Zu wenig aussagekräftig und vergleichbar, geprägt von starren Prüfungsformaten, veralteten Stoffvorgaben und Fächergrenzen: Das Abitur braucht ein großes Update, damit es eine Zukunft hat, sagen der Gymnasialleiter Jörg Droste und die frühere Vorsitzende des KMK-Schulausschusses, Cornelia von Ilsemann. Und sie haben Vorschläge.
Jörg Droste (links) ist Schulleiter des Einstein-Gymnasiums Rheda. Cornelia von Ilsemann (rechts) ist Reformpädagogin und war Senatsdirektorin in der Bremer Bildungsbehörde sowie Vorsitzende des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz. Beide engagieren sich im "Bündnis für ein zukunftsfähiges Abitur". Fotos: privat.
Herr Droste, das "Bündnis für ein zukunftsfähiges Abitur", zu dem Sie gehören, hat zu einem "Innovationskongress Oberstufe" eingeladen. Sie sind selbst Leiter eines Gymnasiums. Wollen Sie sagen, dass das Abitur, das Sie im Augenblick verleihen, nicht "zukunftsfähig" ist?
Jörg Droste: So pauschal kann man das nicht sagen. Es gibt Bestandteile, die weiter Relevanz haben. Andere haben sich überlebt, insgesamt gilt das Abiturzeugnis heute als weniger aussagekräftig als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das stellen wir in Gesprächen mit Hochschulen oder Firmen bei uns vor Ort fest, das empfinde ich als Schulleiter aber auch selbst so. Im Mai habe ich wieder auf der Bühne in der Aula gestanden, Zeugnisse verteilt an unsere Abiturientinnen und Abiturienten und bei jedem Handschlag gedacht: Das, was diese Jugendlichen ausmacht, was sie wissen und was sie auszeichnet, kommunizieren wir durch die Noten, die sie erhalten, viel zu wenig. Weil viele der Kompetenzen und Fähigkeiten, auf die es heute ankommt, in der Oberstufe und im Abitur keine Rolle spielen.
Ist das eine Frage der Lerninhalte oder der Lernkultur?
Droste: Viele der traditionellen Lerninhalte haben durchaus weiter ihre Berechtigung, ich glaube auch nicht, dass wir alle Grenzen zwischen den Fächern auflösen sollten. Und doch spielt sich inzwischen sehr viel genau in diesen Zwischenräumen ab, an den Übergängen von einer Disziplin zur anderen. Genau das bildet das Abitur mit seinen Prüfungsformaten nicht ab. Was wiederum Auswirkungen auf Lernkultur und Unterricht hat: Die Lehrkräfte und Schüler wissen, was später abgeprüft wird, entsprechend findet ein "Teaching to the Test" statt. Eine Klausur ist ein sehr normiertes Konstrukt, stark auf die Fachlichkeit ausgerichtet, ohne viel Berücksichtigung der Kompetenzen rechts und links davon. Und so bedingen sich Lerninhalte, Lernkultur und Prüfungsformate gegenseitig.
"Sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, ihrem
eigenen Lernprozess eine Struktur zu geben? Wir alle wünschen uns, dass die Schule das vermittelt. Doch das gestückelte Lernen in nach Fächern aufgeteilten Portionen von je einer
Dreiviertelstunde ist dazu nicht geeignet."
Frau von Ilsemann, Sie haben früher den Schulausschuss der Kultusministerkonferenz (KMK) geleitet, der auch für die Absprachen der Länder zum Abitur zuständig war. Wollen Sie jetzt über das Bündnis erreichen, was damals in der KMK nicht gelungen ist?
