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Demokraten mit Heimweh

Indem Union, SPD und FDP weiter nach rechts steuern, setzen sie europäische Ideale aufs Spiel und riskieren sie ihre gemäßigte Stammwählerschaft. So schaden sie sich selbst und der Demokratie. Ein Essay im Wiarda-Blog, der wenig mit Bildung und nichts mit Forschungspolitik zu tun hat? Ja. Weil er genau jetzt sein muss.

Foto: Dušan Cvetanović / pixabay.

VERGANGENE WOCHE schrieb ich: Das Übernehmen rechter Narrative bis weit in die SPD hinein ist nicht Ausdruck einer Wiederannährung an verloren gegangene Wählerschichten, sondern ein Spiel mit der Demokratie. Am Ende macht es das Original – die AfD – nur noch attraktiver als alle Nachmacher. Während die wirkliche gesellschaftliche Mehrheit – die Mehrheit, die an Pluralität, unveräußerliche Menschenrechte und demokratische Prozesse glaubt – beginnt, sich ihrerseits zu entfremden von den Parteien, die diese Werte über viele Jahrzehnte verkörpert haben. 

 

Sieben Tage später kann ich nur kopfschüttelnd das Tempo konstatieren, mit dem die traditionellen Parteien die Entfremdung von ihren traditionellen Unterstützern vorantreiben. SPD-Innenministerin Nancy Faeser kündigte Kontrollen an allen deutschen Außengrenzen an – was faktisch ein großartiges europäisches Ideal beerdigen würde: die ungehinderte Freizügigkeit, die mehr war als das Abbauen von Grenzposten. Das Gefühl nämlich, als europäische Bürger in einem vereinten Europa zu leben. Nur vorläufig, erstmal für sechs Monate, heißt es zu der Maßnahme. Wer aber glaubt, dass eine Bundesregierung, die heute aus Angst vor dem Rechtsruck flächendeckend Grenzkontrollen einführt, sie morgen wieder abschafft? 

 

"Für solche Politik mache ich nächstes Jahr sicher keinen Wahlkampf", kommentierte die als SPD-Influencerin bekannt gewordenene Lilly Blaudszun auf "X".

 

Die Zurückweisungen von Asylbewerbern an den Grenzen wiederum, auf die vor allem die Union pochte, sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig, da nicht konform mit dem Vorrang von EU-Recht. Was immerhin auch in der Ampel Bedenken auslöste. Die Beschädigung des Rechtsstaats wäre dramatisch, der außenpolitische Scherbenhaufen groß, die europäische Idee nähme noch mehr Schaden. Aber ist die Maßnahme wirklich schon vom Tisch? Laut einem Zitat von FDP-Chef Christian Lindner bei Table.Briefings möglicherweise noch nicht.

 

Die Union allerdings erklärte am Dienstag den Migrations-Gipfel für gescheitert, es ging ihr alles nicht weit genug, nicht einmal die von der Ampel angebotenen "grenznahen Zentren für beschleunigte Asylverfahren". Die Bundesregierung sei "intern offensichtlich heillos zerstritten und kann sich nicht auf wirksame Maßnahmen einigen", sagte CDU-Chef Friedrich Merz der Bild. "Die Ampel kapituliert vor der Herausforderung der irregulären Migration." 

 

Bereits vor dem Wochenende schrieb dagegen der CDU-Bürgermeister von Eltville, Patrick Kunkel, ebenfalls auf "X": "Eine starke Bundeskanzlerin #Merkel fehlt mehr denn je. Klarheit, Prinzipien und Rückhalt in bewegten Zeiten. Dazu dann Handeln mit Respekt vor unserem Land und Europa."

 

Eine Abwendung von Wählern und Mitgliedern,
die die Parteien erst stark gemacht haben

 

Blaudszun und Kunkel, zwei Stimmen von vielen, die verdeutlichen: Jede Zuwendung von Union, SPD & Co nach rechtsaußen ist eine Abwendung von Wählern, Unterstützern und Mitgliedern, die diese Parteien erst stark gemacht haben. 

