Wenn sich die demokratischen Parteien nicht schleunigst von der gedanklichen Geiselnahme durch Extremisten und Populisten befreien, sind demokratische Kipppunkte nicht mehr fern. Schulen, Hochschulen und andere Institutionen müssen jetzt den Resilienztest bestehen.
Bild: Gerd Altmann / Pixabay.
DIE URLAUBSZEIT ENDETE mit dem Paukenschlag, den viele befürchtet hatten. Den Wahlerfolgen von AfD und BSW in Thüringen und Sachsen. Ergebnisse, die beide Länder vor drei Alternativen stellt: Unregierbarkeit und Neuwahlen, Regierungsbeteiligung der Rechtsextremen – oder bis vor kurzem undenkbare Koalitionskonstellationen, die das Krisengefühl der Wähler ebenfalls verstärken und die Unterstützung demokratischer Parteien weiter schwinden lassen könnten.
Ich kann bei all dem nicht von mir sagen, dass mich der vergangene Sonntag in Mark und Bein erschüttert hat. Das bin ich nämlich schon länger angesichts des zunächst schleichenden, dann immer schnelleren Einnistens Radikaler im politischen Mainstream, angefangen in ländlichen Regionen, doch längst angekommen in großen Städten vor allem Ostdeutschlands. Ein Einnisten, das fast alle Experten in dem Umfang vor wenigen Jahren für undenkbar gehalten haben und heute nur teilweise erklären können.
Mich erschüttert auch die Orientierungslosigkeit der demokratischen Parteien vor und nach dem Wahltag. Dieses Übernehmen rechter Narrative und Positionen bis weit in die SPD hinein ist nicht Ausdruck einer Wiederannährung an verloren gegangene Wählerschichten, es ist ein Spiel mit dem Feuer auf Kosten der Demokratie. Für manche mag es kurzfristige populistische Geländegewinne geben. Doch am Ende macht es das Original – die AfD – nur immer noch attraktiver als alle Nachmacher. Und die wirkliche Mehrheit in der bundesdeutschen Gesellschaft – die Mehrheit, die an Pluralität, unveräußerliche Menschenrechte und demokratische Prozesse glaubt – beginnt, sich ebenfalls zu entfremden von den Parteien, die sie über viele Jahrzehnte verkörpert haben.
Wenn sich die etablierten Parteien nicht schleunigst von der gedanklichen Geiselnahme durch Extremisten und Populisten befreien, sind demokratische Kipppunkte nicht mehr fern. Unsere Demokratie hängt jetzt an der Resilienz der gesellschaftlichen Institutionen. Was Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen in den nächsten Monaten und Jahren eine zentrale Rolle in der Verteidigung unserer gesellschaftlichen Zukunft zuweisen wird. Theoretisch ist uns das schon länger klar. Jetzt beginnt der Praxistest.
Dieser Kommentar erschien am Mittwoch zuerst in meinem kostenfreien Newsletter.
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Th. Klein (Freitag, 06 September 2024 09:01)
Ich habe gerade das Buch "Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich" von Michael Grüttner gelesen. Es hat mich aufgeschreckt, welche Mechanismen und Verhaltensweisen sich wiederholen könnten (weil es eben oft nicht um Ideologie ging und nur Überzeugungstäter waren).
hmm (Freitag, 06 September 2024 09:52)
schade, dass auf diesem blog soviel Politaktivismus betrieben wird. Das hilft der Demokratie gewiss nicht.
Wolfgang Kühnel (Samstag, 07 September 2024 22:38)
Was sollen denn Schulen und Hochschulen in den nächsten Monaten konkret machen, um "unsere gesellschaftliche Zukunft zu verteidigen" ?
Die Schulen sind extrem stark belastet mit diesem und jenem, sollen die Hochschulen ein allgemein-politisches Mandat wahrnehmen mit Beschlüssen zu Wahlen oder Grundsatzfragen? Sollen die Hochschulen auf die "Orientierungslosigkeit" der politischen Parteien einwirken? Wie geht das?