Cornelia von Ilsemann: Die Zeiten haben sich geändert. Die Schülerschaft ist deutlich heterogener. Die Arbeitsplätze der Zukunft erfordern erweiterte Kompetenzen, zum Beispiel im Umgang mit Digitalität. Die Bildungsforscherin Isabell von Ackeren von der Universität Duisburg-Essen hat vor zwei Jahren untersucht, woran Studierende in den ersten Semestern scheitern und warum darunter besonders viele Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten sind. Das Ergebnis: Es hängt von den Selbstlernkompetenzen ab. Sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, sich nach dem Übergang zur Universität selbst neue Inhalte zu erarbeiten, die richtigen Fragen zu stellen, sich Hilfe zu holen, ihrem eigenen Lernprozess eine Struktur zu geben? Wir alle wünschen uns, dass die Schule genau das vermittelt, auch um mehr Chancengerechtigkeit zu erzeugen. Doch das gestückelte Lernen in nach Fächern aufgeteilten Portionen von je einer Dreiviertelstunde, wie es zurzeit der Normalfall ist, ist dazu nicht geeignet. Für vertiefte Lernprozesse, in denen Schülerinnen und Schüler eigene Forschungsfragen erarbeiten, brauchen wir veränderte Zeitstrukturen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Von Ilsemann: Nehmen wir das antike Rom als Weltmacht. Wie ist es überhaupt so mächtig geworden? Welche ökonomischen, geostrategischen, politischen und kulturellen Faktoren haben eine Rolle gespielt? Gab es Warnsignale, als seine Vorherrschaft zu bröckeln begann? Alles Fragen, die man auf die Weltmächte von heute beziehen kann. Zeigen sie vergleichbare Warnsignale? Und was lässt sich daraus folgern? Zum Verständnis unserer globalen Welt ist ein fachübergreifendes, interdisziplinäres Lernen unabdingbar.
Und an vielen Stellen längst Realität.
Droste: Richtig ist: Schon jetzt hängt viel von den einzelnen Schulen ab, wie sie den vorhandenen rechtlichen Rahmen ausfüllen. In Nordrhein-Westfalen etwa haben wir zuletzt einige Freiheiten erhalten, etwa in Form eines fachübergreifenden Projektkurses, den wir anbieten könnten und der eine andere Art der Prüfung ermöglicht. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass sich viele Schulen nicht an einen solchen Kurs herantrauen, weil der mit viel zusätzlichem Aufwand verbunden ist und einige Kollegien die zeitlichen Ressourcen nicht haben. Andere Kollegien haben den Wert noch nicht erkannt, ihnen ist das Format suspekt. Auch dazu dient unser Innovationskongress: die Möglichkeiten aufzuzeigen, die es im bestehenden System bereits gibt – und dass es sich lohnt, sie zu nutzen.
Von Ilsemann: Wir wollen die Kollegien darin unterstützen, mutiger zu werden. Wenn sie genauer wissen, was alles geht, wie bereits heute anderswo fachübergreifende Teams von Lehrkräften gemeinsam an neuen Unterrichtsmodellen arbeiten und welche veränderten Prüfungsformate dort realisiert werden, wird das mehr Nachahmer finden.
"Die Klausur hat weiter ihre Berechtigung, aber
als einziges Prüfungsformat greift sie zu kurz. Was genau
wo sinnvoll ist, darüber sollten wir uns unterhalten."
Die Kritik am Bestehenden, garniert mit ein paar Fallbeispielen, ist vergleichsweise einfach. Können Sie als Bündnis auch ein in sich stimmiges Gesamtkonzept für eine alternative Oberstufe und ein grundsätzlich anderes Abitur anbieten – ein Gesamtkonzept, das Chancen auf eine Realisierung hätte?
Droste: Genau ein solches Konzept haben wir dem Schulausschuss der KMK vorgelegt und gezeigt, wie eine dazu passende Abiturprüfung aussehen kann.
Von Ilsemann: Die Gelegenheit für weitreichende Veränderungen ist günstig, denn alle Länder überarbeiten gerade ihre Abiturregelungen, und das Erfreuliche ist: Man hört uns zu.
Droste: Dabei machen wir immer wieder klar, dass nicht alles weg muss, was seit Jahren vernünftig funktioniert und aus unserer Sicht die sehr notwendige bundesweite Vergleichbarkeit des Abiturs erhöht. Beispiel Klausur: Sie hat weiter ihre Berechtigung, aber als einziges Prüfungsformat greift sie zu kurz. Genau wie die Handschrift eine Bedeutung behält, aber das Digitale daneben tritt und weitere Prüfungsformate ermöglicht. Was genau wo sinnvoll ist, darüber sollten wir uns unterhalten. Und dann den Mut haben, auf die Curricula zu schauen und zu prüfen, welche Inhalte gegebenenfalls gestrichen werden könnten, um mehr Vertiefung zu ermöglichen. Wir sollten uns gemeinsam nochmal neu und ernsthaft die Frage stellen, was heute Allgemeinbildung bedeutet und woran wir das Erreichen der allgemeinen Hochschulreife messen. All das geht nicht, ohne dass die Politik den Schulen etwas mehr Vertrauen schenkt.
Geht das konkreter?
