Warum der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete und bayerische Verfassungsrichter Jerzy Montag den im Bundestag diskutierten Entwurf einer Antisemitismus-Resolution für gefährlich hält: ein Interview.
Jerzy Montag war bis 2013 Bundestagsabgeordneter und rechtspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. 2014 wurde er zum Sonderermittler des Parlamentarischen Kontrollgremiums in Sachen NSU ernannt. Seit 2016 ist er nichtberuflicher Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.
Foto: privat.
Herr Montag, Wissenschaftler, Juristen und Forschungsorganisationen äußern sich besorgt angesichts des Entwurfs einer Bundestags-Resolution zum Schutz jüdischen Lebens. Als langjähriges Parteimitglied der Grünen und früherer bayerischer Landesvorsitzender haben auch Sie einen Protestbrief an die grüne Bundestagsfraktion geschrieben. Was kritisieren Sie?
Zuerst: Ich befürworte sehr, dass die Ampel-Fraktionen und die Union über eine gemeinsame Resolution verhandeln, die laut Titel dazu aufrufen soll, jüdisches Leben in Deutschland zu "schützen, bewahren und stärken". Ich habe es sehr bedauert, dass eine solche Resolution nicht bereits zum 9. November vergangenen Jahres zustande gekommen ist. Leider scheint es für die demokratischen Fraktionen im Bundestag unglaublich schwierig zu sein, sich auf einen gemeinsamen Text zu einigen. Was mich aber entsetzt, ist der Inhalt des Resolutions-Entwurfs, den ich vor einigen Wochen zur Kenntnis nehmen musste.
Im Kern der Kritik steht das im Entwurf enthaltene Ansinnen, Anträge auf staatliche Förderung künftig auf Unterstützung oder Reproduktion antisemitischer Narrative zu überprüfen. Steckt hinter einer solchen Forderung nicht ein ehrenhaftes Anliegen?
Dieser Passus sorgt mich zutiefst. Zugleich lässt der Text völlig im Dunkeln, wer und aufgrund welcher Kriterien eine solche Überprüfung durchführen sollte. Die Hochschullandschaft in Deutschland ist in einem sehr hohen Maße staatlich subventioniert, anders als etwa in den Vereinigten Staaten. Praktisch jede wissenschaftliche Aktivität hat einen Bezug zu einer staatlichen Förderung. Eine solche Masse an Projekten, Themen und Personen kann keine für die Auszahlung von Geldern zuständige öffentliche Instanz in angemessener Weise auf antisemitische Narrative hin überprüfen, das geht weder personell noch von der Fachexpertise her. Meine Bestürzung wird noch größer, wenn die CDU-Justizsenatorin von Berlin vorschlägt, derartige Untersuchungen könnten vom Geheimdienst übernommen werden. Und wenn parallel eine Bundesministerin für Bildung und Forschung sich mit Vorwürfen konfrontiert sieht, ihr Haus habe die Streichung von Fördergeldern für kritische Wissenschaftler erwogen.
"Die Umsetzung einer Antisemtismus-Klausel
würde nur gelingen, wenn wir eine Zensurbehörde installieren, wie es sie in der McCarthy-Ära in den USA gegen antiamerikanische Umtriebe gegeben hat."
Gäbe es überhaupt eine sinnvolle Möglichkeit, eine solche Antisemitismus-Klausel umzusetzen?
Nur, wenn wir eine Zensurbehörde installieren würden, wie es sie etwa in der McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten gegen antiamerikanische Umtriebe gegeben hat. Was das für die Grundrechte und unsere freiheitliche Gesellschaft bedeuten würde, mag ich mir gar nicht ausmalen. Deshalb bin ich absolut dagegen, dem Staat die Erlaubnis zu geben, über Menschen und Inhalte und die Vergabe von Haushaltsmitteln im Wissenschafts-, Kultur- und Kunstbereich auf missliebige Meinungen hin zu überprüfen.
Der Resolutionsentwurf will zur Feststellung antisemitischer Inhalte und Positionen die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) einsetzen. Auch davor warnen Sie. Warum?
Die IHRA-Definition wurde ausschließlich zur eigenen internen Verwendung bei Schulungen über den Massenmord der Shoa entwickelt. Heute wird sie in vielen weiteren Zusammenhängen angewandt, aber sie ist, anders als der Entwurf der Resolution impliziert, nicht allgemein in der Wissenschaft anerkannt, in Teilen sogar stark umstritten. Mal ehrlich: Eigentlich ist die Frage des Antisemitismus im Kern recht einfach. Antisemitismus ist Hass und Feindschaft gegen Juden, weil sie Juden sind. Punkt. Dazu braucht man keine langen Ausführungen, dazu braucht man keine riesigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Es gibt allerdings einen großen Graubereich, in dem die Frage, ob etwas antisemitisch ist oder nicht, stark umstritten ist. Die Wissenschaft beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit diesem Graubereich, und bislang ist es ihr nicht gelungen, eine allgemeingültige und allumfassende Definition von Antisemitismus zu entwickeln. Meine These lautet, dass dies der Wissenschaft auch künftig nicht gelingen wird. Entsprechend gibt es ernstzunehmende Alternativen zur IHRA-Definition, deshalb hielte ich eine staatliche Festlegung auf eine Definition eo ipso für falsch. Wenn schon, dann sollte der Der Staat sollte zur Erfassung des Antisemitismus auf die Vielfalt der Debatten und Definitionsversuche zurückgreifen und nicht eine einzige noch dazu verwaschene absolut setzen.
