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Die Geschichte von Marie und Noah

Bildungsbiographien in Deutschland: eine ganz reale Fiktion. In einer Kurzgeschichte als Gastbeitrag von Thomas Müller.

 

Illustration: Andres Romero / Pixabay.

Marie und Noah besuchen denselben Kindergarten. Im Vorschuljahr lernen sie über mehrere Wochen hinweg die Zahlen von "1" bis "9" kennen und malen jede Zahl auf einem großen vorgedruckten Blatt bunt aus. Sie zählen von eins bis neun, was den Kindern in der Gruppe unterschiedlich gut gelingt. Manche Kinder können schon bis zwanzig zählen, wenige sogar bis fünfzig oder hundert. "Malen nach Zahlen"-Vorlagen gibt es sehr oft. Manchmal sollen sie aus einer Menge ähnlich aussehender Figuren die gleichen heraussuchen. Aber die meiste Zeit im Kindergarten ist zur freien Verfügung. Eines Morgens fragt Maries Freundin ihre Erzieherin: "Müssen wir heute schon wieder machen, was wir wollen?".

 

Als Marie eingeschult wird, freut sie sich darauf, endlich richtig rechnen zu lernen. Sie weiß von ihren Eltern und ihrer älteren Schwester, dass Rechnen Spaß macht und im Leben der "Großen" wichtig ist. Maries Eltern haben eine Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht ausgesucht, in der eine Klasse jeweils zu gleichen Teilen aus allen vier Jahrgängen besteht. Wenn Marie in der Freiarbeit eine Mathematikaufgabe nicht versteht, kann sie sich an ihre Patin aus der dritten Jahrgangsstufe wenden, die ihr hilft. Marie bearbeitet Aufgaben in der Regel selbstständig und in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Ihre Klassenlehrerin schafft es meistens, jeden Tag alle Aufgaben durchzusehen, den Kindern individuelles Feedback zu geben und verschiedene Lösungswege zu thematisieren. Wenn Marie bei ihren Hausaufgaben nicht weiterweiß, fragt sie ihre Schwester oder die Eltern und findet zu Hause immer Unterstützung beim Üben.


"Ich wollte die Lehrerbildung
nicht nur rein
systemisch betrachten"

Herr Müller, Sie haben für den Wissenschaftsrat als federführender Referent die Arbeitsgruppe betreut, in der die im Juli 2023 beschlossenen "Empfehlungen zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik" vorbereitet wurden. Nebenher haben Sie privat diese fiktive Kurzgeschichte über Marie und Noah verfasst, warum?

 

Ich wollte die Lehramtsausbildung nicht nur rein systemisch betrachten, sondern ganz bewusst zugleich auch aus der Perspektive der Lernenden. Dazu habe ich mir einige Gedanken gemacht: vor allem zu (potenziellen) Auswirkungen der Ausbildung auf das tagtägliche Unterrichtserleben und zu den Rahmenbedingungen, in denen Unterricht stattfindet. Beim Notieren und Sammeln dieser Gedankenansätze kam mir dann die Idee, dass eine Kurzgeschichte kurzweiliger wäre als ein bloßes sachliches Auflisten von Punkten. So sind die Charaktere Marie und Noah entstanden. Im Zuge der Arbeit an der Geschichte musste ich die beiden dann sozusagen immer mehr erleben lassen und noch eine Freundin erfinden, damit möglichst viele von den Punkten unterkommen konnten, die mir besonders wichtig waren.

Die Kurzgeschichte hat natürlich keinen Eingang in die vom Wissenschaftsrat beschlossenen Empfehlungen gefunden, aber welche der Empfehlungen verdeutlicht sie nach Ihrer Auffassung besonders gut?

 

Dies zu beurteilen, will ich den Leserinnen und Lesern überlassen. Ich hoffe aber, dass die Kurzgeschichte die Bedeutung von echter Professionsorientierung im Lehramtsstudium transportiert. Unterricht ist das zentrale Tätigkeitsfeld für Lehrkräfte – dies sollte sich in der Lehramtsausbildung ganz konkret und durchgängig niederschlagen, damit sie auch tatsächlich auf die späteren Aufgaben vorbereitet. Aus meiner Sicht ist das der Grundtenor des WR-Papiers. Unterricht muss alters- und lerngruppengerecht konzipiert sein und dabei eben auch heterogene Startchancen (zum Beispiel bezüglich Alltags- oder Bildungssprache) und Lernvoraussetzungen in den Blick nehmen – wenn er in der Breite erfolgreich sein soll.

