Der FDP-Chef stößt die Ampelkoalition mit Schwung in eine Priorisierungsdebatte hinein, die Deutschland schon vor Jahren hätte führen müssen. Es muss jetzt um die nötigen Zukunftsinvestitionen gestritten werden – aber nicht auf Kosten der nächsten Generation. Ein Essay.
Foto: World Economic Forum, CC BY-SA 2.0.
NEIN, ICH BIN NICHT mit allem einverstanden, mit allen Befunden und Vorschlägen, die Christian Lindner in seinem wirtschaftspolitischen Grundsatzpapier aufgelistet hat. Obwohl ich Volkswirtschaft studiert habe, fehlt es mir zudem an ökonomischem Sachverstand, um die Wirkung etlicher Maßnahmen seriös einschätzen zu können.
Ich nehme aber zur Kenntnis, das etwa seine Forderung nach einer Kehrtwende in der nationalen Klima- und Energiepolitik selbst unter Wirtschaftswissenschaftlern ein geteiltes Echo verursacht, während ihm aus Umweltpolitik und Verbänden teilweise lautstarke Proteste entgegenhallen.
Und wenn der FDP-Chef und Bundesfinanzminister "Effizienzpotentiale" bei Integrationskursen für Einwanderer erschließen will, frage ich mich ernsthaft, wie das zu den Warnungen passt, angesichts der ohnehin schon für 2025 geplanten Förderkürzungen um mehr als die Hälfte könnten 180.000 Menschen ohne Kursplatz bleiben.
Insgesamt aber verdient Lindner Anerkennung für sein Papier und die überfällige Diskussion, die er damit befördert. Kurz gesagt lautet seine Botschaft: Der Staat hat nicht zu wenig Geld. Er muss es nur richtig ausgeben. Und hier sind meine Ideen.
Alles hat zugleich seine Berechtigung, nichts
muss priorisiert werden
Es ist klar, dass das Ärger in der Ampel gibt, denn der Grundkonsens, der die Partner 2021 zusammenführte, bestand im genauen Gegenteil: Alles hat zugleich seine Berechtigung. Nichts muss priorisiert oder, bewahre, posteriorisiert werden.
Das war der Kitt, der scheinbar unvereinbare Positionen zusammenfügte, der zu einem Koalitionsvertrag führte, der sich für fast alle Beteiligten, auch in Bildung und Wissenschaft, wunderbar las. Weil so viel Verheißungsvolles darin stand, so viel Andeutung von Aufbruchswillen und Tatkraft, die zu dem selbst gewählten Namen "Chancenkoalition" passten. Auch wenn selbst geneigte Beobachter sehr bald Zweifel beschlichen, weil die Ampel keine haushaltspolitische Übersicht all ihrer schönen Koalitionsvorhaben mitlieferte.
Der Ukraine-Krieg, die "Zeitenwende", lieferte dann eine erste Begründung, warum die Ampel viele (die Mehrheit?) ihrer Versprechungen unerfüllt ließ. Und um die Zwangslage der Koalition noch plausibler zu machen, wurde immer öfter auf die 2011 eingeführte Schuldenbremse rekurriert, die den Bund (die Länder sowieso) in ein viel zu enges Korsett zwänge.
Warum letzteres irreführend war und ist, dazu gleich mehr. In jedem Fall verbanden sich Zeitenwende und Schuldenbremse, gesteigert um das Verfassungsgerichtsurteil zum Klima- und Transformationsfonds, zu dem Narrativ, vor allem die Umstände seien schuld an der haushaltspolitischen Notlage der Bundesregierung.
Kein erst in der Ampel-Ära
aufgetauchtes Problem
Dabei rührte diese Notlage aus etwas ganz Anderem her. Aus der mangelnden Fähigkeit der auf Nicht-Priorisierung beruhenden Ampel, in der Dreierkonstellation von SPD, Grünen und FDP in Zeiten knapper Haushalte strategisch stimmig Prioritäten zu setzen. Genau die wären aber nötig, um in der Transformations- und Innovationskrise den Umschwung zu organisieren.
Und bevor der Eindruck entsteht, es handle sich hierbei um ein erst in der Ampel-Ära aufgetauchtes Problem: Das Unvermögen, den Bundeshaushalt strategisch Richtung Zukunft auszurichten, hatten bereits die Merkel-Jahre. Tatsächlich hat die heutige Misere dort sogar ihren Anfang genommen.
Zurück zum Lindner-Papier. Es kommt am Ende gar nicht darauf an, ob man den darin enthaltenen Vorschlägen zur Priorisierung folgt oder genau ihr Gegenteil für ökonomisch vernünftig hielte. Allein dadurch, dass es – zu Recht – mit Hinweis auf die Generationengerechtigkeit auf die Einhaltung der Schuldenbremse pocht, verstößt es gegen den Ampel-Grundkonsens, ja den Konsens der vergangenen zwei Jahrzehnte meist strategiebefreiter bundesrepublikanischer Haushaltspolitik, nichts und niemand wehtun zu wollen. Und wenn doch, dann höchstens allen ein bisschen. Irgendwie. Denn diese Art der Haushaltspolitik ließe sich nun eben nur noch fortsetzen über eine Abschaffung der Schuldenbremse. Weshalb die Rufe danach immer lauter geworden sind.
Warum aber ist das Narrativ, die Schuldenbremse sei das Problem, irreführend? Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die Ausgabenentwicklung der öffentlichen Gesamthaushalte und der Investitionen des Bundes.