 

Selbst die Grünen wackeln: Während Partei-Kochefin Ricarda Lang am Dienstag wiederholte, "ein geeintes Europa ohne Grenzzäune und Mauern ist ein großes Geschenk" und es sei "besorgniserregend", wie viele bereit seien, diese Freiheit leichtfertig aufzugeben, forderte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann laut SWR die Grünen auf Bundesebene dazu auf, sich offen für die Eindämmung der irregulären Migration einzusetzen. Er könne denen, die sich hier schwertäten, nur raten, das zu überdenken, sagte Kretschmann. "Dem Druck von anderen immer nur stückchenweise nachzugeben, ist kein Erfolgsrezept."

 

Schaut man sich das Abschneiden der Grünen bei Umfragen und Wahlen in den vergangenen Monaten und Jahren an, scheint Kretschmann zunächst Recht zu haben. Beispiel Sonntagsfrage beim ZDF-Politbarometer: Da lagen die Grünen noch im September 2022 bundesweit bei satten 23 Prozent. Mehr als doppelt so viel wie die zuletzt elf Prozent.

 

Die Strafe für ein Verpassen des Zeitgeistes? Die Quittung für die programmatische Ignoranz eines nach rechts abgedrifteten Wählerwillens?

 

Ja und nein. Ja: Vor zwei Jahren erreichte die Klimadebatte und -angst in der Öffentlichkeit den Höhepunkt. Nein: Mit den aktuell elf Prozent kehren die Grünen auf einen Level zurück, den sie bis zu ihrem Ende der Zehnerjahre beginnenden Höhenflug hatten. Zum Beispiel bei der Bundestagswahl 2017: acht Prozent.

 

Wegen vier Prozentpunkten mehr
der AfD nach dem Mund reden?

 

Auch sonst stellt sich die Frage: Hat sich bundesweit der Wählerwille überhaupt so dramatisch verändert, wie offenbar viele demokratische Parteistrategen es erschrocken zu beobachten glauben? 

 

Erneut hilft der langfristige Vergleich. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die AfD 12,6 Prozent. Vier Prozent weniger als aktuell. Während die Linke damals 9,2 Prozent schaffte. Im Moment kommen Linke und BSW im Politbarometer zusammen auf elf Prozent. 

 

Im Osten mögen die Verschiebungen gewaltiger aussehen, aber wäre es nicht wichtig, die bundesweiten Realitäten im Blick zu behalten, bevor man einer  innerhalb von sieben Jahren um lediglich vier Prozentpunkte gestärkten AfD und einer auf Kosten vor allem der Linken entstandenen BSW innen- und außenpolitisch nach dem Mund redet?

 

Andere Zahlen sind da deutlich dramatischer, werden aber von den demokratischen Parteien gerade ausgeblendet. Tatsächlich beginnen nämlich mehr und mehr Menschen, angesichts des AfD-Erfolgs über einen Abschied von Deutschland nachzudenken. Eine deutschlandweite Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) ergab im März, dass fast jede vierte befragte Person mit Migrationshintergrund zumindest hypothetisch erwog, Deutschland wegen des Rechtsrucks zu verlassen, konkrete Pläne hatten 9,3 Prozent. Bei den Befragten ohne Migrationshintergrund waren es bei den hypothischen Erwägungen immerhin noch fast 11,7 Prozent – zwei Drittel des aktuellen AfD-Umfrageergebnisses. Konkrete Pläne verfolgten nur 1,9 Prozent.

 

Das allerdings könnte sich schnell ändern, wenn eine AfD-Regierungsbeteiligung in einem Bundesland Realität werden sollte. Eine gewaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Verarmung drohte. Übrigens sagten satte 84,9 Prozent der Befragten, sie lehnten Pläne zur "Remigration" ab, das galt sogar für drei von zehn AfD-Anhängern.

