricht, was Experten längst gewusst haben: Das Robert-Koch-Institut war von seiner Rolle in der Pandemie überfordert, es war als Ressortforschungseinrichtung in einem ständigen Konflikt zwischen wissenschaftlichem Selbstverständnis und politischer Weisung. Der Institutsleitung fehlte lange Zeit der nötige Mut, vielleicht auch die Kompetenz, inmitten dieses Spannungsfeld öffentlich gegenzuhalten, wenn die politisch Verantwortlichen wieder einmal etwas behaupteten, was empirisch nicht haltbar war. Oder wenn sie gar die wissenschaftliche Reputation des Instituts missbrauchten, um rein politische Entscheidungen durchzusetzen. 

 

Zugleich sind die Protokolle eindrucksvoller Beleg des Blindflugs, den Deutschland sich den größten Teil der Pandemie geleistet hat. Weil die nötigen Daten fehlten, gar nicht erst erhoben oder nicht in einer Weise kombiniert wurden, dass sie eine sinnvolle Auswertung des Infektionsgeschehens ermöglichten. Gründe waren die fehlende digitale Vernetzung, eine Fehlinterpretation des Datenschutzes, eine dysfunktionale Bürokratie und ja, leider an vielen Stellen auch ein politisches Desinteresse. Hauptsache, die ergriffenen Maßnahmen zur Pandemieeindämmung gaben den Anschein von Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit; dass man ihre Wirkung zeitgleich wissenschaftlich wirksam hätte analysieren müssen, wurde allzu oft ausgeblendet.

 

Genauso bekannt war schon vor der Veröffentlichung der RKI-Protokolle, ob geschwärzt oder nicht, dass die Perspektive der Virologie von der Politik lange Zeit einseitig überhöht wurde. Dass die Erkenntnisse anderer Teilgebiete der Medizin oder der Wissenschaften in einer Weise vernachlässigt wurden, dass auf diese Weise eine ethisch-moralische Abwägung von Schaden und Nutzen vieler Corona-Maßnahmen unmöglich wurde. Wer will, kann in dieser Perspektivenverengung eine Ignoranz der Vielfalt des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses erkennen gerade bei denen, die damals besonders auf die angebliche Wissenschaftsbasierung der Corona-Politik gepocht haben.

 

Wer die RKI-Protokolle nutzen möchte, um die Konflikte aufleben zu lassen, macht einen grundsätzlichen Fehler

 

Am Ende aber ist all das jetzt vergossene Milch. Denn wer die RKI-Protokolle nutzen möchte, um die Corona-Konflikte von einst noch einmal aufleben zu lassen, macht einen grundsätzlichen Fehler. Einen, den ich sogar verstehen könnte, hatte ich während der Pandemie doch selbst häufig das Gefühl, mit meinen Blog-Beiträgen auf verlorenen Posten zu stehen. Als einer, der anmahnte, auch auf die Perspektiven von Krankenhaushygienikern, Kinderärzten, Public-Health-Spezialisten, Soziologen oder Philosophen zu hören, der immer wieder die Dysfunktionalität des RKI kritisierte und die Ignoranz von Teilen der Politik, die nicht aufhören wollten, ausgerechnet die Kinder stärker einzuschränken als die Erwachsenen. Der für seine Mahnungen vielfach öffentlich angegriffen wurde, auch von Journalistenkollegen. Klar fühlt es sich da gut an, jetzt aufzustehen und zu sagen: Habe ich doch immer gesagt!

 

Und genau um diesem Impuls zu widerstehen, habe ich in den vergangenen anderthalb Jahren kaum noch etwas zu Corona veröffentlicht. Denn es kann, es darf jetzt nicht um Schuldzuweisungen gehen, nicht ums demonstrative Rechthabenwollen im Nachhinein. Weder von denen, die damals mit Berufung auf die Wissenschaft die ergriffenen Maßnahmen als zu lasch empfanden. Noch von denen, die sie – ebenfalls mit Berufung auf die Wissenschaft – als einseitig und empirisch nicht begründet kritisierten. Denn je mehr wir uns gegenseitig Vorwürfe machen, desto unwahrscheinlicher wird das, was so dringend nötig wäre: eine systematische Aufarbeitung der Pandemie. 

 

Sie wird unwahrscheinlicher, weil die Politik dann umso mehr vor ihr zurückschreckt aus Angst vor einer sich weiter vertiefenden gesellschaftlichen Spaltung. Vielleicht auch aus der Befürchtung heraus, dann würden sich am Ende doch die durchsetzen, die wegen der Corona-Politik irgendwen zur Rechenschaft ziehe wollen.

 

Wenn wir ehrlich sind, geht es bei der Aufarbeitung aber gar nicht so sehr um uns. Um unsere Befindlichkeiten und Verwundungen in der Pandemie. Es geht um unsere Verantwortung nachfolgenden Generationen gegenüber. Denn die nächste Pandemie, soviel ist sicher, kommt bestimmt. Sie wird nicht weniger gefährlich sein, nicht weniger gesellschaftlich herausfordernd, und wieder wird sie politische Adhoc-Entscheidungen verlangen, die eigentlich kein Politiker treffen kann oder treffen möchte.

 

Wir haben die Fähigkeit zur

Aufarbeitung und damit die Verpflichtung

 

Stellen Sie sich vor, wir hätten Anfang 2020 auf bestens dokumentierte und analysierte Entscheidungen aus der Zeit der Spanischen Grippe zurückgreifen können, auf hochwertige wissenschaftliche Beiträge aus der Virologie und allen wichtigen Disziplinen der Medizin, der Sozial- und Geisteswissenschaften. Stellen Sie sich vor, Politik und Wissenschaft von vor 100 Jahren hätten uns einen Schatz an Daten und Auswertungsmethoden hinterlassen oder zumindest als Schlussfolgerung aus der Pandemie danach aufgebaut.

 

Eine unrealistische Vorstellung, ich weiß. Die Welt war kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges weder wissenschaftlich oder wirtschaftlich noch technologisch oder gesellschaftlich zu einem solchen Geschenk an nachfolgende Generationen in der Lage. Aber wir sind es. Und mit der Fähigkeit kommt die Verpflichtung. Zum Beschreiben der Fehler von Wissenschaft und Politik, ohne diejenigen, die sie (aus welchen Gründen auch immer) gemacht haben, bloßzustellen oder zu bedrohen. Zum Aufbau und Vorhalten eines Monitoring-Systems, das umfassend ist und zugleich flexibel anpassbar an die Charakteristika einer Pandemie, die sicherlich ganz anders sein werden als die von Corona. 

 

Ein wichtiger Schritt wäre die Einrichtung einer Enquete-Kommission des Bundestages. Dafür ist es nicht zu spät. Ein weiterer wäre, die Struktur und Logik der deutschen Ressortforschung zu reformieren. Viele weitere Schritte werden automatisch folgen. Wenn wir uns jetzt unserer Verantwortung bewusst werden. Dann hätte die Debatte über die RKI-Prokolle ihr Gutes gehabt.



In eigener Sache: Prekäre Blog-Finanzierung


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Kommentare: 1
  • #1

    Renate Bielstein (Samstag, 27 Juli 2024 16:34)

    Der Beitrag ist aus meiner Sicht sehr wohltuend. Ich finde auch menschlich sehr angenehm, daß der Autor in den letzten beiden Jahren auf Besserwisserei verzichtet hat.