Droste: Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel. Warum müssen alle Schülerinnen und Schüler das Abitur in derselben Geschwindigkeit ablegen? Wenn ich einen Schüler habe, der seit der Grundschule in Mathematik immer ein Jahr weiter war als alle anderen, für den ergibt es keinen Sinn, das letzte Jahr vor dem Mittleren Schulabschluss oder vor dem Abitur nur noch zu warten, bis die anderen auch soweit sind. Warum soll der das Mathe-Abitur nicht ein Jahr vorher ablegen und beweisen, dass er in diesem Fach bereits studierfähig ist? Danach kann er sich stärker auf die anderen Fächer konzentrieren oder schon erste Kurse an der Universität belegen.
Was etwa in den USA für sehr gute Schüler von High-Schools seit langem möglich ist.
Von Ilsemann: Genau! Es kommt für ein bundesweit vergleichbares Abitur nicht darauf an, wann ein Schüler die verlangten Kompetenzen erreicht, sondern dass er es tut. Die Vergleichbarkeit entsteht nicht über das Lerntempo, sondern über die inhaltlichen Standards. Würde man die gesamte Oberstufe wie in Kanada modularisieren, könnte man in einem Fach schon das Abitur ablegen und in einem anderen Fach einen Kurs nachholen. Das wäre ein echtes "Abitur im eigenen Takt". In Ansätzen bietet das Oberstufenkolleg Bielefeld Ähnliches, wenn es Geflüchteten eine zweijährige Eingangsphase für die Oberstufe ermöglicht. Warum sollte das nicht genauso funktionieren, wenn zum Beispiel Kinder und Jugendliche wegen einer Erkrankung keinen vollen Stundenplan durchhalten, aber 20 Stunden in der Woche prima schaffen könnten? Warum dann nicht das Abitur auf vier Jahre strecken? Umgekehrt könnte es auch verkürzt werden. Hybride Lernformate ermöglichen die Teilnahme an interessanten Kursen auch international. Warum bringen wir das nicht in die Breite? Auf die Weise würden sich viele Diskussionen um G8 und G9 entspannen, die Oberstufe wäre flexibler – und die Kompetenzen und Standards wären gewahrt.
"14 Länder im Schulausschuss votierten für eine fächerübergreifende fünfte Abiturprüfung,
zwei dagegen. Hier zeigt sich, wie sehr das Einstimmigkeitsprinzip der KMK Innovationen hemmt."
Aber wie realistisch ist das alles? Die KMK ist mit ihrer letzten Reform des Abiturs längst fertig, und auch die kam, sagen ihre Kritiker, überhaupt nur zustande, weil das Bundesverfassungsgericht 2017 die mangelnde Vergleichbarkeit der bundesweiten Notendurchschnitte angemahnt hatte. Ihr Bündnis hatte 2023 vor den entsprechenden KMK-Beschlüssen auf Änderungen gepocht – größtenteils ohne Erfolg. Warum sollte es gerade jetzt besser klappen?
Droste: Das Spannende ist doch, wie die Länder den KMK-Beschluss jetzt für sich umsetzen. Immerhin ermöglicht er ein, zwei Freiheiten, und die wären nicht gekommen, hätten wir als Bündnis nicht Druck gemacht. Insofern sehe ich durchaus Erfolge.
Von Ilsemann: Wir hatten schon vor zwei Jahren ein sehr gutes Gespräch mit dem Leiter der Kommission Oberstufe innerhalb des KMK-Schulausschusses. Mein Eindruck war, dass wir auf offene Ohren stießen. Einer unserer zentralen Vorschläge lautete, dass es für alle Länder verbindlich eine fünfte Prüfung im Abitur geben sollte, die sich nicht auf ein einziges Fach bezieht, sondern fächerübergreifend ist und auch von einem Team bearbeitet werden kann. Und offenbar fehlte nicht viel, dass er beschlossen worden wäre: 14 Länder im Schulausschuss votierten dafür, zwei dagegen. Hier zeigt sich, wie sehr das Einstimmigkeitsprinzip der KMK Innovationen hemmt!
Droste: Die Länder sind unterschiedlich stark zu Veränderungen bereit, und wir bestärken die Veränderungswilligen aktuell in intensiven Gesprächen, den Spielraum des KMK-Abiturbeschlusses für neue Formate auszunutzen. Dabei ist es wichtig, immer wieder aufs Neue deutlich zu machen, dass mehr Freiheiten eben nicht eine Niveauabsenkung bedeuten oder die Vergleichbarkeit beim Abitur erschweren. Seien wir mal ehrlich: Die viel größeren Unterschiede kommen dadurch rein, dass es unterschiedliche Kulturen von Schule zu Schule und von Prüfungskommission zu Prüfungskommission gibt. Und zwar unabhängig davon, welche Standards Sie zentral setzen. Mehr Vergleichbarkeit erreichen Sie, wenn die Kollegien im Umgang mit dem Kompetenzbegriff und mit Standards geschult und gecoacht werden.
