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Europas Wiederbelebung

Was Mario Draghis Plan für die Wissenschaft bedeutet. Ein Gastbeitrag von Jan Wöpking.

Mario Draghi bei der Übergabe seines Berichts an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. 
Foto: EU-Kommission.

I Die Diagnose


Wachstum – oder Siechtum? Das ist die Wahl, vor der Europa steht. Jedenfalls wenn man den schonungslosen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU liest, den der frühere EZB-Chef Mario Draghi im Auftrag von Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen verfasst hat. Nur wenn wir wachsen, werden wir bewahren können, was uns schützenswert ist: Klima, Sozialsysteme, Sicherheit, Demokratie, Souveränität. Doch Europa wächst schon länger nicht mehr richtig, wir fallen immer mehr hinter China und die USA zurück. Aus dieser selbstverschuldeten Stagnation will Draghi die EU herausführen. Sein Bericht ist das Drehbuch zu einer Gegenrevolution, verfasst mit technokratischer Präzision, das von Energiemärkten bis zur EU-Governance reicht. Und mitten drin: Ein wuchtiges Plädoyer für mehr und für andere Forschungsförderung in Europa – exzellenter, wirkungsvoller, schneller, mutiger. 

 

II Die Gegenmaßnahmen 


Europas Wachstumsschwäche, so Draghi, ist im Kern eine Innovationsschwäche. Lionel Barber, Ex-Herausgeber der Financial Times, fasst es so: "America innovates, China replicates, Europe regulates." Europa hänge insbesondere bei den Technologien der Zukunft hinterher. Um diesen Innovation Gap zu schließen, will Draghi Europa umbauen, whatever it takes. Dazu zählt neben vielem anderen auch die Brüsseler Forschungsförderung. Eine Auswahl vier besonders wichtiger Transformationspakete:

1. Budget verdoppeln: Draghi fordert, die Mittel für das nächste EU-Forschungsrahmenprogramm (FP 10), also der Nachfolge von Horizon Europe, zu verdoppeln: auf 200 Milliarden Euro. 

 

2. Absolute Weltspitze in der Forschung: Die europäische Innovationsschwäche resultiert für Draghi auch daraus, dass zu wenige Institutionen in der EU zur absoluten Weltspitze in der Wissenschaft gehören. Die globalen Toptalente entscheiden sich noch zu oft für andere Standorte. Dagegen setzt er auf einen dreifachen Exzellenz-Boost: (1) Das Budget für den Europäischen Forschungsrat (ERC), Europas Flaggschiff zur Förderung von Spitzenforschern, verdoppeln; (2) einen "ERC for institiutions" schaffen, also eine europäische Exzellenzinitiative auf Institutionenebene; (3) und über EU-Spitzenprofessuren ("EU Chairs") mit Top-Gehältern Top-Forscher gewinnen.

 

3. Fokussieren, verzahnen, entschlacken: Die EU-Forschungslandschaft ist zersplittert in ein Neben- und Durcheinander von lokaler, nationaler und europäischer Ebene. Dagegen setzt Draghi eine "Research and Innovation Union" mit abgestimmten Strategien der Mitgliedsstaaten, etwa bei Forschungsinfrastrukturen. FP 10 will er entschlacken: statt vieler kleinteiliger, verpuffender Maßnahmen lieber weniger – aber die dafür mit Durchschlagskraft. 

 

4. Europäische DARPA: Draghi will eine "ARPA-type agency" schaffen, nach dem Vorbild der legendären amerikanischen Innovationsagentur, die high-risk / high-reward Projekte fördert. Dabei soll es sich allerdings bewusst um keine neue, zusätzliche Institution handeln, sondern um eine Umwandlung des Europäischen Innovationsrats (EIC).

