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Zwischen Macht, Politik und Geltungssucht

Vor knapp fünf Jahren wurde die TU Dresden von Fälschungsvorwürfen in einem Millionenprojekt erschüttert. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft Dresden Anklage gegen einen Beschuldigten erhoben.

Whistleblower Martin Holst (links) und Jens Strehle bei der Verleihung der Ehrennadel der TU Dresden 2022 durch die TUD-Rektorin Ursula Staudinger. Foto: TUD.

ES WAR DER VERSUCH einer institutionellen Wiedergutmachung. Im Juli 2022, dreieinhalb Jahre nachdem Jens Strehle und Martin Holst mit ihren Hinweisen einen laut der Technischen Universität Dresden (TUD) bundesweit einzigartigen Wissenschaftsskandal aufgedeckt hatten, erhielten die beiden Whistleblower die Ehrennadel der TUD.

 

"Der Mut, mit dem die beiden Whistleblower auf die gravierenden Verstöße gegen wissenschaftliche Integrität im Rahmen der sogenannten PPP Studie hingewiesen haben und damit eine Untersuchung und Offenlegung ermöglicht haben, verdient unsere höchste Anerkennung", verkündete die Hochschulleitung. "Die Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Integrität ist von zentraler Bedeutung für unsere Universität."

 

Vergangene Woche nun teilte die Staatsanwaltschaft Dresden auf Anfrage mit, dass sie nach drei Jahren Ermittlungen Anklage gegen den Protagonisten des Skandals vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts erhoben hat – wegen Betrugs in sieben Fällen, versuchten Betrugs in zwei Fällen und versuchter Nötigung.

 

Januar 2019. Jens Strehle ist Mathematiker und Experte für die statistische Auswertung und Interpretation wissenschaftlicher Daten. Der 43-Jährige arbeitet auf einer befristeten Stelle in einem Forschungsprojekt des Psychologieprofessors Hans-Ulrich Wittchen.

 

Der ist nicht irgendwer. Wittchen, zu dem Zeitpunkt 67, gehört zu den international bekanntesten, publikationsstärksten und meistzitierten Forschern seines Fachs in Deutschland. 17 Jahre war er Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden und ist immer noch so etwas wie dessen graue Eminenz. Unter anderem war er enger Berater des damaligen Rektors Hans Müller-Steinhagen, als der 2012 die TU Dresden als einzige ostdeutsche Universität zum Exzellenztitel führte. 

 

Forschung, die Folgen hat

 

Für die sogenannte "PPP-Studie" hat Wittchen 2,5 Millionen Euro Fördergelder beim Gemeinsamen Bundesausschuss eingeworben. Die Abkürzung "PPP" steht für „Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik“, die empirisch erhoben werden soll als Grundlage, damit der Gemeinsame Bundesausschuss anschließend bundesweite Mindestpersonalvorgaben für die Einrichtungen machen kann. Es geht also um viel, und es geht um die Daten vieler Kliniken.

 

Und das ist das Problem. Denn Jens Strehle, der Statistikexperte, der jeden Tag vor den Auswertungen sitzt, sagt, dass sie nicht stimmen. Die TUD erachtet als gesichert: Es sind die Ergebnisse von deutlich weniger als den 100 Standorten enthalten, die offiziell vereinbart worden wären. Damit das nicht auffällt, seien die Daten bereits eingeflossener Kliniken kopiert und als die von Einrichtungen ausgegeben worden, die zwar Teil der Studie waren, bei denen aber keine Daten bei einem Vor-Ort-Besuch erhoben wurden.

 

Warum Strehle das weiß? Weil Wittchen ihn und seinen Kollegen, Martin Holst, mehrfach angewiesen haben soll, die Daten zu "duplizieren". Was in Wirklichkeit gleichbedeutend mit dem Auftrag gewesen wäre, sie zu manipulieren und zu verfälschen. So sagen es Strehle und Holst, so stellt es später eine Untersuchungskommission fest.