 

Wem stehen Sie in Ihrer eigenen Bildungsbiografie näher: Marie oder Noah?

 

Wahrscheinlich lässt sich nicht verheimlichen, dass ich in der Rolle von Marie eigene biografische Erfahrungen angelegt habe – denn Noahs Rolle ist demgegenüber weniger detailliert herausgearbeitet. Maries Erfahrungen in Studium und Studienreferendariat sind also nicht ganz aus der Luft gegriffen. Natürlich habe ich im Studium für den Lehrerberuf und fürs Leben lernen können: in der englischen Fachdidaktik zum Beispiel, Interaktion, Feedback-Verhalten und Kommunikation im Detail zu hinterfragen, zu analysieren und zu planen. Das hat meine Vorstellung von gelungener Kommunikation stark geprägt, sei es im interkulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Kontext. 



Noah besucht eine Grundschule in einem anderen Stadtteil. Die Schülerschaft ist sehr heterogen zusammengesetzt, die Unterstützung durch die Eltern variiert stark. Bei mehr als einem Viertel der Kinder ist sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden. Deutsch ist für viele nicht die Muttersprache und stellt oft noch eine Hürde dar, einige Kinder der Klasse leben noch nicht lange mit ihren Eltern in Deutschland. Noahs Klassenlehrerin ist erst seit einem halben Jahr an dieser Grundschule, im Kollegium gibt es ein ständiges Kommen und Gehen. Mehrfach in der Grundschulzeit muss sich Noah an neue Klassenlehrerinnen gewöhnen, nach dem dritten Wechsel versucht er nun nicht mehr, eine Beziehung aufzubauen. Wenn die Klassenlehrerin verhindert ist, hat die Klasse entweder Vertretungsunterricht (selten) oder darf auf dem Schulhof spielen (meistens). Im Vertretungsunterricht lernen sie oft nicht Mathematik oder Deutsch, stattdessen dürfen sie etwas malen oder ausmalen.

 

Im Mathematikunterricht arbeitet Noahs Klasse zeitgleich an den gleichen Aufgaben, meist jedes Kind für sich in Stillarbeit. Während manche allein für das Verstehen der Aufgabenstellung und dann für das Bearbeiten der Mathematikaufgabe viel Zeit benötigen, sind einige schnell damit fertig und sollen dann still auf die anderen warten. Noah und seine Freunde vergleichen anfangs gern, wer am schnellsten vorankommt. Aber wenn die Ergebnisse besprochen werden, geht dies für Noah oft so schnell, dass er nicht richtig mitkommt. Dabei merkt er dann gar nicht, wenn er in seinem Mathematikheft einen Haken hinter ein falsches Ergebnis setzt. Seinen Eltern fällt das auf, wenn sie ab und an in sein Mathematikheft schauen. Sie fragen Noah, wie es zu den Richtig-Häkchen bei falschen Ergebnissen kommt. Noah kann das ihnen und sich selbst nicht richtig erklären, er war sich sicher, die Lehrerin habe das so gesagt. Seitdem ist Noah unsicher und beteiligt sich kaum noch, wenn die Lehrerin mit der Klasse die Ergebnisse abgleicht.

 

Marie und Noah lernen an ihren Grundschulen jeweils mit Schulbüchern, auf die sich die Fachkonferenz Mathematik an ihrer Schule geeinigt hat. Maries Eltern wundern sich bei der Hausaufgabenbetreuung, dass es in den Lernmaterialien für das Fach Mathematik kaum "Erklär- Seiten" oder Anwendungsbeispiele gibt, um die Kinder an neue Rechenmöglichkeiten beispielsweise im Rahmen einer kleinen Geschichte heranzuführen. Stattdessen werden auf vielen Seiten sich wiederholende Aufgabentypen in immer derselben Systematik angeboten.

 

Marie freut sich darüber, die Aufgaben schnell abarbeiten zu können, wenn sie erst einmal das Prinzip verstanden hat. Aber es langweilt auch sie ein wenig. Obwohl ihr Mathematik eigentlich Spaß macht, braucht sie immer wieder Hilfe von den Eltern, um den Sinn der Aufgaben im Buch zu verstehen.

