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Die Aufholjagd ist ausgefallen

Vor fünf Jahren versprach Deutschlands Bildungspolitik einen Sprung nach vorn bei der digitalen Bildung. Die neue internationale Vergleichsstudie ICILS zeigt nun: Die Misere ist nicht kleiner geworden.

Symbolbild, KI-generiert.

"NICHT HINNEHMBAR" nannte die Bundesbildungsministerin, dass weiter ein starker Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den digitalen Kompetenzen von Jugendlichen bestehe. Deutschland befinde sich bei der digitalen Bildung in den Schulen vor großen Herausforderungen. Und sie versprach, der Digitalpakt werde der gesamten Entwicklung in diesem Bereich "einen kräftigen Schub" geben. 

 

Der Präsident der Kultusministerkonferenz sagte, zwar habe er persönlich den Eindruck, dass sich Schulen und Lehrkräfte bereits intensiv auf den Weg gemacht hätten, doch werde die Digitalisierung nur dann erfolgreich sein, "wenn wir unsere Lehrerinnen und Lehrer für den Einsatz noch mehr begeistern können. Dafür starten die Länder nun eine Fortbildungsoffensive."

 

Das war 2019. Damals war Anja Karliczek Chefin im BMBF und Alexander Lorz KMK-Präsident, und Deutschland hatte bei ICILS, der "International Computer and Information Literacy Study", so bescheiden abgeschnitten, dass viele, auch dieser Blog von einem "bildungspolitischen Fiasko" sprachen. Denn zu Recht definierte die ICILS-Studie digitale Kompetenzen als  neben Lesen, Schreiben und Rechnen "vierte Kulturtechnik". Eine Definition, die keineswegs neu war, sondern schon 2019 einen mindestens 20 Jahre alten bildungswissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergab.

 

Fünf Jahre später ist am Dienstagmorgen die neue Auflage der Studie veröffentlicht worden, die Ergebnisse von "ICILS 2023", und man muss konstatieren: Die von den nicht mehr im Amt befindlichen Bildungspolitikern versprochene Aufholjagd ist ausgefallen. Die heutigen Achtklässler in Deutschland können nicht besser mit digitalen Medien umgehen, sondern schlechter (die Ergebnisse im Detail siehe unten). Das "Digital Divide" abhängig von der sozialen Herkunft ist weiter international rekordverdächtig, und der Anteil der Jugendlichen, die nur "klicken und wischen" können, wie die deutsche Studienleiterin Birgit Eickelmann es formuliert, ist auf vier von zehn nochmal gewachsen.

 

Dieselben Wortschablonen
wie vor fünf Jahren 

 

Die Politik, die am Dienstag die neuen ICILS-Ergebnisse kommentieren musste, wirkte in ihren Äußerungen hilflos. Die Wortschablonen ensprachen mitunter bis in Details denen von vor fünf Jahren.

 

Beispiel eins: "Schulen sollen Orte sein, in denen Zukunft geschmiedet wird", sagt der neue Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne). Dafür brauche es zuvorderst eine gute IT-Infrastruktur und -Ausstattung. "Wir müssen aber auch unsere Lehrkräfte und Schulleitungen in die Lage versetzen, unseren Kindern einen sicheren und selbstbestimmten Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln. Daher müssen – gerade auch angesichts knapper Ressourcen – Finanzhilfen des Bundes sinnvoll auch zur Fortentwicklung pädagogischer und mediendidaktischer Aspekte in den Ländern eingesetzt werden."

 

2019 sagte KMK-Präsident Lorz: Weil erst die pädagogischen Konzepte einen Mehrwert des Digitalen ermöglichten, würde die Bildungspolitik "in den nächsten Jahren in der Lehreraus- und -fortbildung deutlichere Akzente zur Qualifizierung der Lehrkräfte setzen."

 

Beispiel zwei: "Auch bei den computer- und informationsbezogenen Kompetenzen gibt es einen Zusammenhang zwischen Herkunft und den Bildungschancen", sagte am Dienstag KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot (SPD). "Hier entsteht eine Digitale Spaltung, die wir dringend schließen müssen. Wir müssen sicherstellen, dass kein junger Mensch zurückgelassen wird."