Von Ilsemann: Man stelle sich den Innovationsimpuls vor, den eine solche fünfte Abiturprüfung in den Schulen ausgelöst hätte. Viele Kollegien hätten gesagt: "Eine fachübergreifende Abiturprüfung, wie soll denn das gehen? Das haben wir noch nie gemacht!" Worauf Landesinstitute und Stiftungen ein hochwertiges Fortbildungsprogramm mit Schulnetzwerken hätten auflegen müssen, um Qualitätskriterien zu entwickeln und gute Beispiele anbieten zu können. Ja, das hätte etwas gekostet, aber wir wollen kein Billigmodell, sondern anregende und anspruchsvolle Aufgaben.
Wie könnte so ein Szenario für eine fünftes Abiturprüfung aussehen?
Von Ilsemann: Nehmen wir an, die Schüler sollen eine Expertengruppe bilden, die die Bundeskanzlerin in der Corona-Pandemie berät, ob die Schulen geschlossen werden oder nicht. Die einen sollen aus epidemiologischer Sicht argumentieren, die nächsten aus pädagogischer und wieder andere aus arbeitssoziologischer Sicht. Die Argumente werden gesammelt, bewertet und zu einem schriftlichen Gutachten zusammengefügt. Und dieses Gutachten ist die gemeinsam erbrachte Abiturleistung. Die Schüler stellen auf diese Weise unterschiedliche Kompetenzen unter Beweis: dass sie im Team arbeiten können. Und dass sie zu einem Perspektivwechsel zwischen den unterschiedlichen Fachrichtungen in der Lage sind – was besonders wichtig ist, wenn sich viele Lösungen für die heutigen Probleme nur gemeinsam zwischen Natur- und Geisteswissenschaften finden lassen. Die Schüler müssten Forschungsstand, Ethik und Politik zusammendenken. In einem abschließendem Kolloquium reflektieren sie zusätzlich ihren Arbeitsprozess. So sind sie gut vorbereitet für ein Studium oder eine anspruchsvolle Ausbildung.
"Wir wollen die Leute, die Lust auf Veränderungen haben, zusammenbringen, aus Schulen, Stiftungen und Bildungsverwaltung. Die Botschaft: Ihr seid nicht allein."
In zwei Wochen startet Ihr "Innovationskongress Oberstufe". Wer ist alles eingeladen?
Droste: Wir rechnen mit einer bunten Mischung. Die Idee des Kongresses ist, dass wir die Innovationen, die schon unterwegs sind, sichtbar machen und diskutieren wollen. Wir wollen die Leute, die Lust auf Veränderungen haben, zusammenbringen, aus Schulen, Stiftungen und Bildungsverwaltung. Die Botschaft lautet: Ihr seid nicht allein. Außerdem kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die uns Input geben, denn ohne den aktuellen Forschungsstand dilettieren wir als Schulpraktiker herum. Wir brauchen die Begleitung und Reflexion durch die Wissenschaft. Und zusammen mit der Politik wollen wir diskutieren, was rechtlich möglich ist, was Vergleichbarkeit und Chancengerechtigkeit tatsächlich erhöht. Ohne die Politik geht es nicht. Ohne die Schülerinnen und Schüler und deren Expertise aber auch nicht, und darum spielen sie mit ihrer Sicht ebenfalls eine wichtige Rolle auf dem Kongress.
Von Ilsemann: Die niedersächsische Kultusministerin Julia Hamburg ist per Video zugeschaltet und steht für eine Diskussion zur Verfügung, genauso der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Die gute Nachricht ist: Unsere Veranstaltung war blitzschnell ausgebucht. Die schlechte ist: Wir haben schon jetzt eine Warteliste mit 50 Leuten. Das zeigt, wie groß das Interesse an und die Lust auf Veränderung ist. Im Nachhinein werden wir möglichst viel von dem Kongress auf unserer Website dokumentieren, versprochen.
In eigener Sache: Weniger als 0,2 Prozent
Auf jeden 580. Blogbesuch kommt eine finanzielle Unterstützung. Das kann nicht gut gehen. Bitte helfen Sie mit!
Kommentar schreiben