 

Wegen des zu hohen Tempos bei der Ergebniskontrolle ist Noah verunsichert. Eigentlich kommt er im Mathematikunterricht an der Grundschule recht gut mit, trotzdem schätzt er seine eigenen Leistungen und Möglichkeiten in Mathematik als eher gering ein. Mathematikaufgaben wendet er sich ohne große Lust zu, er findet Mathematik inzwischen doof. Wird er aber in spielerischen Kontexten zum Rechnen und Knobeln herausgefordert und für Erfolge belohnt, ist Noah stets Feuer und Flamme. Er entwickelt eine Leidenschaft für Zauberwürfel, hat mit der 3x3-Version begonnen und löst mittlerweile den 7x7-Würfel ohne große Probleme. Leider erkennt kaum jemand, dass er dabei Mathematik braucht und auch beherrscht.

 

Zu Beginn des vierten Schuljahres beschließen Noahs Eltern mit ihm zusammen, ihn nicht am Gymnasium, sondern an einer Sekundarschule anzumelden, um ihm zu großen Leistungsdruck zu ersparen. Noahs neue Klasse an der Sekundarschule besteht aus 28 Kindern, beinahe ein Drittel der Kinder hat spezifische Förderbedarfe, einige werden im Unterricht zeitweise von einer Förderkraft begleitet, drei Schüler besuchen die fünfte Klasse zum zweiten Mal. Für eine individuelle Unterstützung von Noah bleibt den Lehrkräften wenig Zeit. In der Klasse sind mehrere Kinder, deren Familien nach Deutschland flüchten mussten. Sie können bisher nur wenig Deutsch, dadurch sind sie sozial isoliert und bleiben auch in den Pausen oft unter sich. Im Unterricht versuchen die meisten Lehrerinnen und Lehrer, die Aufgaben zumindest kurz auf Englisch zu erklären. Dabei improvisieren sie, denn auf solche spezifischen Situationen und Herausforderungen sind sie im Lehramtsstudium oder einer Fortbildung nicht ausreichend vorbereitet worden.

 

Marie wechselt auf das Gymnasium, an dem schon ihre Mutter Abitur gemacht hat. Die Schule hat sich offiziell die Förderung der Schülerinnen und Schüler insbesondere in den MINT-Fächern auf die Fahnen geschrieben. Angeboten wird beispielsweise eine AG "Was wir von der Natur lernen können", eine Veranstaltung zu wissenschaftlichem Schreiben im MINT-Bereich und ein Girls Camp zu "Schwerewellen in der Atmosphäre". Trotzdem nehmen auch hier viele Kinder und Jugendliche Mathematiknachhilfestunden am Nachmittag, sie haben schon in der Grundschule Angst vor dem Fach entwickelt. Marie hingegen kommt im Mathematikunterricht sehr gut klar. Auf jede Klassenarbeit bereitet sie sich gründlich vor und lernt den Umgang mit den Rechenwegen für das jeweils anstehende Thema. Das bringt ihr gute Mathematiknoten. Trotzdem fällt es ihr im Alltag schwer, den Dreisatz oder die Prozentrechnung beim Einkaufen anzuwenden. Für sie ist Mathematik etwas Abstraktes und genau deshalb interessant. Sie nimmt regelmäßig an Mathematikwettbewerben teil.

 

In der siebten Klasse bekommt sie eine neue Mathematiklehrerin, eine junge Studienreferendarin im sogenannten bedarfsdeckenden Unterricht. Sie hat ihnen erklärt: Sie ist im zweiten Jahr ihrer Lehramtsausbildung an der Schule, im siebten und damit letzten Ausbildungsjahr insgesamt. Damit darf sie nun eigenständig ohne Ausbildungslehrkraft unterrichten und wird alle zwei oder drei Monate geprüft. Dann kommen Personen, die die Unterrichtsqualität und die Fortschritte der Lehrerin beurteilen. Das ist sehr wichtig für Maries Lehrerin, die Klasse soll sie bei diesen Prüfungsstunden daher unterstützen, so gut es geht. Die Lehrerin bereitet diese Stunden immer sehr gut zusammen mit der Klasse vor. Wenn es dann so weit ist, macht die ganze Klasse engagiert im Unterricht mit, viele Hände schnellen nach oben und die Schüler können die Fragen richtig beantworten. Sie mögen ihre Lehrerin – und freuen sich auf die Belohnung, die sie für die fleißige Mitarbeit versprochen bekommen haben.