 

2019 sprach der damalige bildungspolitische Sprecher der FDP-Bundstagsfraktion, Thomas Sattelberger, von einem traurigen "Weckruf". Seit der ersten Studie von 2013 habe sich nichts verbessert. Die Leistungsdifferenz zwischen privilegierten und finanziell benachteiligten Schülern sei in Deutschland besonders groß. Die Länder müssten jetzt endlich den Weg frei machen, damit die Gelder aus dem Digitalpakt schnell in den Schulen ankämen.

 

Die Wirkungen
des Digitalpakts I

 

Das immerhin schrieben sich Bund und Länder am Dienstag auf die Fahnen. Özdemir: "Die gemeinsamen Anstrengungen von Bund und Ländern im Rahmen des Digitalpakts Schule zeigen Wirkung, das ist ein Erfolg für ein besseres digitales Lernen in Klassenräumen." Streichert-Clivot: "Bund, Länder und Kommunen haben in den letzten Jahren mit großen Kraftanstrengungen den Grundstein für die digitale Transformation im Bildungsbereich gelegt. Das würdigt die ICILS-Studie und ihre Ergebnisse fordern uns alle dazu auf, weiter zu machen."

 

Dass ausgerechnet an diesem Dienstag, am ersten Tag der diesjährigen großen "Statuskonferenz im DigitalPakt Schule" im Berliner Café Moskau, die ICILS-Ergebnisse zeigten, dass inklusive Nebenpaketen 6,5 Bundesmilliarden es nicht vermochten, die Digital-Kompetenzen der deutschen Schüler zu verbessern, war umso ernüchternder. In der ICILS-Pressekonferenz am Morgen wies Winfried Kühner, Amtschef des Sächsischen Kultusministeriums, auf die gewachsene Heterogenität und Zuwanderung als Teil eines ganzen Bündels von Ursachen hin, zu dem auch die Folgen der Coronakrise gehörten, es gebe keine monokausale Erklärung, und man könne auch keinen Schalter umlegen, um die Probleme zu lösen. 

 

Alles richtig und doch in keiner Weise zufriedenstellend. Man könnte argumentieren, dass gerade in der Coronakrise die Digitalkompetenzen auch einen Sprung hätten machen können, so wie es bei den Englischkenntnissen der Schüler der Fall war. Man könnte auf Länder wie Schweden, Dänemark oder Frankreich hinweisen, denen es laut ICILS-Studie viel besser gelingt, die Auswirkungen der Herkunft auf die Digitalkompetenzen abzumildern. Oder auch darauf, dass ein Schalterumlegen keiner erwartet, sehr wohl aber, dass nach der Aufruhr 2019 zumindest und wie versprochen bei den Fortbildungen und den pädagogischen Konzepten mehr passiert wäre.

 

Inzwischen ist all das schon wieder vergossene Milch. Wieder einmal. Der Blick muss nach vorn gehen. Nein, die ICILS-Misere ist kein Beleg dafür, dass der Digitalpakt I gescheitert ist oder es keinen Digitalpakt 2.0 braucht (den Bund und Länder trotz Ampel-Koalitionsbruch weiter verhandeln, für wann auch immer).  Sehr wohl aber, dass, wie Birgit Eickelmann zu Recht sagte, man sich endgültig von der Vorstellung verabschieden müsse, dass solch ein großes Programm automatisch Kompetenzverbesserungen bringe. Das sei schon beim Ganztagsausbau ein Irrtum gewesen. Was, könnte man folgern, Konsequenzen auch für die Umsetzung des milliardenschweren Startchancen-Programms für benachteiligte Schüler und Schulen haben sollte.

 

Auf dem Weg, Informatik in allem Bundesländern zum Pflichtfach zu machen, ist die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren ein gutes, allerdings immer noch langsames Stück vorangekommen; und wenn Amtschef Kühner am Dienstag sagte, man müsse den Schulleitungen nicht nur mehr Eigenverantwortung geben, sondern sie bei deren Gebrauch noch besser unterstützen, hatte er ebenfalls Recht. Sein Hinweis, alle nötigen Maßnahmen seien bereits "ausgelöst", bräuchten allerdings mehr Zeit, erinnerte dann freilich doch an den Satz von Ex-KMK-Präsident Lorz von vor fünf Jahren, dass  sich Schulen und Lehrkräfte bereits intensiv auf den Weg gemacht hätten.

