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Zurück an die Politik

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Das BAföG muss nicht das Existenzminimum sichern. Die klare Botschaft: Die Abwägung über Höhe und Priorisierung der Studienförderung gehört in die politische Arena.

AM MITTWOCHMORGEN hat das Bundesverfassungsgericht seinen lange erwarteten BAföG-Beschluss veröffentlicht: Die Höhe der Grundpauschale war 2014 und 2015 mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch wenn die Klage sich konkret nur auf diesen Zeitraum bezog, hat die Argumentation des Gerichts grundsätzliche Bedeutung. Der Rechtsanwalt der klagenden Studentin hatte unter anderem angeführt, dass der BAföG-Bedarfssatz zwischen 1971 und 2010  nur um 143 Prozent gestiegen sei, die allgemeine Inflation zwischen 1970 und 2010 aber bei 207 Prozent gelegen habe.

 

Das Bundesverwaltungsgericht war 2021 zu dem Ergebnis gekommen, dass der 2014 und 2015 geltende Grundbedarfssatz für Studierende gegen den Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums verstoßen habe, der sich aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten ergebe. Daraufhin beschloss das Bundesverwaltungsgericht, die Frage nach der Vereinbarkeit des Bedarfssatzes mit dem Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

 

Dessen Erster Senat befand jetzt: Aus dem vom Grundgesetz geschützten Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum folge kein Recht von armen Studierenden auf BAföG. Denn: "Auf diesen Anspruch können sich nur diejenigen berufen, die selbst nicht zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins in der Lage sind." Vorrangig sei die Selbsthilfe, etwa in Form einer Erwerbstätigkeit, selbst falls dadurch ein Studium nicht möglich sei. "Es berührt nicht die Menschenwürde, wenn stattdessen zur Vermeidung von Bedürftigkeit einer existenzsichernden Ausbildung oder beruflichen Tätigkeit nachgegangen werden muss." 

 

Der GEW-Vizevorsitzende Andreas Keller nannte den Beschluss des Verfassungsgerichts "enttäuschend". Der Erste Senat habe die Grundrechte auf eine menschenwürdige Existenz und Berufswahlfreiheit sehr restriktiv ausgelegt. "Er mutet Studierenden letztlich zu, ihr Studium abzubrechen, wenn sie dafür keine ausreichende Finanzierung haben."

 

Kein Vorrang des Sozialstaatsprinzips
vor anderen staatlichen Aufgaben

 

Die Richter entschieden außerdem: Auch aus dem Recht Hochschulzugangsberechtigter auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot oder aus dem Sozialstaatsprinzip ergebe sich kein Anspruch auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums. Und schließlich: Auch wenn es sozialstaatliche Aufgabe sei, "auf einen Abbau von den sozialen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit hinzuwirken", seien dem Staat durch seine Finanzsituation Grenzen gesetzt, und der sozialstaatliche Auftrag habe von Verfassungs wegen keinen Vorrang vor anderen staatlichen Aufgaben.

 

Letztere Feststellung des Bundesverfassungsgerichts könnte unabhängig vom BAföG noch häufiger zitiert werden, wenn der sich inmitten der deutschen Modernisierungskrise abzeichnende politische Konflikt um die Balance zwischen Zukunftsinvestitionen und Sozialstaat an Schärfe gewinnt.

 

Fürs BAföG gilt jedenfalls das, was der Geschäftsführer des Deutschen Studierendenwerks, Matthias Anbuhl, in seiner ersten Reaktion sagte: "Ob die BAföG-Förderung für Studierende ausreichend ist, ist eine politische Entscheidung. Sie muss im Parlament und nicht vor Gericht geklärt werden."

 

In der Sprache des Bundesverfassungsgerichts klingt das so: "In öffentlicher Debatte die für die Lösung der Verteilungskonflikte maßgebliche Priorisierung festzulegen und sie an die wechselnden Bedürfnisse des Gemeinwesens anzupassen, ist zentraler Bestandteil der politischen Gestaltungsmacht des vom Volk gewählten Parlaments. Es verfügt auch funktional über die besten Voraussetzungen, um im Zusammenwirken mit der Regierung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen. Diese Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Entscheidung über die Verwendung der knappen finanziellen Mittel würde durch subjektive verfassungsrechtliche Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer, einer chancengleichen Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit entgegenstehender Ungleichheiten beeinträchtigt."

 

Jetzt braucht es nur noch eine tatkräftige Koalition, die zu den nötigen öffentlichen Debatten zur Güterabwägung bereit und in der Lage ist.

 

Dieser Beitrag erschien am Mittwoch in kürzerer Fassung zuerst in meinem kostenfreien Newsletter.



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Kommentare: 2
  • #1

    tutnichtszursache (Donnerstag, 31 Oktober 2024 10:07)

    Vielleicht sehen wir hier eine seit langem überfällige Trendwende in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Viele Jahre lang hat Karlsruhe unter Verweis auf das Sozialstaatsprinzip die Sozialleistungen, namentlich Kürzungen, dem politischen Diskurs entzogen, bis (das ist meine Meinung, man kann anderer Meinung sein) hin zur jetzigen Steuer- und Sozialabgabenlast zur Finanzierung eines überbordenden Sozialstaats unter Vernachlässigung anderer Aufgaben (Infrastruktur, Verteidigung, ...).

  • #2

    R. Beltzig (Donnerstag, 31 Oktober 2024 12:38)

    Die Entscheidung mag enttäuschend für viele sein. Aber ist es nicht so, daß derzeit viel zu viele junge Leute studieren?
    M.E. ist es wirklich notwendig, daß "normale" Berufe die Wertschätzung der Gesellschaft erfahren. Interessant ist der
    Bezug auf die unzureichenden Finanzen des Staates.