 

Zurück zu den Popularitätswerten der Parteien. Trotz aller Lautsprecherei und Wokeness-Gerede kommt die von Friedrich Merz und Markus Söder geführte Union aktuell bundesweit nur auf 33 Prozent. Genau wie bei der Bundestagswahl 2017. Die übrigens zwei Jahre NACH Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise stattfand. Währenddessen müssen SPD und FDP sich eingestehen: Ihre Tiefstände von 15 bzw. vier Prozent im letzten bundesweiten Politbarometer (2017 standen sie bei 20,5 bzw. 10,7 Prozent) haben viel mit Personen und deren wahrgenommener Entscheidungsstärke zu tun – und wenig mit ihrer politischen Ausrichtung. Ein Stückweit allerdings schon: Es ist wie oben geschildert. Ihre traditionellen Unterstützer wenden sich ab – aber größtenteils nicht den radikalen Parteien zu. Deren Zulauf ist deutlich schwächer als der Verlust von SPD, FDP und Grünen.

 

Eine Migrationskrise, die die
Statistiken gar nicht hergeben

 

Hält man sich das vor Augen, könnte das gegenwärtige Mäandern nach rechts eher noch stärker auf ihre bereits historisch niedrige Popularität gehen: bei der verstimmten Stammwählerschaft ohnehin, aber auch bei denen, die mit rechtem Gedankengut sympathisieren, aber FDP und SPD den Umschwung nicht abnehmen.

 

Das Gefährliche ist also: Während das tatsächliche Wählerpotenzial für extreme und populistische Parteien bislang, siehe oben, kaum gewachsen ist, drohen die demokratischen Parteien genau dies jetzt zu befördern. Vor allem indem sie die von Rechten proklamierte Krise "irregulärer Migration" einräumen, obwohl die Statistiken das gar nicht hergeben. Im Schnitt gab es zwischen 2017 und 2022 unter 200.000 Asylanträge pro Jahr in Deutschland, wie viele davon kann man überhaupt "irregulär" nennen? Und während über Grenzkontrollen und Zurückweisungen diskutiert wird und Maßnahmenpakete möglichst im Eilverfahren durchs Parlament gedrückt werden sollen, gehen die Asyl-Zahlen nach einem Peak 2023 (329.100) längst wieder drastisch runter: auf noch 114.000 im ersten Halbjahr 2024. 

 

Ja, es gibt eine Bildungskrise in Deutschland, es gibt Wohnungsknappheit, lange Wartezeiten für Termine bei bestimmten Fachärzten und jede Menge weitere vor allem durch wenig vorausschauende Politik verursachte Engpässe. Dafür die "irreguläre Migration" verantwortlich zu machen, ist ähnlich seriös, wie angesichts der Gewaltakte in Mannheim, Solingen oder anderswo so zu tun, als hätten wir es mit einer bundesweiten Inflation von Messerangriffen zu tun (tatsächlich gab es laut Mediendienst Integration 2023 knapp zehn Prozent mehr als 2022, aber die Gewalttaten stiegen insgesamt fast ebenso stark).

 

Doch legitimieren demokratische Politiker durch ihr Reden und Handeln Positionen im politischen Diskurs als gerechtfertigt, die sie vor wenigen Jahren noch mit Empörung zurückgewiesen hätten. Was wiederum zu einer weiteren Enthemmung der öffentlichen Debatte führt, wie sich so anschaulich wie traurig gerade in den sozialen Medien beobachten lässt.

 

Die neue Selbstverständlichkeit
des Hasses

 

"Mehrere Medien erklären, man solle Björn Höcke regieren lassen", schrieb der Theologe, Publizist und Demokratie-Vorkämpfer Stephan Anpalagan auf "X". "Luke Mockridge macht sich über Sportler mit Behinderung lustig. Zahlreiche Spitzenpolitiker fordern Grundgesetzänderungen, um Menschenrechte auszuhebeln. Aber ja, 'der Meinungskorridor hat sich verengt'. Natürlich."