 

Wittchen widerspricht dem weiterhin. Es hätte keine vertraglich vereinbarte Zielzahl von 100 gegeben. Wo für die Zwischenanalyse zunächst teilweise noch keine ausreichenden Daten vorgelegen hätten, seien passende "Zwillinge" in den bereits vorliegenden gesucht und diese dann stellvertretend übertragen worden. Seine entsprechenden "Doppelungs-Anweisungen" habe der Statistiker pflichtwidrig nicht markiert. 15 von 210 Stationsdatensätzen seien so unbemerkt in der Schlussauswertung verblieben.  

 

Strehle will raus aus dem Projekt. Er wendet sich an einen anderen Dresdner Psychologieprofessor, Daniel Leising, der an der TUD als integer gilt. Leising, so hofft Strehle, könnte ihm dabei helfen, eine andere Stelle innerhalb der Universität zu finden.

 

Was er nicht weiß: dass Leising selbst seit Jahren mit zunehmendem Misstrauen Wittchen beobachtet, ihm aber bislang konkrete Belege für wissenschaftliches Fehlverhalten fehlten. Leising erkennt die mögliche Brisanz dessen, was Strehle ihm berichtet. Mit dessen Zustimmung ziehen sie einen weiteren Psychologieprofessor hinzu, Stefan Scherbaum. Gemeinsam protokollieren sie alles, was Strehle berichtet. Und ermutigen ihn, Wittchen offiziell zu melden.

 

Ein paar Tage zögert Strehle, dann aber stimmt er zu. Leising kontaktiert den Fachbereichssprecher, den Dekan und Rektor Hans Müller-Steinhagen, der wiederum verweist ihn an den damaligen Ombudsmann, Achim Mehlhorn, der selbst neun Jahre Rektor der TU war. Gemeinsam mit Leising geht Strehle zum Gespräch mit Ombudsmann Mehlhorn – und erlebt seine erste Überraschung. "Herr Mehlhorn sagte, wenn die Ergebnisse dieser wichtigen Studie durch die eingefügten Daten gar nicht groß verändert würden, sollte man die Sache vielleicht doch nicht an die ganz große Glocke hängen", erinnert sich Strehle. Und: "Die TUD habe es im Exzellenzwettbewerb schon schwer genug", zitiert Leising Mehlhorn, der sich selbst auf Anfrage nicht äußern wollte.

 

Alles für das Prädikat "Exzellent"

 

Der Exzellenztitel hat in Dresden, man spürt es fast in jedem Gespräch, eine besondere Bedeutung. Finanziell, mehr aber noch für das Selbstverständnis. Ist die Bedeutung so groß, dass man ihm (fast) alles unterordnet?

 

Martin Holst, damals 30 Jahre alt, arbeitet Anfang 2019 als Doktorand für die PPP-Studie. Er beobachtet mit einer Mischung aus Hoffnung und Sorge, wie Strehle zum Ombudsmann geht. Und entscheidet sich schließlich, dasselbe zu tun und Strehles Darstellung voll umfassend zu bestätigen.

 

Dann tut sich etwas: Eine erste Untersuchung wird angestoßen – womöglich, weil die Medien Wind von den Vorwürfen bekommen haben. Strehle, der wenig später auf eine lange geplante Kur geht, berichtet, er sei dort von Mitarbeitern des Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG besucht worden, offenbar beauftragt von der privatrechtlichen Gesellschaft für Wissenschafts- und Technologietransfer (GWT), unter deren Dach die PPP-Studie administrativ läuft.

 

Die GWT ist eine Tochter der "TU Dresden Aktiengesellschaft" (TUDAG), getragen von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der TU Dresden. Eine Konstellation, die für den Umgang mit dem PPP-Skandal noch von Bedeutung sein wird.

 

Von Seiten der Universität selbst aber, sagt Strehle, sei nach seiner Wahrnehmung zunächst "gar nichts" passiert. Im Gegenteil: Als er von der Kur zurückkehrt, soll er einfach wieder an seinen alten Arbeitsplatz gehen. Wo Wittchen ihn empfängt mit, wie Strehle es empfindet, einer Mischung aus Bitten und Drohungen. Er, Strehle, sei doch derjenige gewesen, der die Daten geändert habe, habe Wittchen gesagt. Wittchen bestätigt das Gespräch, ergänzt jedoch, dass er auf die Frage, warum Strehle dies nun als unzulässige Manipulation von Wittchen darstelle, keine Antwort erhalten habe.