 

Nicht auf das "Wieviel"
kommt es an

 

Es kommt also nicht so sehr auf das "Wieviel" an, sondern auf das "Wie". Wofür ICILS-Spitzenreiter Südkorea, in dem der Anteil der Digital-Vielnutzer in den Schulen nicht über Deutschland liegt, ein gutes Beispiel ist. Man müsse, so Eickelmann, allgemein viel mehr bei den Sprach- und Lernkompetenzen ansetzen.

 

Wahrscheinlich kommt das der Realität am nächsten: Deutschlands ICILS-Ergebnisse sind kein Beleg für ein Digital-Problem deutscher Schulen, sondern für eine viel größere, umfassende Krise des Bildungssystems, die auch schon andere Vergleichsstudien wie PISA seit Jahren abbilden. Das Frustrierende ist nur, dass bei genau dieser Krise digitale Medien, richtig eingesetzt, so viel helfen könnten. 

 

Nur sind ausgerechnet adaptive Lernsysteme für 90 Prozent der deutschen Achtkässler noch immer unerreichbar. Und das Potenzial digitaler Medien für Inklusion und Förderung von Lernschwierigkeiten? Spielt in Fortbildungen deutscher Lehrkräfte bislang praktisch keine Rolle.


Die wichtigsten ICILS-Ergebnisse – und die ernüchterndsten

 

Die gute Nachricht: Achtklässler in Deutschland liegen mit ihren mittleren Kompetenzen immer noch über dem Durchschnitt der insgesamt 35 ICILS-Teilnehmerstaaten und auch etwas oberhalb der 22 EU-Länder, die dabei waren.

 

Das war es dann aber schon mit den guten Nachrichten. Denn die in Deutschland erreichten 502 Punkte bei den sogenannten computer- und informationsbezogenen Kompetenzen sind deutlich weniger als bei der 2019 veröffentlichten "ICILS 2018" (523) und erst recht als 2013 (518). Hinzu kommt: Während das Minus zwischen 2013 und 2018 statistisch nicht signifikant war, ist es der weitere Rückgang seitdem sehr wohl. Mädchen erzielen in Deutschland etwas bessere Ergebnisse als Jungen, doch ist ihr Vorsprung im internationalen Vergleich vergleichsweise gering.

 

Die ICILS-Definition für computer- und informationsbezogene Kompetenzen lautet: die individuellen Fähigkeiten einer Person, "die es ihr erlauben, digitale Medien zum Recherchieren, Gestalten und Kommunizieren von Informationen zu nutzen und diese zu bewerten, um am Leben im häuslichen Umfeld, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft erfolgreich teilzuhaben."

 

An der internationalen Spitze liegt Südkorea (540), in deutlichem Abstand gefolgt von Tschechien (525), Dänemark (518) und Taiwan (515). Weitere Länder, die besser als Deutschland abschnitten, wenn auch nicht mehr statistisch signifikant besser: Belgien (flämische Gemeinschaft), Portugal, Lettland, Finnland, Österreich, Ungarn, Schweden und Norwegen.

 

Noch bedenklicher als der deutsche Rückgang zwischen 2018 und 2023 ist, dass die Kluft zwischen Gymnasien (559 Punkte) und anderen Schulformen (472 Punkte) weiter wächst. Ein Anzeichen dafür, wie eng die Kompetenzen der Schüler mit ihrer sozialen Herkunft verkoppelt sind.

 

In Deutschland geborene Kinder, deren Eltern ebenfalls beide in Deutschland geboren wurden, erzielen im Schnitt 81 ICILS-Punkte mehr als im Ausland geborene Gleichaltrige, deren Vater und Mutter im Ausland zur Welt kamen. Im Vergleich zur Vorerhebung 2018 ist dieser Befund stabil negativ. Nur in Griechenland und Dänemark ist der Unterschied ähnlich dramatisch, in den USA beträgt er dagegen nur 14 Punkte, in Österreich 38, in Frankreich 42, in Schweden 52 Punkte.

 

Definiert man die soziale Herkunft nach dem Bildungshintergrund der Familien (laut Studie "dem kulturellen Kapital"), liegt Deutschland ebenso unter den Top 5 der Länder mit der größten Bildungsungleichheit, während es Dänemark, Finnland, Frankreich oder Schweden gelingt, die Folgen der sozialen Unterschiede auf die Kompetenzen deutlich geringer zu halten.

