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"Richtig große Sprünge"

Kai Gehring leitet den Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung – und will nach 20 Jahren nicht wieder für den Bundestag kandidieren. Was treibt ihn? Ein Interview über die Ampel-Bilanz, BMBF-Chefin Stark-Watzinger, die Forderung für nach einem neuen Bund-Länder-Programm für den Hochschulbau – und ungute Kopien amerikanischer Debatten.

Der Essener Kai Gehring, 46, hat Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studiert und ist seit 2005 grüner Bundestagsabgeordneter. Foto: DBT/Inga Haar.

Herr Gehring, vor einigen Wochen haben Sie Ihren Abschied als Bundestagsabgeordneter zum Ende der Wahlperiode angekündigt. Nachdem Sie 2021 Vorsitzender des Bildungsausschusses geworden waren, hatten einige Sie als aussichtsreichen Ministerkandidaten auf dem Zettel. Warum wollen Sie raus aus der Politik?

 

Danke für das Kompliment, aber wo und wie ich 2026 beruflich anknüpfe, ist offen und Zukunftsmusik. Ich hatte fünfmal in Folge das große Privileg, in den Deutschen Bundestag gewählt zu werden. Das waren zwei ereignisreiche Dekaden, und wenn ich aufhöre, werde ich mit 47 weitere 20 Jahre bis zur Rente arbeiten. Ich habe für mich den Punkt gefunden, aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Als Ausschussvorsitzender begleite ich viele politische Entscheidungen und wirke bei der Realisierung von Projekten mit, für die ich viele Jahre gekämpft habe. 

 

Haben Sie für die Zeit nach dem Bundestag etwas im Sinn, das genauso spannend ist?

 

Ein paar Ideen habe ich, aber keine davon ist spruchreif. Ab 2026 heißt es also beruflich "auf zu neuen Ufern", doch bis zum Ende der Wahlperiode werde ich meine Aufgabe als Ausschussvorsitzender begeistert fortsetzen. Politisch bleibe ich, mein Erfahrungsschatz ist groß und meine Leidenschaft für Wissenschaft ist ungebrochen.

 

"Ich bin sicher, dass unsere Koalition in den Geschichtsbüchern viel besser dastehen wird,
als es momentan erscheint." 

 

"Aufhören, wenn es am schönsten ist", sagen Sie. Was ist im Augenblick an der Stimmung in der Ampel-Koalition schön?

 

Es hat in Koalitionen immer erhebliche Konflikte gegeben, nur waren die in der Ära Merkel weniger sichtbar nach außen. Natürlich würde ich mir auch für die Ampel wünschen, dass wir Konflikte weniger öffentlich austragen und dafür die öffentliche Kommunikation über unsere Erfolge verstärken. Ich bin sicher, dass unsere Koalition in den Geschichtsbüchern viel besser dastehen wird, als es momentan erscheint. Wir werden die Regierung sein, die das Land nach vielen verlorenen Jahren endlich auf Transformations- und Modernisierungskurs gebracht hat. Wir treiben die Digitalisierung und den Klimaschutz voran, wir haben die Bundesrepublik vom billigen Gas eines Diktators zügig unabhängig gemacht und unser Verhältnis zu China neu austariert. Wir haben die Internationalisierungsstrategie für die Wissenschaft neu aufgesetzt, Chancen mehr genutzt, die Risiken breiter gestreut und die Kooperation mit unseren Wertepartnern vertieft. 

 

Wie wird man die gegenwärtige Bundesbildungsministerin in den Geschichtsbüchern bewerten?

 

Regieren ist Teamleistung und ein Gemeinschaftsprojekt: Als Koalition haben wir gemeinsam den größten BAföG-Booster in der Geschichte gezündet, unter anderem mit einer Erhöhung der Freibeträge um 27 Prozent. Mit dem Startchancen-Programm haben wir ein Instrument zur Chancengerechtigkeit, das es so noch nie gegeben hat. Eine Million Kinder und Jugendliche in benachteiligten Quartieren werden davon profitieren. Als ich es 2015 für meine Fraktion im Bundestag erstmals beantragt habe, wurde es noch belächelt und abgelehnt. Heute ist es eine Antwort auf eingetrübte Bildungsstudien und markiert den notwendigen Anfang einer Bildungswende. Wir haben die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) entfesselt und gleisen mit der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) etwas völlig Neues auf. Dass es die ganze Wahlperiode dauert, bis daraus etwas Bleibendes entsteht, war absehbar. Wir haben die missionsorientierte Zukunftsstrategie entwickelt und mit Leben gefüllt, wir haben den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" dynamisiert, die Fortsetzung aller drei Wissenschaftspakte in haushaltspolitisch schwierigen Zeiten gesichert und investieren 500 Millionen Euro für die Forschung an HAWs und in das Programm "Junges Wohnen" für Studierende und Auszubildende. Also: Wir haben konsolidiert und stabilisiert. Wir haben Neues geschaffen. Und beim BAföG und für bessere Startchancen richtig große Sprünge hingelegt.