 

"Überraschend freundlich"

 

Der später eingerichteten Untersuchungskommission berichten die Whistleblower, wie Wittchen zunächst "überraschend freundlich und klärungsbereit" gewesen sei. Doch als die beiden bei ihrer Darstellung der Vorgänge blieben, habe sich Wittchens Tonfall geändert, heißt es im Kommissionsbericht. Er habe "mit allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln" gedroht und Holst aufgefordert, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Im Laufe der Woche sei es dann mehrfach zu Versuchen von Wittchen und einer weiteren Person gekommen, "mich zu einem Rückzieher beim Ombudsmann zu bewegen, solange die Kommission noch nicht eingeschaltet war", zitiert der Bericht Holst.

 

Als Ombudsmann Mehlhorn davon hört, fordert er Wittchen auf, die Bedrohungen der Whistleblower einzustellen. Strehle erhält inzwischen E-Mails von Wittchens Frau und von einem Kollegen Wittchens, die ihn beide drängen, sich die Sache noch einmal zu überlegen.

 

Wittchen tritt dieser Darstellung entgegen. Er habe zunächst versucht, dem Ombudsmann in einem Klärungsgespräch zusammen mit den Hinweisgebern, die er niemals um einen Rückzieher gebeten habe, die Lage zu erklären. Strehle sei jedoch nicht erschienen. Vielmehr habe er selbst unterbunden, dass man wegen der Sorge, dass die PPP-Studie nicht abgenommen werde, Aussagen zurückziehe.

 

Als Daniel Leising und Stefan Scherbaum erfahren, welchen Druck Strehle und Holst empfinden, wenden sie sich erneut an Rektor Müller-Steinhagen. Der verweist auf die inzwischen eingesetzte universitäre Untersuchungskommission. Doch die habe da gerade erst ihre Arbeit aufgenommen, sagt Leising.

 

So müssen Strehle und Holst weiter jeden Tag ins Büro gehen zu einem Vorgesetzten, den sie selbst des wissenschaftlichen Fehlverhaltens bezichtigen. "Wir saßen weiter in Wittchens Klauen und haben null moralische Unterstützung von Fakultäts- und Unileitung erhalten", sagt Strehle. Er habe in der Fakultät bei verschiedenen Leuten Schutz gesucht, ergänzt Holst, doch meist nur Achselzucken geerntet und die Empfehlung, sich eine gute Rechtsschutzversicherung zu suchen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass große Teile der Fakultät lange Jahre intensiv mit Wittchen zusammengearbeitet haben.

 

Wurden Beweismittel im Nachhinein verändert?

 

Leising erlebt das, wie er sagt, als "ethische Bankrotterklärung" der Universität. Müller-Steinhagen dagegen sagt mit Blick auf den Ablauf der Ereignisse unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe: "Besser und schneller hätte man es aus meiner Sicht nicht machen können. Das zeigt, wie ernst wir die Vorwürfe und das Verfahren genommen haben."

 

Währenddessen berichten die beiden Whistleblower, dass Wittchen immer wieder an die Aktenordner mit den Untersuchungsprotokollen gegangen sei, die offenbar noch über Monate im Institut herumstanden. Die Untersuchungskommission berichtet, sie sei später "in nicht wenige Dokumente auf Veränderungen gestoßen". Es lägen eine Reihe von nachträglichen Veränderungen an den Projektunterlagen vor, "die vorgenommen worden sein dürften, nachdem die Vorwürfe der Datenmanipulation vorgebracht wurden". Laut Kommission "ein weiteres und eigenständiges wissenschaftliches Fehlverhalten" und Anzeichen "für das vorsätzliche Verhalten" von Wittchen.

 

Wie kann das sein? Vorwürfe von einer solchen Dimension, doch die Whistleblower werden weder geschützt noch werden die Beweismittel, die Datensätze und Projektordner schnellstmöglich gesichert?

 

Ein Anruf bei Hans-Heinrich Trute. Dem Hamburger Juristen verdankt die TU Dresden viel. Denn nur wegen der akribischen Aufklärungsarbeit der von ihm geleiteten Untersuchungskommission kann die Hochschule überhaupt von einer Aufarbeitung der Vorgänge sprechen. Nachdem Trute eingeschaltet wurde, ließen dieser und seine Kommissionskollegen fast zwei Jahre lang nicht locker und legten im Februar 2021 ihren Bericht vor.