 

Kürzlich hat Marie ihren Kindergartenfreund Noah zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Sie tauschen Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Kindergartenzeit aus und erzählen sich aus der Schule. Als Marie ihm von ihrer neuen Mathematiklehrerin erzählt, die noch Studienreferendarin ist, von ihrem richtig tollen Unterricht und der Teilnahme an einem Mathematikwettbewerb, ist Noah erstaunt. Er hat noch nie gehört, dass es an seiner Sekundarschule schon einmal einen Referendar oder eine Referendarin für das Fach Mathematik gegeben hätte. Noah erzählt, dass er keine Lust mehr auf das viele Lernen in der Schule habe und sich zum Ende des zehnten Schuljahres für eine Ausbildung als Industriemechaniker bewerben werde. Er wolle lernen, Maschinen zu warten und zu reparieren, Bauzeichnungen für Maschinen zu lesen, selber anzufertigen und danach zu bauen.

 

Der Mathematikunterricht von Marie hat sich in der achten Klasse sehr geändert: Anstelle von Übungsaufgaben aus dem Buch stellt die Studienreferendarin die Klasse vor mathematische Probleme und lässt sie an kleinen Projekten eigene Zugänge zu Lösungen suchen. Daraufhin hat sie viele besorgte Zuschriften und auch Beschwerden aus der Elternschaft erhalten, die befürchtet, die Vorbereitung auf die anstehende Klassenarbeit könnte zu kurz kommen und das Stoffpensum womöglich nicht geschafft werden. Die Lehrerin erklärt den Eltern, dass dieses problemorientierte, erforschende Arbeiten in Teams ihr als Lehrerin zeige, welche Kompetenzen ihre Schülerinnen und Schüler schon erworben hätten und wer in welcher Form gefördert oder gefordert werden müsse, um die nächsten individuellen Lernziele zu erreichen.

 

Dass die Lehrerin auf diese Weise ganz gezielt auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Lerngeschwindigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler reagieren kann, können die Eltern allerdings nicht nachvollziehen. Die junge Studienreferendarin hatte sich diese Aufgabe auch anders vorgestellt. Binnendifferenzierende Maßnahmen waren zwar in ihrem Lehramtsstudium ein Thema, doch das wahre Ausmaß der Herausforderung wird ihr erst im Unterrichtsalltag klar. Noch anspruchsvoller wird diese Aufgabe, als sie nach dem Studienreferendariat sofort in Vollzeit im Unterricht eingesetzt wird und an einem Schultag in vielen verschiedenen Lerngruppen in enger Taktung unterrichtet.

 

Inzwischen ist Marie in der zehnten Jahrgangsstufe. Sie hat gelernt, den Flächeninhalt von Parallelogrammen und den Rauminhalt von Prismen zu berechnen, sie kann die Aussage des Satzes von Pythagoras erläutern und sicher anwenden, sie kann mehrstufige Zufallsprozesse beschreiben und Wahrscheinlichkeiten mithilfe der Pfadregeln berechnen. Als ihr Mathematiklehrer der Klasse über ein Programm zur MINT-Lehrkraft-Nachwuchsförderung berichtet, ist Marie sofort begeistert. Über einen Zeitraum von zwei Jahren gewinnt sie in einem "Mini-Referendariat" interessante Einblicke in den Beruf als Lehrerin und macht sogar erste Erfahrungen damit, kleine Unterrichtseinheiten an der Grundschule zu unterrichten. Marie fällt es leicht, sich in den Kenntnisstand der Grundschulkinder hineinzuversetzen und eine für sie verständliche Sprache zu sprechen. Es erinnert sie an den jahrgangsübergreifenden Unterricht ihrer eigenen Grundschulzeit – als Dritt- und Viertklässlerin hat sie damals oft die Aufgabe gehabt, Erst- und Zweitklässlerinnen und Zweitklässler zu unterstützen. Die Arbeit mit Kindern bereitet ihr Freude.