Seit Einführung der Schuldenbremse
wuchsen die Staatsausgaben sogar schneller
Erstens: In den neun Jahren VOR Einführung der Schuldenbremse, 2001 bis 2010, stiegen die öffentlichen Gesamtausgaben inklusive Sozialversicherung nominal um 16,1 Prozent (bei 14,4 Prozent Inflation) auf 1,128 Billionen Euro. In den neun Jahren seit Einführung, 2010 bis 2019, um 33,5 Prozent (Inflation: 12,9 Prozent) auf 1,505 Billionen. Ein negativer Einfluss der Schuldenbremse ist nicht erkennbar, eher die Folgen der guten Konjunktur. Und eines ist sicher: Genug Geld war 2019 da. Und ist es heute immer noch.
Zweitens: Der in Deutschland traditionell niedrige Anteil öffentlicher Investitionen an der Wirtschaftsleistung erreichte seinen Tiefpunkt 2005 mit 1,9 Prozent, stieg dann zwischenzeitlich bis 2010 auf 2,4 Prozent an, ging bis 2014 erneut zurück auf 2,1 Prozent, um seitdem Jahr um Jahr zu klettern. Auf 2,4 Prozent 2019 – und in der Coronakrise auf bis zu 2,7 Prozent. Auch hier gilt: Kein Zusammenhang mit der Schuldenbremse.
Sehr wohl aber ist deprimierend, dass der starke Anstieg der Staatsausgaben vor der Coronakrise nicht zu einem überproportionalen Plus bei den Investitionen führte. Warum? Weil die Bundesregierung sich entschied, stattdessen unter anderem in die Rente mit 63 zu investieren, anwachsend auf mittlerweile über 40 Milliarden Euro im Jahr. Während die Quote der von Armutsrisiko betroffenen Senioren weiter stieg. Kann man machen. Ist aber eine Entscheidung, die dann die Spielräume für Anderes wegnimmt.
Würde man jetzt die Schuldenbremse aufweichen, um damit die unbestreitbar große Innovationslücke zu schließen, hieße das überspitzt gesagt: Man lässt die nächsten Generationen indirekt bezahlen für die Finanzierung der (meist von Gutverdienern bezogene) Rente mit 63, weil das Geld, was in den Zehnerjahren in Schiene, Schule und Klimatransformation hätte fließen können, tatsächlich für soziale Wohltaten floss.
Auch über die Rolle der Sozialausgaben kann,
ja muss man jetzt diskutieren
Insofern kann, insofern muss man jetzt auch über die Rolle der Sozialausgaben diskutieren, wenn über die notwendige Priorisierung des Bundeshaushalts Richtung Zukunft gestritten wird. Richtung Investitionen in Infrastruktur, in neue Wirtschaftsbranchen und Technologien, in Bildung, Forschung und Entwicklung.
Wenn man konsensfähige Alternativen findet, umso besser. Aber einfach die Abschaffung der Schuldenbremse zu fordern, weil der Gestaltungswille fehlt, ist zu wenig. Und zu billig, wenn man doch weiß, dass genau diese Art der Entscheidungsvermeidung zulasten Dritter (teilweise noch nicht geborener Generationen) Deutschlands Zukunftsproblem über viele Jahre hinweg verursacht hat.
Genau deshalb ist der Beschluss so zentral und passend, den erst vergangene Woche das Bundesverfassungsgericht zum BAföG veröffentlicht hat. Darin heißt es etwa zum Sozialstaat: Auch wenn es sozialstaatliche Aufgabe sei, "auf einen Abbau von den sozialen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit hinzuwirken", seien dem Staat durch seine Finanzsituation Grenzen gesetzt, und der sozialstaatliche Auftrag habe von Verfassungs wegen keinen Vorrang vor anderen staatlichen Aufgaben.
Und weiter: "In öffentlicher Debatte die für die Lösung der Verteilungskonflikte maßgebliche Priorisierung festzulegen und sie an die wechselnden Bedürfnisse des Gemeinwesens anzupassen, ist zentraler Bestandteil der politischen Gestaltungsmacht des vom Volk gewählten Parlaments. Es verfügt auch funktional über die besten Voraussetzungen, um im Zusammenwirken mit der Regierung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen.“ Es gebe eine Befugnis des "demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Entscheidung über die Verwendung der knappen finanziellen Mittel" – und ich will hinzufügen: auch eine Verpflichtung.
Es ist die Verpflichtung der Ampelkoalition und – womöglich schon sehr bald –der nächsten Bundesregierung, diese ihre "zentrale Gestaltungsmacht" endlich mutig auszuüben. Innerhalb der immer noch reichlich gesetzten finanziellen Grenzen dieser, der heutigen Generation.
Anmerkung: Im Text hieß es zunächst "Rente mit 65". Gemeint ist die "Rente mit 63", die sich allmählich zur Rente mit 65 entwickelt.
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N.N. (Mittwoch, 06 November 2024 17:40)
Müsste es nicht zwei Mal heißen Rente mit 63?
Lilly Berlin (Mittwoch, 06 November 2024 22:19)
Tatsächlich ist es ja Tradition in Deutschland, bei sich abzeichnendem Unmut Wohltaten am die wählenden Bevölkerung auszuschütten, statt an Morgen zu denken. Im Umkehrschluss ist auch klar, wo bei Bedarf problemlos gespart werden kann: bei den Nicht-Wählern. Jüngstes Beispiel in schwarz-rot regierten Berlin: keine Klassenfahrten mehr. Oder in Dresden: es stürzt eine Brücke ein - der Wiederaufbau soll über die Anhebung der Kita-Gebühren finanziert werden. Deutschland 2024.