 

Darin ist die Rede von vorsätzlichen Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis in vielfacher Hinsicht, von schwerwiegender Datenmanipulation und Datenfälschung. Die Verantwortung für all das liege vornehmlich bei Projektleiter Wittchen.

 

Regress befürchtet

 

Dass Wittchen noch über Monate Zugang zu den Beweismitteln hatte, sei, sagt Trute, der "komplexen Konstellation" geschuldet gewesen. Zwar standen die Akten in Büros der Universität, doch die GWT als Projektträgerin sei eine unabhängige Einrichtung außerhalb des Hoheitsbereichs der Universität. "Die GWT hatte selbstverständlich eigene Interessen, die Geschäftsleitung war auf das Wohl der eigenen Gesellschaft verpflichtet", sagt Trute. "Schließlich standen für sie Regressforderungen seitens des Gemeinsamen Bundesausschusses in Millionenhöhe zu befürchten."

 

Daher habe es lange gedauert, bis die GWT-Geschäftsführung sich zu einer, wie Trute es ausdrückt, "klaren Position" habe durchringen können. Gleichzeitig habe Wittchen sich mit Händen und Füßen gewehrt, sei vor Gericht gezogen, "zwar letztendlich erfolglos, aber so hat es am Ende ein halbes Jahr gedauert, bis alle Daten und Unterlagen gesichert werden konnten."

 

Wittchen kontert. Es habe keinerlei "nachträgliche Veränderungen der Projektunterlagen" oder andere unzulässige Handlungen dieser Art gegeben. Eine solche, sagt Wittchen, wäre sowieso ins Leere gelaufen, da alle Daten ab September 2018 – abschließend und unveränderlich – elektronisch festgestanden hätten und für ihn selbst nicht zugänglich gewesen seien.   

 

Der heutige GWT-Geschäftsführer Jacques Rohayem kam erst im Oktober 2020 ins Amt und sagt, er verfüge "bezüglich der Handlungen meiner Vorgänger über keine Informationen, anderseits wurden bei meinem Amtsantritt umgehend ein Qualitätsmanagement- und ein Risikomanagementsystem umgesetzt, um Unregelmäßigkeiten in Zukunft auszuschließen, inklusive einer Compliance-Richtlinie, einer Antikorruptionsrichtlinie, sowie einer Richtlinie zum Verhaltenskodex und zur exzellenten wissenschaftlichen Praxis".

 

Was den Schutz der Whistleblower angehe, sagt Kommissionchef Trute: Der sei von Anfang an ein Anliegen der Kommission gewesen, doch sei die Universität nur sehr langsam tätig geworden. "Vielleicht weil man am Anfang unsicher war, was dran ist an den Vorwürfen, vielleicht, weil Wittchen immer wieder versucht hat, Einfluss auf die Hochschulleitung zu nehmen." Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Mitarbeiter teils bei der GWT, teils an der Universität beschäftigt gewesen seien. 

 

Der heutige GWT-Geschäftsführer Rohayem sagt, solche Vorgänge seien ihm nicht bekannt. "Richtig ist aber, dass die GWT dafür sorgt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GWT nicht an Projekten der TU Dresden arbeiten, sondern nur und ausschließlich an den Projekten der GWT."

 

Mehrfach, sagt Trute, habe die Kommission angemahnt, Strehle und Holst aus Wittchens Personalhoheit herauszunehmen, sie etwa für die Dauer der Ermittlungen bezahlt freizustellen, "der Rektor stimmte uns auch zu, aber guter Wille reicht in der deutschen Verwaltung offenbar häufig nicht für zeitnahe Konsequenzen."

 

Kein Wort vom Uni-Rektor

 

Die Kommission arbeite noch, ihr Ergebnis gelte es abzuwarten – das sei die Standardantwort gewesen, wenn sie um Unterstützung ersucht hätten, erinnert sich Strehle. "Und in diesem Vakuum sollten wir weitermachen."