 

Noah ist nach dem mittleren Schulabschluss von der Schule abgegangen und hat einen Ausbildungsplatz in einem Fahrradgeschäft gefunden. Eine Ausbildung zum Industriemechaniker hat er sich nicht zugetraut. Sehr schnell merkt er aber, dass ihn die vielen Routinearbeiten unterfordern und langweilen. Er bricht nach einem Jahr die Lehre ab und wechselt auf Anraten seines Großvaters in ein größeres Unternehmen des Maschinenbaus. Dort wird er von einem engagierten Ausbilder betreut, der Noahs Talent für Mechatronik erkennt. Er wendet sich an dessen Berufsschullehrer für Mathematik, um mit ihm spezielle Fördermaßnahmen für Noah zu besprechen. Noah ist plötzlich hoch motiviert, weil er endlich erleben kann, für welche spannenden beruflichen Aufgaben er welche Mathematik braucht.

 

Gegen Ende der zwölften Jahrgangsstufe überlegen Marie und ihre Freundin Irina, Grundschullehramt zu studieren. Marie findet, Irina könne besonders gut mit Kindern umgehen. Irina wiederum meint, ihre Freundin könne fantastisch Mathematik erklären, sodass sogar sie etwas verstehe. Zusammen informieren sie sich über die Studienordnungen an den verschiedenen Universitäten. Irina ist abgeschreckt davon, dass an allen Universitäten im näheren Umkreis Mathematik im Studiengang für das Primarstufenlehramt verbindlich vorgeschrieben ist – Mathematik ohne Maries Hilfe macht ihr immer noch Angst. Marie findet diese Vorgabe allerdings folgerichtig, da Mathematik an der Grundschule von der ersten bis zur vierten Klasse eine große Rolle spielt. Zugleich kann sie sich auch in ihre Freundin hineinversetzen, die aus ihrer Sicht sicherlich eine tolle Lehrerin wäre, für die ein Mathematikstudium jedoch eine sehr hohe Hürde darstellt.

 

Marie entscheidet sich für das Grundschullehramt, während Irina sich dagegen entscheidet und eine Ausbildung als Mediengestalterin beginnt. Während eines bildungswissenschaftlichen Seminars an der Uni, in dem intensiv über einen Text zur Lehrerrolle diskutiert wird, schweifen Maries Gedanken ab. Die theoretisierende und praxisferne Art der Diskussion findet sie befremdlich. Zwar verspricht der Seminartermin "Neue Unterrichtskultur – Veränderte Lehrerrolle" eine berufliche Relevanz, doch Marie kann keinen konkreten Bezug, keine Transfermöglichkeit zur schulischen Wirklichkeit erkennen. In solchen Situationen bedauert sie, dass nur wenige universitäre Lehrkräfte selbst Erfahrungen an der Schule gesammelt und den Unterrichtsalltag mit all seinen Herausforderungen tatsächlich kennen gelernt und gemeistert haben. Aber ihr Wunsch, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen, wiegt schwerer und hilft, die Frustration über einen sehr vagen Praxisbezug zu überwinden.

 

Als Lehramtsanwärterin im Referendariat amüsiert sich Marie oft: Fachleiterinnen und Fachleiter stellen in ihren Unterrichtsbesuchen dieselben praxisfernen Ansprüche und erzeugen dieselben unrealistischen Vorführstunden, wie sie sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit erinnert. Eine Unterrichtsstunde soll perfekt in die Unterrichtsreihe eingebettet, minutiös durchgeplant sein, die erwarteten Äußerungen der Schülerinnen und Schüler exakt voraussehen und pünktlich nach 45 Minuten mit einer präzisen Ergebnissicherung schließen. Marie ahnt, dass sie dafür als Lehrerin im Schulalltag wohl kaum die Vorbereitungszeit aufbringen könnte. Zugleich ist sie überzeugt, dass solche Unterrichtsinszenierungen letztlich zu statisch sind, um individuell auf die Lernsituation in der Klasse eingehen zu können.