 

 

III Die Probleme 


Draghis Bericht wurde ein Weckruf genannt, eine große Chance, eine lohnende Lektüre – und er ist alles drei. Er steckt voller ambitionierter Vorhaben, in politikfähige Einzelmaßnahmen runtergebrochen. Und er denkt ganzheitlich, fordert etwa nicht isoliert "mehr Transfer", sondern nimmt die ganze Innovationspipeline in den Blick, von der Forschung bis zum Startup. Selbst wenn nur ein Teil der Vorhaben käme, Europa würde als Forschungs- und Innovationsstandort massiv gestärkt. Nicht zuletzt: Die forschungspolitischen Vorhaben bieten gerade für Deutschland große Chancen.

Die größte Herausforderung ist weniger der Inhalt des Berichts, sondern der innere Zustand der EU. "Mehr Europa wagen" war selten so schwierig wie heute. Deutschland und Frankreich sind nach populistischen Wahlerfolgen im innenpolitischen Krisenmodus - wo soll da die Kraft für eine radikale Europa-Reform herkommen? Die Migrationsfrage samt Wiedereinführung von Grenzkontrollen birgt das signifikante Risiko einer Renationalisierung. Und auch die Finanzierungsfrage birgt Sprengkraft: Deutschland und die Niederlande haben erklärt, für Gemeinschaftsschulden nicht zur Verfügung zu stehen. 

 

 

IV Der nächste Schritt

 
Doch es wäre fatal, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Niemand hat dies klarer formuliert als der französische Präsident Emmanuel Macron, im April dieses Jahres in seiner großen Rede an der Sorbonne: "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser heutiges Europa sterblich ist. Europa kann sterben." Nur wenn Europa zu einer neuen ökonomischen, technologischen und verteidigungspolitischen Ernsthaftigkeit bereit sei, nur dann könne der Absturz in die globale Zweit- oder gar Drittklassigkeit verhindert und politische Souveränität gesichert werden. Macrons Worte mögen pathetisch klingen, falsch werden sie dadurch nicht. Ideen, wie Europa zu neuer Stärke entfesselt werden kann, liefert Draghi zuhauf. Bald beginnt die Amtszeit der nächsten EU-Kommission. Von der Leyen hat bereits erklärt, den Bericht sehr ernst nehmen zu wollen. Jetzt muss sie die Mitgliedsstaaten überzeugen. Für Forschung und Innovation, für Europa und für Deutschland wären das wirklich gute Nachrichten.  

 

Jan Wöpking ist Geschäftsführer des Universitätsverbunds German U15.




Wer in der EU-Kommission künftig
für Bildung und Forschung zuständig ist

 

In der neuen EU-Kommission von Ursula von der Leyen wurden Bildung und Forschung in getrennten Ressorts zugeteilt, nun stehen auch die beiden designierten Komissarinnen fest. Den Bereich "People, Skills and Preparedness" soll die Rumänin Roxana Mînzatu übernehmen, ehemalige EU-Ministerin, aktuell Europaabgeordnete und Mitglied der Partidul Social Democrat (PSD), deren deutsche Übersetzung "Sozialdemokratische Partei" allerdings täuscht. Die PSD gilt als, wird als linkspopulistisch" und"linksnationalistisch" beschrieben. Zugleich soll Mînzatu eine von fünf Kommissions-Vizepräsidenten werden, was, so die Hoffnung, der Bildungspolitik am Kommissionstisch eine hervorgehobene Rolle geben könnte.

 

Allerdings sorgt einige Beobachter, dass der Ressortname des Wort Bildung gar nicht enthält. "It is regrettable that the concept of ‘education’ disappears from the title of the portfolio of executive vice president Roxana Minzatu, although we can still hope that in the confirmation hearings process there is an opportunity the concept could come back", sagte Emmanuelle Gardan, Chef des Coimbra-Universitätsverbandes laut Science Business. "There is a clear shift of focus from education, to skills in the mission letter as well."