 

Woraufhin eine Kommentatorin mit Klarnamen schrieb: "Darf ich fragen, was Sie nach Deutschland zog bzw. hier hält, wenn wir alle so dermaßen widerwärtig sind?" Und eine zweite ergänzte: "Seine Eltern und er haben als Tamilen in Sri Lanka hier Schutz bekommen und ich lese nur, dass Deutschland all den Vorstellungen von Herrn Anpalagan nicht gefallen."

 

"Ich bin deutscher Staatsbürger. Deutschland ist meine Heimat", reagierte Anpalagan, unter anderem habe er ein Buch über Heimatliebe geschrieben, für deutsche Unternehmen gearbeitet und ein Unternehmen gegründet, er schreibe für deutsche Zeitungen und bilde deutsche Polizisten aus. "Sobald ich aber die politischen Verhältnisse kritisiere, fordern mich Menschen regelmäßig auf, mein Land zu verlassen." Ihn berühre das nicht. "Es zeigt mir aber, wie egal es ist, ob man sich hier 'integriert' oder 'anpasst'." Wie sich arabischstämmige Menschen oder Muslime fühlen müssten, könne er sich als Christ mit asiatischen Wurzeln "nicht einmal im Ansatz vorstellen".

 

Unvorstellbar war bis vor kurzem auch die nonchalante Selbstverständlichkeit, mit der Rassismus, Hass und antidemokratische Einstellungen heute geäußert werden. Sie zu bekämpfen, wäre jetzt vorrangige Aufgabe der demokratischen Parteien. Womöglich denken sie, genau dies durch ihren Rechtsruck zu tun. Tatsächlich aber erreichen sie das Gegenteil.

 

Was wäre denn stattdessen eine Erfolg versprechendere Strategie? Die Antwort könnte erstaunlich einfach sein: Deutschland braucht für seine Zukunft keine Debatte über Migration, sondern mutige Ideen für Wirtschaftswachstum, Industrietransformation und neues Unternehmertum. Das Modell Bundesrepublik befindet sich in einer Innovationskrise, die sich vor Jahren angekündigt hatte. Hier und nur hier herrscht die wirkliche Gefahr für den gesellschaftlichen Wohlstand. Hier müsste reformiert und geklotzt werden, zugunsten neuer Wirtschaftszweige, nicht zur Verteidigung der alten, und genau hier versagt die Ampel fast durch die Bank kläglich, und die Alternativangebote der Union erschöpfen sich in Schlagworten von "Technologieoffenheit".

 

Eine beherzte wirtschaftspolitische Reformagenda verbunden mit dem Narrativ des – bei allen unvermeidbaren Härten – eingeleiteten wirtschaftlichen Wiederaufstiegs der Bundesrepublik könnte das dringend erforderliche Gegenstück zur AfD-Verlierererzählung bieten, von der sich die übrigen Parteien haben einfangen lassen. Aber man müsste sie halt konsequent und zugleich unideologisch erzählen und auch beim ersten Gegenwind durchhalten. Undenkbar? Hoffentlich nicht. Nur nebenbei gesagt: Eine Bundesrepublik, die sich auf ihre wirtschaftliche Stärke besinnt, wird auch Migration vor allem als Chance begreifen. Und nicht als Bedrohung.



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Kommentare: 10
  • #1

    Sara Binay (Mittwoch, 11 September 2024 11:12)

    Danke!

  • #2

    Josef König (Mittwoch, 11 September 2024 11:42)

    DANKE, Jan-Martin, das musste endlich so gesagt werden, und ich wünsche dir und diesem Text sehr viele Leser und Leserinnen. Ich finde es sehr schlimm, dass nach einer absehbar verlorenen Wahl in Thüringen und Sachsen bisher „wählbare“ demokratische Parteien mit Panik reagieren und die Rechten rechts und die Linken (?) links überholen wollen. Sie offenbaren einen vollkommenen Mangel an Haltung und Charakter.