 

Das war eine Bilanz der Bildung- und Wissenschaftspolitik der Ampel, die man an manchen Stellen durchaus hinterfragen kann. Aber ich hatte nach der Bundesbildungsministerin gefragt, die mitten in der größten Affäre steckt, die das BMBF seit vielen Jahren erlebt hat.

 

Die Ministerin hat all die von mir genannten Projekte erfolgreich mit aufgegleist. Wir setzen gemeinsam um, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Als Ausschussvorsitzender sehe ich meinen Job nicht darin, Haltungsnoten zu verteilen. Das ist vorrangig die Aufgabe von Journalisten und der Opposition. Zugleich kontrollieren wir auch als regierungstragende Fraktionen, die Reaktionen sind intern und extern deutlich. Was die sogenannte Fördermittel-Affäre angeht, ist offenkundig, dass nach Bekanntwerden reagiert wurde, es aber zu den Vorgängen im Ministerium noch unbeantwortete Fragen gibt und die Krisenkommunikation nicht gelungen war. Als Grüner und Ausschussvorsitzender fordere ich, dass die Nachfragen der Opposition ernstgenommen werden. Es braucht vollumfängliche Aufklärung, vor allem damit derartige Gesinnungsprüfungen künftig unterbleiben und Wissenschaftsfreiheit garantiert bleibt. Und verloren gegangenes Vertrauen zwischen Hausspitze und Wissenschaftscommunity muss wieder aufgebaut werden.

 

Sie werden also der Forderung der CDU/CSU-Fraktion nachkommen und eine weitere Sondersitzung des Ausschusses zur Affäre ansetzen, in der neben Stark-Watzinger auch die entlassene Staatssekretärin Sabine Döring sowie der für Hochschulen zuständige Abteilungsleiter Jochen Zachgo erscheinen sollen?

 

Dem Wunsch der CDU/CSU-Fraktion vom 31. Juli, am 10. September eine Sondersitzung des Ausschusses durchzuführen, habe ich am selben Tag entsprochen. So sieht es die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor. Zu der Sitzung habe ich wie beantragt Frau Bundesministerin Stark-Watzinger eingeladen, die Entscheidung über die Teilnahme weiterer Personen obliegt auch der BMBF-Leitung.

 

"Es bleibt festzuhalten, dass es zwar
das Risikoeines massiven Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit gegeben hat, dass dieser Eingriff 
nach Bekanntwerden aber ausgeblieben ist." 

 

Wie groß ist der angerichtete Schaden wirklich, Herr Gehring?

 

Zunächst bleibt festzuhalten, dass es zwar das Risiko eines massiven Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit gegeben hat, dass dieser Eingriff nach Bekanntwerden aber ausgeblieben ist. Auch bin ich zuversichtlich, dass gerade die kritische Diskussion, die wir seit Wochen darüber führen, sicherstellt, dass in Deutschland Fördermittelentscheidungen auch künftig nach Exzellenz und Talent laufen und nicht nach politischer Gesinnung oder Sympathie oder Antipathie. Zugleich müssen fundierte Fragen, die in der Affäre noch offen sind, beantwortet werden. Wissenschaftsfreiheit ist kein "nice to have", sondern elementar wichtig für unser Forschungssystem und grundgesetzlich geschützt.

 

Es hat sehr lange gedauert, bis Kritik am Vorgehen der Ministerin auch aus den Reihen von SPD und Grünen geübt wurde.

