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Armutszeugnis "hitzefrei"

Schüler und Lehrer schwitzen, der Unterrichtsausfall wächst: Die Politik hat es versäumt, die Schulen für den Klimawandel fit zu machen.

ICH ERINNERE MICH gut an dieses Gefühl, als ich ein Kind war: "Hitzefrei!" Die große Freiheit nach der dritten Stunde. Damals scherte sich nicht wirklich jemand darum, wie die Eltern die plötzliche Frühbetreuung bewerkstelligten. Das immerhin ist heute anders. Meine beiden mittleren Jungs durften mit ein paar Klassenkameraden von 11.20 Uhr bis zum offiziellen Schulschluss in den heiß-stickigen Klassenräumen einer Brandenburger Grundschule ausharren – an ihrem Platz sitzend. Beaufsichtigt, aber ohne Unterricht. Es gibt noch einen weiteren Unterschied zu den 80er Jahren: Ich hatte drei, vier Tage im Jahr hitzefrei. Meine Kinder drei, vier Schulwochen hindurch.

 

Täuscht mich meine Erinnerung? Nicht wirklich. Der Deutsche Wetterdienst verzeichnete 1985 im Bundesschnitt 2,6 heiße Tage mit Höchsttemperaturen von mindestens 30 Grad. 2015: 17,6. 2020: 11,4. Ja, es gab zwischendurch auch mal Ausreißer nach unten wie 2021: 4,5. Aber 2022 und 2023 waren es dann schon wieder 17,3 und 11,5. Das Klima ändert sich fundamental, aber die Schulen nicht. 

 

Die Schulhöfe sind vielerorts versiegelt wie eh und je, die Fenster lassen sich oft weder richtig öffnen noch verschatten, auch die Dämmung der Außenwände ist ungenügend. Selbst in Gebäuden, die erst vor wenigen Jahren errichtet wurden, sind ein modernes Temperaturmanagement oder gar eine aktive Kühlung die Ausnahme. 

 

Das ist gesundheitspolitisch fragwürdig – und bildungspolitisch ebenso: Lange, bevor hitzefrei ausgerufen wird, kämpfen Kinder und Lehrkräfte mit unzumutbaren Bedingungen. Die Schüler der oberen Klassen, für die es kaum irgendwo hitzefrei gibt, umso mehr. Und wenn bei den Jüngeren dann an, sagen wir, 15 Schultagen je zwei Stunden ausfallen, entspricht das zusammengerechnet einer Woche Unterricht. Zusätzlich zu den Löchern im Stundenplan, die der Lehrermangel ohnehin reißt. "Hitzefrei klingt toll, funktioniert aber nicht mehr", sagte der baden-württembergische Grundschulrektor Oliver Hintzen im Spiegel.

 

Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, zeugen von Hilflosigkeit und klammen Kassen. Kommunalpolitiker wie der Dresdner Schulbürgermeister Jan Donhauser (CDU) fordern eine Verlängerung der Sommerferien um zwei Wochen, die grüne Landtagsopposition in Sachsen-Anhalt die bundesweite Verschiebung der Sommerferien nach hinten in den August und September. 

 

Abgesehen davon, dass solche Ideen im deutschen Bildungsföderalismus komplett unrealistisch sind, am Kernproblem würden sie rein gar nichts ändern. Am Ende fiele womöglich sogar noch mehr Unterricht aus. Nichts Anderes als hitzefrei bedeutet auch die oft in Berlin angewandte Regelung, keine kompletten Unterrichtsstunden ausfallen zu lassen, sondern alle verkürzt zu unterrichten (wo in Deutschland welche Regelung gilt, siehe zum Beispiel hier).

 

"Wir müssen dringend auch Schulen klimatisieren", forderte Grundschulrektor Hintzen, der zugleich stellvertretender Landesvorsitzender der Fachgewerkschaft VBE ist. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) starteten unterdessen eine gemeinsame Online-Initiative für naturnahe und klimafreundliche Schulhöfe.

 

Doch hat die vielerorts schreiende Ignoranz des Klimawandels durch Bildungspolitik und Kommunen denselben Grund, weshalb die meisten Altenheime nicht klimatisiert sind: Die Energiekosten wären gewaltig, auch ein beschleunigter klimaangepasster Umbau würde Abermilliarden verschlucken, die wir als Gesellschaft offenbar nicht zu investieren bereit sind. Die KfW Bankengruppe taxiert den Investitionstau im Schulbau ohnehin schon auf 47,4 Milliarden Euro. Da tun wir lieber weiter so, als hätte Hitze in unseren Breiten Seltenheitswert, dem man immer noch mit schulischen Rezepten vergangener Zeiten beikommen kann.

 

"Im Büro schwitzen wir doch auch", erscheint als Einwand ebenfalls wenig geeignet und schief: In immer mehr Büros werden Klimaanlagen installiert, anderswo geht man ins Homeoffice oder arbeitet an kühleren Tagen länger. Und: Wir reden von Kindern, nicht von Erwachsenen. 

 

Für dieses Jahr ist die Hitze vorbei. Hoffentlich. Doch die Bildungspolitik muss dringend Antworten finden auf das Thema Klimawandel. Viele Kommunen ändern inzwischen ihre Bauvorschriften für Schulen. Doch beim jetzigen Bau- und Sanierungstempo abzuwarten, bis alle Schulen in ein paar Jahrzehnten irgendwann mal dran waren, kann es jedenfalls nicht sein. Nicht alle Antworten, siehe die DUH/DKHW-Kampagne, müssen dabei unbezahlbar teuer sein. Doch am Ende wird es ohne Abbau des bundesweiten Sanierungsstaus nicht gehen. Unsere Kinder und ihre Bildung sollten es uns als Gesellschaft wert sein.