  • #3

    Steffen Prowe (Mittwoch, 11 September 2024 15:06)

    Herzlichen Dank!!
    Der Text zeigt, dass der Bildungs- und Wissenschaftsblog hier Not tut gelesen zu werden. Denn ohne "Bildung = Reflexion --> sinnvolle Maßnahmen erklärt" agiert bald nur noch "Verblödung = aggressive Reaktion --> Destruktion". Ich teile die Analyse zu fast 100%, würde der Ampel aber zugute halten, dass die Energiekrise und die Folgen des Angriffs Putins auf die Ukraine durch v.a. Habeck gut bewältigt wurden. Vor allem in der guten Kommunikation positiver Nachrichten fehlt es der Ampel und der Kanzler selbst gibt kein aktives Bild ab.

  • #4

    Anneliese Niehoff (Mittwoch, 11 September 2024 16:23)

    Danke für diesen notwendigen klaren und haltungsstarken Text.
    Ja und gar nicht soooo mittelbar hängen die hier von Jan Martin Wiarda gefährlichen Rechts-Verschiebungen mit der Wissenschaftspolitik zusammen, wie an der Wissenschaftsfeindlichkeit und Fake-Begeisterung der AFD abzulesen ist.

  • #5

    Dominique Bediako (Mittwoch, 11 September 2024 18:38)

    Vielen Dank für diesen klaren und bitter notwendigen Text! Ich hoffe, er wird weit verbreitet, und werde meinen kleinen Beitrag dazu leisten.

  • #6

    Mascha Hansen (Mittwoch, 11 September 2024 19:25)

    Auch von mir danke für diesen Essay!

  • #7

    Sigmar Bertz (Donnerstag, 12 September 2024 07:06)

    Ein Text für die Blase, in der alles "Rechte" gleich böse ist.

  • #8

    David Bosold (Donnerstag, 12 September 2024 10:07)

    Einige Anmerkungen zu Ihrem Text:

    - ich halte X bzw. Twitter nicht für ein Medium, das die Debattenkultur in Deutschland bzw. gesellschaftliche Realität widerspiegelt.

    - Sie schreiben, dass man "Migration vor allem als Chance begreifen" sollte. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wichtig ist dann aber auch festzuhalten, dass es "die Migration" nicht gibt, wenn es darum geht, diese politisch zu "bearbeiten".

    - Das "Gesamtpaket" Migration in Deutschland besteht (neben dem Familiennachzug und Ukraineflüchtlingen im Jahr 2022/23) primär aus:

    a) einem an Ländern wie Kanada orientierten, sehr klar auf nationale und wirtschaftliche Interesse ausgerichteten Zuzug von Fachkräften (Fachkräfteeinwanderungsgesetz 2024). Wie sich die Zahlen hier entwickeln, werden wir sehen.

    b) der für Migration nach Deutschland maßgeblichen EU-Binnenmigration im Rahmen der Freizügigkeit, v.a. aus Bulgarien, Polen und Rumänien (wie man dem Freizügigkeitsmonitoring des BAMF entnehmen kann)

    sowie dem

    c) von Ihnen adressierten Bereich Asyl und dessen Einbettung in den europäischen Rechtsrahmen. Zum Punkt Asyl sollten aber der Ehrlichkeit halber einige Fakten nicht unter den Tisch gekehrt werden (die medial und politisch sehr unterschiedlich bewertet werden):
    - der Fachkräfteanteil ist unter Asylbewerbern geringer (das sollte, weil es um humanitäre Gründe geht, eigentlich keine Rolle spielen, ist aber mittlerweile dennoch Teil der Debatte, wenn z.B. über Erwerbsquoten nach Staatsangehörigkeit gesprochen wird)
    - demographisch gesprochen sind Asylbewerber im Vergleich zu o.g. Gruppen jünger und eher männlich (das wird entweder positiv oder negativ interpretiert)
    - es gibt, wenn man sich die Ablehnungsquoten des BAMF für einige Länder ansieht, zumindest den naheliegenden Verdacht, dass Asylgründe vorgeschoben sind bzw. es sich um eine maßgeblich ökonomisch motivierte Zuwanderung handelt. Dies ist für die Gesamtasylzahlen (Asylgeschäftsstatistik 1-8/2024) nicht so bedeutsam (da hier u.a. Syrien, Afghanistan, Irak, Somalia einen großen Anteil ausmachen), aber wird m.E. in der Debatte bislang nicht klar benannt. Hierzu zählt v.a. der Westbalkan (für den daher im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes die Kontingente erhöht wurden), der Kaukasus und die Maghrebstaaten. Und seit zwei Jahren auch die Türkei. Hier liegen die Ablehnungsquoten bei deutlich über 50% und bis zu 90%. Die o.g. Asylgeschäftsstatistik 1-8/2024 weist z.B. bei den 27.398 Entscheidungen über Erstanträge aus der Türkei eine Ablehnungszahl von 17.511 und Rücknahmen des Asylgesuchs bzw. "formelle Verfahrenserledigungen" i.H.v. 7.240 aus. Die Anerkennungsquote liegt also bei ca. 9%. Das ist m.E. der Elefant im Raum, über den man ohne Schaum vor dem Mund in der politischen Debatte sprechen muss und sollte.