 

Als Regierungsfraktionen üben wir unsere Kontrolle stärker nach innen als über die Medien aus. Trotzdem können Sie nachlesen, dass auch ich als Ausschussvorsitzender in den vergangenen Wochen mehrfach Aufklärung eingefordert habe. Es ist richtig, dass sich das BMBF für eine deutliche Haltung gegenüber Antisemitismus einsetzt und darauf hinweist, dass der Campus kein rechtsfreier Raum ist. Rektor*innen üben ihr Hausrecht verantwortlich in ihrer Hochschulautonomie aus und können Protestcamps und Besetzungen nicht unendlich lange dulden, weil auch die Freiheit zu Studieren nicht dauerhaft beeinträchtigt sein darf. Ein Ministerium muss die Meinungsfreiheit respektieren, die Wissenschaftsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit. Protestierende, Randalierende und ihre Sympathisierenden wiederum das staatliche Gewaltmonopol und das Hausrecht. Was uns nie hilft, sind Schwarz-Weiß-Debatten. Auch beim Nahost-Konflikt gibt es viele Grautöne und unterschiedliche Auffassungen, die zulässig sind, ob ich sie persönlich nun gut finde oder nicht. Blanker Antisemitismus ist nicht hinnehmbar.

 

Als Leistung der Ampel haben Sie vorhin die neue Internationalisierungsstrategie genannt. Wie finden Sie es, dass eine grüne Außenministerin den Etat von Deutschem Akademischen Austauschdienst (DAAD) und Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH) derart kürzen will?

 

Darüber bin ich sehr unglücklich, da müssen wir nachbessern. Mal plant das Auswärtige Amt, mal das BMBF zu kürzen – die Mittlerorganisationen benötigen aber Planungssicherheit. Wir hatten es als Parlamentarier in den vergangenen Haushaltsjahren nahezu geschafft, den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen jährlichen Aufwuchs von drei Prozent für den DAAD zu wuppen. Nachbessern müssen wir aber auch bei der Finanzierung der Wissenschaftskommunikation. Es ist nicht in Ordnung, wenn wir als Regierungskoalition einen umfangreichen Antrag zu deren Stärkung beschließen und das BMBF dann bei den Mitteln runtergeht. Es ist bislang noch jedes Mal so gewesen, dass der Haushaltsausschuss des Bundestages zusammen mit dem Fachausschuss Korrekturen am Etat vornimmt. Ich bin zuversichtlich, dass wir unsere parlamentarische Kontrolle über den Haushaltsausschuss auch in diesem Jahr entsprechend ausüben werden.

 

"Ich würde mit solchen Finanzierungsschlüsseln
nicht zu apodiktisch vorgehen, sonst fesselt man sich selbst."

 

Die Ampel-Koalition hat sich eine haushaltspolitische Selbstbeschränkung auferlegt, die gerade für Bildung und Wissenschaft eine große Rolle spielt. "Bei neuen Maßnahmen, mit denen der Bund die Länder unterstützt, wird der Anteil des Bundes bis maximal 50 Prozent betragen", so steht es auch im Haushaltsentwurf. Zu Recht?

 

Ich halte es nicht für falsch, über ein Fifty-Fifty zu sprechen, wenn etwa für Schulen und Hochschulen die Länder die Hauptverantwortung tragen und wir in gesamtstaatlicher Verantwortung Pakte vereinbaren. Ich würde nur auch mit solchen Schlüsseln nicht zu apodiktisch vorgehen, sonst fesselt man sich selbst. Am Ende braucht es immer politische Lösungen und Vereinbarungen mit denen beide Seiten, der Bund und alle 16 Länder, gut leben können. Der Bund hat auch eigene Interessen, will notwendige Schwerpunkte setzen, Anreize schaffen. Das war beim Hochschulpakt so, beim Digitalpakt Schule und jetzt beim Startchancen-Programm.

 

Und künftig?

 

Als nächstes wird der Bund gefragt sein beim klimagerechten Hochschulbau. Wenn Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen die Laboratorien und Kathedralen der Zukunft sein sollen, geht es nicht an, dass ihr baulicher Zustand an vielen Orten im Kontrast steht zu den globalen Nachhaltigkeitszielen. Erste Anreize zu mehr Klimagerechtigkeit sind gesetzt: Beim Förderprogramm "Innovative Hochschule" haben viele Anträge von Universitäten und HAWs mit ökologischen und Klima-Projekten gewonnen. Mit der Förderinitiative "Klimaneutrale Wissenschaft" fördern wir elf Forschungsverbünde mit 35 Hochschulen, die an Lösungen für klimaneutrale Hochschulen arbeiten. Eine Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird darin bestehen, ein breiteres Bund-Länder-Programm aufzulegen. Zu smarten und grünen Städten gehören auch smarte und grüne Hochschulen – bestenfalls als Pioniere und Leuchttürme für Klimagerechtigkeit.