 

Nach einem halben Jahr läuft der Vertrag von Doktorand Holst dann einfach aus und er wird arbeitslos – bevor er Leising zufällig auf der Straße trifft und der zusammen mit Scherbaum interveniert. Auch Strehle erhält erst nach Druck durch die beiden schließlich doch eine andere Stelle – allerdings ohne Büro, woraufhin er an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrt.

 

Einer, berichten Strehle und Holst übereinstimmend, habe sich die ganze Zeit nie bei Ihnen persönlich gemeldet, nie persönlich ihre Version der Geschichte hören wollen: Rektor Hans Müller-Steinhagen. Der sagt, er habe bewusst und in Absprache mit Mehlhorn, Trute und einem externen juristischen Berater mit keinem der "Betroffenen" Gespräche "zu dieser Thematik" geführt, "um das Verfahren nicht zu gefährden".

 

Müller-Steinhagen sei spätestens seit dem Jahr 2015 darüber unterrichtet gewesen, dass das Vertrauen gegenüber Wittchen in Teilen der Fachrichtung Psychologie erheblich geschädigt gewesen sei. So sagen es Leising und sein Kollege Sebastian Pannasch übereinstimmend aus. Beide hätten zu diesem Thema wiederholt das Gespräch mit Müller-Steinhagen gesucht, teilweise auch gemeinsam mit weiteren Kollegen. Die Reaktionen seien eher abweisend gewesen. "Wir könnten ihn nicht davon abhalten, sich auch in der nächsten Phase der Exzelleninitiative wieder von Wittchen beraten zu lassen. Dieser sei außerdem ‚kein Verbrecher‘, sondern halt einfach ‚trickreich‘." So zitiert Leising Müller-Steinhagens Reaktionen damals.  

 

Müller-Steinhagen gibt sich auf Nachfrage "erstaunt, dass mir hier Zitate aus unter Vorbehalt der Vertraulichkeit geführten Gesprächen unterstellt werden". Zu der Frage, ob die Sätze so gefallen seien, sagt der Alt-Rektor: Seine Aussage, dass eine hohe Publikations-/Zitationsleistung per se kein Verbrechen sei, "ist sicherlich so korrekt." An den genauen Wortlaut könne er sich nach fast zehn Jahren nicht erinnern. Er wolle aber darauf hinweisen, "dass ich mich in der zweiten Antragsphase der Exzellenzinitiative nicht von Prof. Wittchen habe beraten lassen". Die Phase endete 2019 mit dem erneuten Erringen des Exzellenztitels.

 

Müller-Steinhagen habe zwar nie versucht, auf die Arbeit der Kommission direkt Einfluss zu nehmen, sagt Trute. "Er hat sich aber immer wieder gemeldet, erzählt, was Wittchen ihm gerade wieder erzählt hatte, und uns gefragt, was wir davon halten." Die beiden, fügt Trute hinzu, schienen "durchaus ein enges Verhältnis gehabt zu haben. Allerdings hat Wittchen auch eine drängende Art, die es schwermacht, ihn auf Distanz zu halten." Böswilligkeit oder gar eine Vertuschungsabsicht habe er bei Müller-Steinhagen zu keinem Zeitpunkt erkennen können, versichert Trute. 

 

Während Müller-Steinhagen versichert, er habe "sofort nach dem Gespräch mit den Hinweisgebern am 24. Januar 2019 jeden persönlichen Kontakt mit Prof. Wittchen abgebrochen und seitdem auch nicht wieder aufgenommen". Trotzdem habe ihn Wittchen mehrfach, "auch über die E-Mail-Adresse meiner Frau", angeschrieben. Diese Mails habe er, "wenn überhaupt" nur mit Hinweis auf das laufende Verfahren und die Arbeit der Untersuchungskommission "kurz und ohne Aussage zum vorliegenden Streitfall" beantwortet und an Trute weitergeleitet.

 

Müller-Steinhagens 2020 ins Amt gekommene Nachfolgerin Ursula Staudinger sagte nach Veröffentlichung des Kommissionsberichts, sie sei von dessen Inhalt "tief erschüttert". Dasselbe gelte für alle Mitglieder ihres Rektorats. "Wir haben auf der Basis des Untersuchungsberichtes, der selbst nicht rechtsfähig ist, unseren Rechtsanwalt mit der Prüfung rechtlicher Schritte beauftragt, und zwar dienst-, zivil- und strafrechtlich."