 

Marie kann sich noch gut daran erinnern: In ihrer eigenen Schulzeit hat sich ein Schuljahr angefühlt wie eine Ewigkeit. Als Lehrerin an der Grundschule fliegt ein Schultag nur so vorbei. Unterrichtsvorbereitung, Elternabende, Elternsprechtage und individuelle Elterngespräche, pädagogische Halb- und Ganztage, ein Studientag für das Kollegium zum interdisziplinären Arbeiten, eine Projektwoche zur Nachhaltigkeit, Klassenausflüge und -fahrten, Zeugniskonferenzen – der Schulalltag ist eng getaktet. Dazu kommt der Anspruch, sich in multiprofessionellen Teams zu organisieren und auszutauschen, Unterstützung für die IT der Schule, zudem der Unterrichtsausfall durch Krankheit im Kollegium bzw. durch Unterbesetzung in einigen Fachbereichen. Eigentlich würde Marie gern Fortbildungen zum Flipped Classroom-Konzept machen, zu Binnendifferenzierung und Lernerautonomie – doch die Schulleitung hat ihr schon signalisiert, dass dies angesichts der angespannten Personallage wenig Chancen auf Umsetzung habe. Die Versorgung der Kinder mit Unterricht, mindestens Vertretungsunterricht, stehe nun mal an vorderster Stelle.

 

Eines Nachmittags geht eine Whatsapp-Nachricht von Noah ein. Er schreibt, dass er nun seinen Industriemeister gemacht habe. Durch Mathematik habe er sich durchgekämpft, mit Hilfe seines Berufschullehrers könne er nun endlich eine Verbindung herstellen zwischen den Aufgaben im Unterricht und den Aufgaben am Arbeitsplatz. Sie verabreden sich, um ihre Abschlüsse zu feiern.


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Kommentare: 3
  • #1

    Jan B (Mittwoch, 25 September 2024 03:23)

    Hervorragender Beitrag der Bildungswege sehr schön veranschaulicht.

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Mittwoch, 25 September 2024 17:35)

    Das ist zwar eine nette Geschichte, aber der Autor macht in einem Punkt doch einen (gespielt?) naiven Eindruck:
    "Als Lehramtsanwärterin im Referendariat amüsiert sich Marie oft: Fachleiterinnen und Fachleiter stellen in ihren Unterrichtsbesuchen dieselben praxisfernen Ansprüche und erzeugen dieselben unrealistischen Vorführstunden, wie sie sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit erinnert."
    Nach allem, was man hört, könnten die Aussagen über die Referendarausbilder durchaus stimmen, aber Referendare, die es irgendwie anders machen wollen, die haben NICHTS ZU LACHEN, das ist überhaupt nicht "amüsant". Es gibt Berichte über die "schrecklichste Zeit des Lebens" (die Referendarzeit), über autoritäre Referendarausbilder, über didaktische Modeströmungen (alle 5 Minuten die Methode wechseln, sonst fällt der Kandidat durch) und ähnliches. Der Autor sollte ja wohl auch schon davon gehört haben, aber vielleicht hat er sich selbst ja tatsächlich immer nur "amüsiert". Der Lehrermangel könnte auch damit zusammenhängen, dass die Kandidaten sich so nicht schurigeln lassen möchten, wenn es berufliche Alternativen außerhalb der Schule gibt. Ständig werden Reformen beim Lehramtsstudium gefordert, aber die Art, wie Referendare behandelt werden, ist offenbar tabu.
    Im Klartext: Es gibt durchaus die Gefahr, dass eine reale Marie unter diesen Umständen desillusioniert das Referendariat abgebrochen haben könnte.
    Ob der jahrgangsübergreifende Unterricht wirklich ein so großer Erfolg ist, das ist auch fraglich. Der Autor möchte wohl -- politisch korrekt -- dafür etwas Reklame machen.

  • #3

    Christiane (Mittwoch, 25 September 2024 18:14)

    Vielen Dank für dieses schöne neue Format! Ich gehe zwar davon aus, dass es nicht so gemeint ist, aber schade finde ich nur, dass eine Berufsausbildung als eine Art Versagen der Schule bzw. in Schule erscheint. Das Phänomen fällt mir oft bei der Diskussion um Studium auf. Ich habe einige Freunde, für die wäre eine Ausbildung viel erfüllender gewesen, einige haben sich sogar mit über 40 noch dafür bzw. für die "Erwachsenenvarianten" entschieden. Eine Berufsausbildung sollte nicht auf eine unvermeidbare Alternative zu dem eigentlich erstrebenswerten Studium reduziert werden. Sie ist ein Bildungsweg, der genau den Interessen, Kompetenzen und Wünschen der Personen entsprechen kann. Und das wäre tatsächlich etwas, das in der Schulzeit herausgefunden werden sollte, und zwar neutral bzw. orientiert an den Jugendlichen und erst einmal unabhängig von irgendwelchen externen Bewertungen oder Erwartungen.