 

Also soll der Bund den Ländern noch stärker unter die Arme greifen? Und das ausgerechnet beim Thema Hochschulbau, aus dem sich der Bund nach der Föderalismusreform Mitte der Nullerjahre zurückgezogen hat – übrigens auch auf Wunsch der Länder? Wie passt diese Forderung dazu, dass die Länder aktuell ihre Schulden tilgen, während der Bund neue auftürmt?

 

Nochmal: Für mich ist nicht entscheidend, ob der Bund am Ende 30, 45, 55 oder 70 Prozent an einem zukunftsgerichteten Programm übernimmt. Aber Bedingung ist, dass es funktioniert, dass die Bundesmittel tatsächlich zusätzlich kommen und die Länder nicht im Gegenzug anderswo kürzen. Gegenseitiges Vertrauen, wechselseitige Verlässlichkeit und Berechenbarkeit über Ebenen- und Parteigrenzen hinweg sind wichtiger als starr festgelegte Prozentzahlen.

 

Von außen erscheint es so, als sei das Miteinander von Bund und Ländern in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik an vielen Stellen einer demonstrativen Polarisierung gewichen. 

 

Eine Polarisierung zwischen Bund und Ländern in der Wissenschaftspolitik hat es immer gegeben. Als Frau Stark-Watzingers Vor-Vorgängerin Johanna Wanka ankündigte, dass der Bund 100 Prozent der BAföG-Finanzierung übernimmt, wurde über Jahre gestritten, wofür die Länder die freiwerdenden Mittel verwenden dürfen. Und am Ende ist doch fast alles Geld in Bildungsbereiche gesteckt worden, angefangen mit den Kitas. Allerdings sollten wir uns gerade heute wirklich zweimal fragen, ob wir einen Bund-Länder-Finanzierungskonflikt öffentlich eskalieren oder hinter verschlossenen Türen verhandeln und lösen.

 

"Ich fordere die bayerische Staatsregierung auf,
ihre Bedenken gegen die Abschaffung
des Einstimmigkeitsprinzips in der KMK aufzugeben."

 

Wie meinen Sie das?

 

Womöglich bringt die eine oder andere Kontroverse etwas mehr öffentliches Interesse an der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, grundsätzlich aber wird der Bildungsföderalismus schon jetzt nicht sonderlich geschätzt. Es gibt angesichts der dramatischen PISA- und IGLU-Ergebnisse den großen Wunsch in der Bevölkerung, dass Bund und Länder sich bildungspolitisch zusammenraufen. Daher auch meine Forderung, notfalls eine Sonder-Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidenten-Konferenz mit dem Kanzler einzuberufen, um dieser großen Verantwortung, die Bildungs- und Fachkräftekrise zu lösen, gerecht zu werden. Auch müssen wir uns akut wappnen für den Fall, dass AfD oder BSW eine Schulministerin oder einen Schulminister stellen. Dafür müssen wir jetzt zusammenstehen, um zu verhindern, dass ein Bundesland alle anderen als Geiseln nehmen und beispielsweise Demokratieförderprogramme blockieren könnte. Auch aus diesem Grund fordere ich die bayerische Staatsregierung auf, ihre Bedenken gegen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Kultusministerkonferenz (KMK) aufzugeben. Der KMK muss die Reform ihrer selbst jetzt gelingen.

 

Was erwarten Sie sonst noch, wenn AfD und BSW in Regierungsverantwortung in den Ländern kommen?

 

Das Wichtigste ist, dass alle demokratischen Kräfte sich nicht zu sehr ablenken lassen durch immer neue Scharmützel von ganz rechts oder ganz links, sondern dass sie gelassen und robust für ihre eigenen Konzepte trommeln. Wir stehen insgesamt vor einer ernsten Bedrohung. Der Erfolg von AfD und BSW irritiert internationale Spitzenwissenschaftler, die nach Ostdeutschland oder generell nach Deutschland kommen wollen. Die AfD, diese neofaschistische und vom Verfassungsschutz in mehreren Ländern als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei, ist eine Gefahr für uns als Wissenschaftsnation, genauso wie das BSW, bei dem die größten Putin-Versteher und Wissenschaftsskeptiker andocken können. Sowohl AfD als auch BSW spielen gesellschaftliche Gruppen permanent gegeneinander aus. Politik ist dann verantwortungsvoll, wenn sie der Versuchung widersteht, die niederen Instinkte der Menschen anzusprechen. Und wenn sie ihre Entscheidungen stattdessen auf der Grundlage wissenschaftlicher Fakten trifft. Auch solch eine Politik kann Menschen emotional berühren – populär, aber eben nicht populistisch.