"Antisemitismus", lautet der Kernsatz der IHRA-Definition, "ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Demnach wären Boykotte gegen israelische Institutionen, wie sie die BDS-Kampagne befürwortet, antisemitisch. Zu Recht?
Ich halte von einem Boykott jüdischer Künstler, jüdischer Wissenschaftler oder jüdischer Universitäten überhaupt nichts. Ich halte schon solche Forderungen für einen großen Fehler und für eine Verarmung des internationalen Diskurses. Aber welche Aktionen antisemitisch sind oder nicht, muss für jeden Einzelfall entschieden werden. Grundsätzlich sind Boykottmaßnahmen völkerrechtlich legitime Verfahren, die es in der Geschichte häufiger gegeben hat. Ich verweise auf den Boykott Südafrikas wegen seiner Apartheidspolitik. Deswegen kann man auch nicht sagen, dass Boykottaufrufe im Zusammenhang mit dem Palästina-Israel-Konflikt eo ipso antisemitisch sind.
Wie sieht es aus, wenn jemand die gegenwärtige israelische Regierung als "rechtsradikal" oder "kriegstreiberisch" kritisiert?
Es ist offensichtlich und liegt auf der Hand, dass eine Kritik an der heutigen israelischen Regierung und der momentanen israelischen Kriegsführung nicht antisemitisch ist – selbst wenn sie im Einzelfall von Antisemiten vorgetragen wird. Mit dem Vorwurf des Antisemitismus wird in einem unglaublichen Maße Schindluder getrieben. Nachdem die Staatsanwälte des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Ministerpräsident Netanjahu, gegen den israelischen Verteidigungsminister und gegen drei hohe Funktionäre der Hamas Anträge auf Haftbefehl eingereicht hatten, wurden sie von israelischer Seite als Antisemiten beschimpft. Und als der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen neulich feststellte, dass die jahrzehntelange Besatzung der Westbank durch Israel völkerrechtswidrig sei, tönte es von Seiten der israelischen Regierung, der Internationale Gerichtshof sei antisemitisch. Tatsache ist, dass sich in der heutigen israelischen Regierung Faschisten, Rassisten und verurteilte Verbrecher befinden. Fakt ist, dass Minister der heutigen israelischen Regierung die massenhafte Vertreibung aller Palästinenser aus den besetzten Gebieten befürworten. Fakt ist, dass diese Minister den Grundsatz "From the River to the Sea" für jüdisch-israelische Zwecke missbrauchen und von einem Großisrael träumen, in dem es für Palästinenser und Palästina keinen Platz mehr geben wird. All das scharf und klar zu kritisieren, hat mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun.
"Diese Parteien sind bereit, aus politischen
Gründen Abstriche an diesen Grundrechten zum Zwecke vermeintlicher Antisemitismusbekämpfung hinzunehmen."
Wie konnte es überhaupt passieren, dass demokratische Fraktionen ernsthaft über einen Resolutionsentwurf verhandeln, der Einschränkungen der Wissenschafts- und Kunstfreiheit so leichtfertig in den Raum stellt? Was ist die Dynamik dahinter?
Die Dynamik hängt davon ab, welchen Werten wir in unserer Gesellschaft den Vorrang einräumen. Ich habe das Gefühl, dass insbesondere auf Seiten der CDU, CSU und auch der FDP der Kunst-, Kultur-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit nicht der Wert zugesprochen wird, der ihnen zukommt. Diese Parteien sind bereit, aus politischen Gründen Abstriche an diesen Grundrechten zum Zwecke vermeintlicher Antisemitismusbekämpfung hinzunehmen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir damit uns selbst, unseren Grundwerten, aber auch den Jüdinnen und Juden deutscher Staatsangehörigkeit, die bei uns leben und zu uns gehören, einen Bärendienst erweisen.
Auch die Grünen verhandeln mit über diese Resolution.
Meine Hoffnung ist, dass sie darauf hinwirken, dass die Fehlstellen des Resolutionsentwurfs bereinigt und verbessert werden. Jedenfalls wünsche ich mir das. Genau aus diesem Grund habe ich an die Fraktionsführung geschrieben, um vor den drohenden großen Verlusten an Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsschutz und den Einbußen an der offenen demokratischen Gesellschaft zu warnen.
Wie könnte denn eine Resolution aussehen, die mehr Nutzen als Schaden bringt?
Wenn sich die Fraktionen aber wirklich den Titel ihrer Resolution zu Herzen nehmen, die Förderung. Bewahrung und Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, dann sollten sie genau das in den Mittelpunkt stellen. Denn dieses jüdische Leben ist unglaublich vielfältig, von Theater, Kunst und Kultur über den Sport und die Jugendarbeit bis hin zu Wissenschaft, Altenpflege und Sozialeinrichtungen, es gäbe so vieles zu bewahren, zu schützen und vor allem zu fördern. Was gedenkt der Deutsche Bundestag in der Hinsicht zu tun? Darüber lese ich in dem mir vorliegenden Resolutionsentwurf kein Wort, dafür umso mehr über Repressionen. Wenn hier die inhaltlichen Gewichte verschoben würden, könnte eine solche Resolution doch noch gelingen. Und eine solche Resolution des Deutschen Bundestages kann und sollte zuallererst eine Verurteilung des Terrorangriffs der Hamas auf israelische Zivilisten und des Massenmordes von 1200 jüdischen Personen enthalten. Sie sollte das Recht Israels, in gesicherten Grenzen zu existieren, feststellen. Aber auch die Verpflichtung, das internationale Völkerrecht zu achten und keine Kriegsverbrechen zu begehen.
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