    Ich teile Ihre Einschätzung, Herr Wiarda, dass das Tempo, mit dem nun Gesetzesvorhaben durch den Bundestag gepeitscht werden, eine Panikreaktion ist und dass dabei z.B. die Auswirkungen auf die gesamte EU (Stichwort Dublin II/III) nicht hinreichend bedacht werden. Ich bin aber auch der Auffassung von Sigmar Bertz , dass das Label "rechts" in der Debatte zu schnell vergeben wird (und daher ziemlich sicher, dass mein Beitrag als "rechts" bzw. AfD-nah verstanden werden wird). Was wir benötigen ist eine Debatte, die der Komplexität von Migration gerecht wird. Und die haben wir immer noch nicht. Leider.

  • #9

    J. Klein (Freitag, 13 September 2024 14:44)

    Vielen Dank für den sehr wertvollen Beitrag!

  • #10

    Wolfgang Kühnel (Samstag, 14 September 2024 12:35)

    "Indem Union, SPD und FDP weiter nach rechts steuern, setzen sie europäische Ideale aufs Spiel ..."
    Dazu fällt mir nur ein:
    1. Realpolitik wird nicht mit Idealen gemacht, sondern mit Vernunft. Ideale sind was für Sonntagsreden. Mit Idealen kann man auch keine neuen Unterkünfte für Flüchtlinge herzaubern, die in der jetzigen Situation den Kommunen fehlen.
    2. Wenn es sowas wie "europäische Ideale" innerhalb der EU gibt, dann wurden die schon lange von anderen Staaten mit Füßen getreten, besonders von Ungarn. In Wahrheit wollen wohl alle nur Vorteile aus der EU ziehen, aber irgendwelche Nachteile werden dann in Richtung Deutschland geschoben. Es geht aber nicht an, dass in der EU manche Staaten für die Ideale zuständig sind und andere nicht. Das wäre dann eben das Ende dieser "europäischen Ideale".
    3. "Nach rechts oder links steuern" geht in einer Demokratie nur dann, wenn der Souverän (das Volk) das so haben will oder zumindest freiwillig mitmacht. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 GG). Ein Regieren gegen das Volk (egal ob rechts oder links) war nie erfolgreich. Das Volk in einem bestimmten Sinne zu "erziehen", das haben schon viele versucht, aber es scheint nur mit Gewalt und konsequenter Lügenpropaganda zu gehen (Beispiel: Nordkorea).
    4. Die Aufklärung ist die Basis für die Demokratie und die Menschenrechte, auch für die "europäischen Ideale". Diese Aufklärung hat in weiten Teilen der Welt nie stattgefunden, mittelalterliches Denken lebt weiter. Zuwanderer aus diesen Teilen können Gefahr für die Demokratie bringen (Beispiele: Hamas, IS, Graue Wölfe, Muslimbrüder) und eben auch aktiv diese europäischen Ideale unterminieren, durch Propaganda oder durch Anschläge. "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit", das gilt nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.