 

Das müssen Sie genauer erklären.

 

Mich wundert schon, wenn selbst demokratische Kräfte wie die größte Oppositionsfraktion meinen, den Bundestag mit einer Aktuellen Stunde über einen Cancel-Culture-Einzelfall beschäftigen zu müssen. Mir scheint, als wollten manche amerikanische Polarisierungen importieren. Obwohl Erhebungen wie der "Academic Freedom Index" immer wieder belegen, dass Deutschland bei der Wissenschaftsfreiheit weltweit an der Spitze steht. Oder nehmen Sie das Thema Gender-Sprache, da führen AfD, BSW und die Union teils skurrile Debatten, die überflüssig sind. Wir sind die größte Volkswirtschaft auf dem Kontinent der Wissenschaftsfreiheit. Doch wir haben das Talent, unsere Stärken permanent selber schlecht zu reden, anstatt kritische Einzelfälle zwar zu diskutieren, sie aber auch als solche einzuordnen.

 

Was bringt uns denn Ihrer Meinung nach nach vorn?

 

Wir sollten uns auf die eigentlich wichtigen Themen konzentrieren. Wie machen wir unser Wissenschaftssystem resilienter angesichts der großen internationalen Krisen wie des Angriffs Putins auf die Ukraine? Was heißt das für die Wissenschaftsfinanzierung? Wie werden unsere Hochschulen digitaler? Wie geht es weiter, wenn ein Exzellenzcluster mehrmals erfolgreich war in der Exzellenzstrategie? Was lernen wir aus der Pandemie und wie bereiten wir uns besser auf die nächste vor? Wie beenden wir die einseitige Fokussierung auf China? Wie verbinden wir uns stärker mit anderen Staaten im Asien-Pazifik-Raum? Im Forschungsausschuss stellen, diskutieren und beantworten wir solche Fragen.

 

"Angesichts der Zeitenwende"bin ich daher überzeugt,
dass wir neben ziviler Sicherheitsforschung mehr Verteidigungs- und Militärforschung brauchen."

 

Apropos einseitige Fokussierung auf China: Besteht umgekehrt nicht die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn deutsche Wissenschaftler das Gefühl haben, sich für jede Kooperation mit der bald wichtigsten Wissenschaftsnation rechtfertigen zu müssen?

 

Es war wichtig, die Wissenschaftsbeziehungen mit China kontrovers zu diskutieren, um eine notwendige Akzentverschiebung und Differenzierung hinzubekommen. "De-Risking" ist in der Außenpolitik gegenwärtig der "State of the Art", und wir müssen viel reflektierter mit China kooperieren. Besonders bei Hochrisikotechnologien ist Vorsicht geboten. Natürlich bestehen umgekehrt auch große Chancen, wenn Deutschland und Europa etwa in der Klima- oder Biodiversitätsforschung enger mit China kooperieren.

 

Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger sagte in der WELT, hinter jedem chinesischen Forscher könne sich die kommunistische Partei verbergen.

 

Das sind Zuspitzungen, die nicht weiterhelfen. Die Blauäugigkeit der vergangenen Merkel-Jahre scheint überwunden, als in der Regierung und im Wissenschaftssystem viele nicht bemerken wollten, wie sie ausspioniert wurden und die bei uns entwickelten Know-How-Vorsprünge China – und anderen autokratischen Staaten – zugutekamen. Mein Eindruck ist, dass wir die richtige Balance zwischen Chancen und Risiken inzwischen gefunden haben, eine Mischung aus solidem Misstrauen und optimistischem Vertrauensvorschuss. Wir setzen auf stärker strategische, interessen- und wertegeleitete Internationalisierung. Wissenschaft ist eine kritische Infrastruktur und muss dementsprechend von uns behandelt und geschützt werden.

 

Muss die zivile Wissenschaft stärker für Militärforschung geöffnet werden?