 

Für Forschung soll die Bulgarin Ekaterina Spasova Getschewa-Sachariewa zuständig sein, Mitglied der konservativen GERB. Ihr Ressort wird "Start-ups, Research and Innovation" umfassen. Sachariewa, unter anderem ehemalige Vizepremierministerin und frühere Außenministerin Bulgariens, wird eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Empfehlungen aus dem Draghi-Report spielen – was ihr die Chance bietet, eine der sichtbarsten Akteurinnen in von der Leyens neuer Kommission zu werden – oder spektakulär zu scheitern. Denn nicht alle Experten halten sie für eine geeignete Besetzung, da sie offenbar keinerlei Erfahrung in der Forschungspolitik hat. (JMW)


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Kommentare: 3
  • #1

    Roman Geiting (Mittwoch, 18 September 2024 10:09)

    Bedeutet das, lieber auf europäische Spitzenforschung zu
    setzen und dafür die oft sehr kleinteilige und zum Teil schlecht gehandhabte deutsche Exzellenz-Initiative zu kappen ? Ich fände das gut.

  • #2

    Gerhard Duda (Mittwoch, 18 September 2024 12:49)

    Für Draghi's Forderung nach einem "ERC für Institutionen", aus der sich eine Europäische Exzellenzinitiative entwickeln könnte, gibt es bereits europäische Vorarbeiten. Sie wurden in einer Unterarbeitsgruppe des Forums für den Europäischen Forschungsraum in Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten, EU-Kommission und Hochschulvertretungen erstellt.
    Die EU-Kommission befiel allerdings angesichts der zu erwartenden zusätzlichen Ausgaben in 2023 "Angst vor der eigenen Courage" und viele große europäische Hochschulvertretungen fremdelten auch mit dem Thema und wollten sich am Ende lieber mit anderen Agenden beschäftigen, die zurzeit in Brüssel en vogue sind. Sie fordern mehr Geld für alle Institutionen, Inklusion, Anerkennung der Vielfalt der Exzellenz - kurz: eine schöne neue Hochschulwelt, die viele Freundinnen und Freunde hat und in der Begriffe wie Forschungsexzellenz und Wettbewerb Hautausschlag hervorrufen. Draghi und voraussichtlich auch die europäische Politik und die Mitgliedstaaten sind jedoch vorrangig am ökonomischen Output und dem Überleben Europas im Wettbewerb der Systeme und Staaten interessiert.
    Die Hochschulen sollten sich jetzt nicht in ein "ent oder weder" selber außereinanderdividieren, sondern mit Realismus und Kompromissbereitschaft untereinander auf die Signale aus der Politik reagieren. Sonst stehen sie am Ende mit leeren Händen da und werden wieder einmal mit europäischen "Modernisierungsstrategien" wie ein ständiger Sanierungsfall, der sie gar nicht sind, von der Politik abgespeist.

  • #3

    Wolfgang Kühnel (Samstag, 21 September 2024 12:32)

    Ob das nun wirklich eine große Leistung ist, eine Verdoppelung von 100 auf 200 Milliarden zu fordern, ohne zu sagen, wer das bezahlen soll? Dass wissenschaftliche Exzellenz in Euro gemessen wird, scheint mir ohnehin fraglich zu sein. Schon bisher wollte man doch die Exzellenz fördern:
    "Der Europäische Forschungsrat fördert themenoffen exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Teams mit bahnbrechenden Forschungsprojekten in verschiedenen Förderlinien für die jeweils passende Karrierestufe." Quelle:
    https://www.horizont-europa.de/de/Der-Europaische-Forschungsrat-ERC-1748.html
    Was also gibt es da zu meckern?
    Und welchen Sinn soll es machen, sich gegenseitig die sog. "Top-Forscher" abzujagen durch immer höhere Gehälter und immer höhere Summen, die nur für befristete Stellen von (Post-)Doktoranden ausgegeben werden dürfen, evtl. mit Quoten für Frauen, Diversität etc.? Das verschärft wieder das Problem von "IchBinHanna".
    Der neue "EU-Chair" klingt verdächtig nach Befristung mit Anschlussfinanzierung durch die betreffende Institution, wie bei Stiftungsprofessuren. Das ist eine nicht strafbare Form der Erpressung.