 

Die Leistungsskala ist in fünf Kompetenzstufen unterteilt. 40,8 Prozent der deutschen Schüler erreichen maximal die zweitniedrigste Kompetenzstufe –was laut der deutschen Studienleiterin Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn bedeutet, dass sie nur "klicken und wischen können", also nur rudimentäre, basale Digital-Kompetenzen haben. Vor fünf Jahren galt das für rund ein Drittel der Achtlklässler. Im internationalen Schnitt gehört sogar die Hälfte (49,9 Prozent) der Schüler dieser Gruppe an. Derweil schaffen nur  1,1 Prozent der deutschen Achtklässler die höchste Kompetenzstufe.

 

Ebenfalls getestet wurden bei ICILS 2023 die Fähigkeiten der Achtklässler im Bereich Computational Thinking, laut Studie die Fähigkeit, "Aspekte realweltlicher Probleme zu identifizieren, die für eine [informatische] Modellierung geeignet sind, algorithmische Lösungen für diese (Teil-)Probleme zu bewerten und selbst so zu entwickeln, dass diese Lösungen mit einem Computer operationalisiert werden können". Im Grunde also die Voraussetzung zum Programmieren.

 

Hier kommt Deutschland auf 479 Kompetenzpunkte, womit es leicht, aber nicht signifikant unter dem internationalen Durchschnitt liegt. Real allerdings ähneln die mittleren Kompetenzen der Achtklässler, wie Studienleiterin Eickelmann es drastisch formulierte, damit denen in einem Entwicklungsland. Gegenüber 2018 (486) hat es hier kaum eine Veränderung gegeben.

 

Statistisch mussten sich an deutschen Schulen fünf Schüler ein Gerät teilen, 2018 waren es noch zehn. 25,1 Prozent der Schüler geben an, mindestens einmal pro Schultag digitale Medien für schulische Aufgaben zu nutzen; immerhin aber auch noch 32,6 Prozent nie oder seltener als einmal im Monat.

 

Aber Achtung: Beim Spitzenreiter Südkorea waren es nur 22,1 Prozent tägliche Nutzer, aber es gab im Gegenzug mit 23,1 Prozent deutlich weniger, die nie oder seltener als einmal im Monat digitale Medien für die Schule gebrauchen.

 

Interessanterweise sagten aber 69,9 Prozent der Lehrkräfte, digitale Medien täglich in ihrem Unterricht zu nutzen, eine massive Steigerung gegenüber 2018 (23,2 Prozent) und 2013 (9,1 Prozent). Damit schließt Deutschland zum EU-Schnitt auf und liegt über dem internationalen Vergleichswert 61,2 Prozent).

 

Im internationalen Vergleich nahmen deutsche Lehrkräfte in allen abgefragten Bereichen seltener an Fortbildungen und weiteren beruflichen Lerngelegenheiten im Zusammenhang mit digitalen Medien teil, am seltensten waren Fortbildungen zur Nutzung digitaler Medien durch Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder spezifischen Lernschwierigkeiten.

 

Einen sehr hohen Wert erreichte die Zustimmung der deutschen Achtklässler zu der Aussage, es sei "wichtig, dass die Schüler*innen den Umgang mit digitalen Medien in der Schule lernen" (90,1 Prozent). 88,5 Prozent gaben an, mit digitalen Medien mache das Lernen in der Schule mehr Spaß. Sehr reflektiert schätzen sie laut Umfrage die Potenziale und Gefahren digitaler Medien ein. So waren 86,6 Prozent der Schüler der Auffassung, die Menschen verbrächten "viel zu viel Zeit" mit digitalen Medien.

 

Gleichzeitig besucht nur etwa ein Zehntel (10,2 Prozent) der Achtklässler in Deutschland eine Schule, an der adaptive Lernsysteme für Lehrkräfte und die Schülerschaft verfügbar sind, weniger als halb so viele wie international (23,5 Prozent).

 

Die computerbasierten ICILS-Tests fanden zwischen Mai und Juli 2023 statt, weltweit nahmen 132.889 Schüler und 60.835 Lehrkräfte an einer repräsentativen Stichprobe von 5.299 Schulen teil, in Deutschland waren es 5.065 Schüler und 2.302 Lehrkräfte an 230 Schulen. 35 Staaten waren dabei, davon 22 EU-Staaten, Nordrhein-Westfalen machte als einziges Gebiet eine zusätzlichen Benchmark-Studie. Beim Zusatzmodul "Computational Thinking" machten 24 Staaten mit.

 

 



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