 

Als Grüne passen wir unsere Positionen immer wieder an die neuen Notwendigkeiten und Zumutungen der multipolaren Welt an. Angesichts der "Zeitenwende" bin ich daher überzeugt, dass wir neben ziviler Sicherheitsforschung mehr Verteidigungs- und Militärforschung brauchen. Umgekehrt bin ich ein entschiedener Befürworter der Hochschulautonomie und der eigenständigen Entscheidung der Hochschulen, ob sie sich eine Zivilklausel geben oder nicht. Und leider waren und sind wir als Grüne die einzige politische Kraft in Deutschland und Europa, die parallel zusätzliche Investitionen in die Friedens- und Konfliktforschung fordern, weil sie präventives Wissen mehrt. Wir brauchen mehr Expertise zu multilateralen Machtkonstellationen. Und wir brauchen einen gezielteren Wissenstransfer aus der Konflikt- und Friedensforschung in die Außenpolitik hinein.



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Kommentare: 3
  • #1

    Kurt Blessing (Montag, 12 August 2024 08:13)

    Bei allem Respekt für den Interviewten: Ich finde es unzulässig, AFD und BSW mehr oder weniger in einen Topf
    zu werfen. Seien Sie bezüglich BSW doch einfach mal gelassen.

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Montag, 19 August 2024)

    "... dass in Deutschland Fördermittel-entscheidungen auch künftig nach Exzellenz und Talent laufen und nicht nach politischer Gesinnung."
    Die DFG hat zwar erklärt, sie wolle wissenschaftsfremde Kriterien dabei heraushalten, siehe
    https://www.dfg.de/de/grundlagen-themen/grundlagen-und-prinzipien-der-foerderung/chancengleichheit
    aber gleichzeitig will sie das fördern, was in USA mit "Diversity, equity, and inclusion" bezeichnet wird, und dahinter stecken natürlich wissenschaftsfremde Kriterien, nämlich auch das, was in USA als "affirmative action" bekannt ist. Insbesondere erklärt man "Diversität" pauschal als "exzellenzfördernd", was durch nichts begründet ist. Künftige Anträge bei der DFG müssen also irgendwas enthalten, womit man Minderheiten fördern will, es müssen allerlei Lippenbekenntnisse her, sonst sinkt die Chance auf Bewilligung: Kein größeres Projekt mehr ohne Frauen und ethnische Minderheiten auf den Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter. Quoten schimmern schon durch. Beratungsunternehmen machen Geschäfte damit, z.B.: https://factor-d.at/
    In USA haben wir gesehen, wie der berechtigte Wunsch, eine Benachteiligung von Minderheiten zu vermeiden, am Ende darin mündete, eben diese Minderheiten zu bevorzugen. Und das ist eine indirekte Benachteiligung der anderen. Kurioserweise trifft das dann auch Migranten aus Fernost, die -- obwohl fachlich besonders gut -- gegenüber Schwarzen und Latinos schlechtere Karten haben, etwa wenn es um Stipendien geht.

    Auch die "Cancel Culture" ist in diesem Zusammenhang zu sehen, egal was die AfD sagt. Es gibt auch bei uns eine lange Liste von Fällen, die auf der Homepage des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit dokumentiert sind. Typischer Fall: Vorgesehene Referenten sollen aus politischen Gründen wieder ausgeladen werden (Standardbegründung: "keine Bühne für ..."). Auch die DFG wird dort genannt wegen ihrer "forschungsorientierten Gleichstellungsstandards", bei der eine Nichtbenachteiligung einfach durch statistische Erfolgsgleichheit gemessen wird. Prompt wird dieses Netzwerk von manchen (z.B. der Präsidentin der TU Berlin, den Grünen nahestehend) öffentlich als "politisch rechts" und damit als "unerwünscht" gescholten. In diesen beiden Punkten gibt sich Herr Gehring etwas naiv und verschweigt manches, was er wissen müsste.

  • #3

    Ralf Meyer (Mittwoch, 04 September 2024 16:11)

    Zu #2: In der DFG entscheiden die Fachkollegien aufgrund von Gutachten über Förderanträge. Ein Antrag wird nicht gefördert, wenn Kolleginnen und Kollegen im Fach meinen, dass Aspekte wie z.B. Diversity oder Wissenschaftskommunikation im Antrag nicht adäquat behandelt werden. Das ist auch gut so. Es gibt übrigens auch wissenschaftliche Studien darüber, dass diverse Teams mehr leisten können. Darum setzen ja auch viele große Konzerne darauf: offenbar lohnt es sich für sie finanziell.