 

Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 7
  • #1

    Wolfgang Kühnel (Montag, 16 September 2024 13:13)

    Das ist ein wichtiger Kommentar zu einem wichtigen Thema. Man hat systematisch versäumt, wenigstens auf der Südseite neu gebauter Schulen für eine Begrünung zu sorgen, die im Sommer Schatten spenden könnte. Hinzu kommt die bürokratische Sturheit mit den geizig abgezählten Tagen der Sommerferien. In Italien gibt es Sommerferien von Mitte Juni bis Anfang September, in fast allen europäischen Ländern sind die Sommerferien länger als bei uns. Wenn wir längere Sommerferien hätten, dann könnte auch der Krampf mit den unterschiedlichen Terminen in den Bundesländern entfallen, denn die Leute würden ja nicht bundesweit alle gleichzeitig in den Urlaub aufbrechen und dann 8-10 Wochen später zurück-kommen, alles würde sich von selbst verteilen, die üblichen Staus wären entschärft. Aber da gibt es doch oberschlaue Bildungswissenschaftler, die einfach behaupten, lange Ferien seien schlecht für die Kinder. Diese Leute sollte man mal an heißen Tagen zwangsweise in nicht klimatisierte Schulen auf die Sonnenseite setzen, am besten im Südwesten des Landes.

  • #2

    Working Mum (Montag, 16 September 2024 14:00)

    Mit längeren Sommerferien würde - wieder einmal - ein strukturelles Problem (Klimawandel, Sanierungsstau bei den Bildungseinrichtungen) auf die individuelle Ebene verlagert, in diesem Fall auf die Eltern, die ein noch deutlich größeres Betreuungsproblem hätten als jetzt schon.

  • #3

    Wolfgang Kühnel (Montag, 16 September 2024 15:05)

    Zum Kommentar # 2: Eine Betreuung ließe sich ja in den leerstehenden Schulgebäuden (und dem Schulhof) durchaus organisieren, nach dem Vorbild der Ganztagsbetreuung in den Ganztagsschulen. Man könnte dabei aber die heiße Sonnenseite meiden, was man beim regulären Unterricht nicht kann, da muss jeder Raum genutzt werden. Wie wär's denn mal mit einer schattigen Wiese auf einem Teil des Schulhofs? Undenkbar?

  • #4

    Working Mum (Montag, 16 September 2024 15:34)

    Zum Kommentar #3: Möglich wäre das natürlich schon, allein mir fehlt der Glaube - und dem Staat das Personal. Schon jetzt wird auch bei Schulen, die eine Ferienbetreuung anbieten, in aller Regel nur ein Teil der Ferien (i.d.R. die Hälfte) davon erfasst. Zudem endet die Ferienbetreuung fast ausnahmslos mit dem Ende der Grundschule, obwohl natürlich auch 10jährige Fünftklässler*innen nicht den ganzen Tag allein zu Hause sitzen können.

  • #5

    Helge Peters (Dienstag, 17 September 2024 16:36)

    Entgangenes Lernen durch Hitzetage schreibt sich im späteren Leben als entgangenes Gehalt fort und sollte somit als Klimaschaden den Investitionskosten in klimatisierte Schulen gegenübergestellt werden.

    Diese Investition lohnt sich: "the extent to
    which school air conditioning would offset the earnings loss driven by the 5◦F increase predicted
    by climate change models is $1,060 per student, $26,500 per classroom, or just over $1 million
    per high school. (...) Although these are rough es-
    timates, benefit values of this order of magnitude imply that school infrastructure improvements
    may more than justify their costs. For example, in 2017, New York City public schools allocated
    $28 million to install air conditioning in 11,000 classrooms, which comes to approximately $2,500
    per classroom." (https://scholar.harvard.edu/files/joshuagoodman/files/w24639.pdf)

  • #6

    Karli Fornia (Dienstag, 17 September 2024 17:57)

    Ich bin in den USA in Kalifornien bei bis zu 40C zur Schule gegangen. Klimaanlagen gab es nur bedingt. Hitzefrei kannte man gar nicht. Ein typisch deutsches Privileg, worüber sich viele Länder wundern. Lehrer und Schüler in D haben dadurch neben den 77 freien Tagen noch mehr frei. Und jammern dann über die Arbeitsbelastung. Wir sind ein absolut privilegiertes verwöhntes Volk. Bloß nichts aushalten müssen. So kommt Deutschland nicht wieder in die Weltspitze zurück.

  • #7

    Wolfgang Kühnel (Mittwoch, 18 September 2024 22:10)

    Zum Beitrag #6: Ein bisschen rationaler könnte man das Problem schon angehen. Die Schulen in USA sind keineswegs Vorbild für den Rest der Welt. Gelobt sei, was hart macht? Mit gutem Grund gibt es Vorschriften über die Hitzebelastung von Leuten, die in geschlossenen Räumen arbeiten. Die Gesundheit sollte eigentlich vorgehen.

    Zum Beitrag #4: Wenn es insgesamt längere Ferien gäbe, dann könnte man natürlich Lehrer verpflichten, einen Teil davon in der Schule als Aufsicht zur Verfügung zu stehen, damit die Kids da keinen Blödsinn machen. Zudem scheinen die neuen Winterferien im Februar weniger für die Kinder da zu sein als vielmehr für die Ski-Touristik-Branche. Das wird uns hoffentlich niemand als Beitrag zur großen sozialen Gerechtigkeit verkaufen wollen. Die Unterwerfung der Schulferien unter ökonomische Argumente finde ich schändlich.