 

Und wie ist der Stand heute? Laut Wittchen ermittelte die Staatsanwaltschaft Dresden seit 2021 aufgrund einer Selbstanzeige, die er mit dem Ziel gestellt habe, in einem "ordentlichen und universitätsunabhängigen Verfahren" entlastet zu werden. Alle seine Bemühungen gegenüber Kommission und TUD-Rektorat den Entwurf des Kommissions-Gutachtens zu korrigieren, seien erfolglos geblieben, seine Widerlegungen in der mit Beweisunterlagen versehenen 200-seitigen Stellungnahme nicht berücksichtigt worden. Die Staatsanwaltschaft teilte den DNN dagegen mit, sie habe unabhängig von dieser Selbstanzeige Ermittlungen geführt – die jetzt zu besagter Anklage gegen Wittchen führten.

 

Von der TU Dresden heißt es auf Anfrage, gegen Wittchen sei ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren eingeleitet worden, das ausgesetzt wurde, nachdem die Staatsanwaltschaft Dresden ermittelte. Der Ausgang des Verfahrens müsse abgewartet werden, "da die Ergebnisse entscheidend sind für das Disziplinarverfahren".

 

Verfahren endet im Vergleich

 

Die TU habe auch die zuständigen Fachgesellschaften für Psychologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie informiert, außerdem die Universität München, wo Wittchen nach seiner Pensionierung 2017 als Honorarprofessor anfing. Alle geschäftlichen Verbindungen zu Wittchens damaliger Institutsambulanz seien beendet worden und eine eigene Ambulanz und ein Forschungszentrum für Psychotherapie gegründet worden. Weitere "Befunde mit strafrechtlicher Relevanz" der TUD-Antikorruptionsbeauftragten seien der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Wittchen habe seinerseits die TUD vor dem Verwaltungsgericht wegen regelwidrigen Handelns verklagt, auch dieses Verfahren laufe noch.

 

Der Gemeinsame Bundesausschuss wiederum zog in der Zwischenzeit gegen die GWT vor Gericht, das Verfahren endete mit einem Vergleich. Inhalt: unbekannt.

 

Unterdessen, betont die TUD, seien durch Staudinger seit ihrem Amtsantritt im August 2020 "sehr schnell umfassende Konsequenzen gezogen und Prozesse neu aufgestellt worden", 2023 etwa ein umfassendes Compliance-System, außerdem ein "digitales, anonymes Hinweisgebersystem", und es gebe innerhalb der Universität umfassende Informationen, Schulungen und ein "Netzwerk von Konfliktlots:innen".

 

In Absprache unter anderem mit Daniel Leising hätten zwei TUD-Universitätsforen zum Thema "Machtmissbrauch in der Wissenschaft" stattgefunden. Schließlich habe die Rektorin veranlasst, dass den beiden Whistleblowern ihre Rechtsanwaltskosten zurückerstattet worden seien. 

 

Was aber lässt sich aus den Vorgängen lernen?

 

Dass Whistleblower auch in der Wissenschaft anständig geschützt werden müssten, sagt Jens Strehle. "Hätte ich Anfang 2019 gewusst, worauf ich mich mit meinem Gang zum Ombudsmann einlasse, hätte ich es nicht gemacht."

 

Dass in einem auf Wettbewerb getrimmten System, in dem Mitarbeiter auf befristeten Verträgen scheinbar übermächtigen Professoren gegenüberständen, die noch dazu bestens vernetzt seien, die meisten vergleichbaren Skandale wohl im Dunkeln blieben, sagt Daniel Leising.

 

Dass es umso mehr auf Professoren wie Daniel Leising und Stefan Scherbaum ankomme, die trotzdem bereit seien, Whistleblowern den Rücken zu stärken, sagt Martin Holst.

 

Dass beim Aufsetzen forschungspolitischer Großprojekte immer sichergestellt werden müsse, dass die vorgesehenen Instrumente zu Aufklärung und Umgang mit Fehlverhalten aller Art auch greifen könnten, sagt Hans-Heinrich Trute. "Das Auslagern in rechtlich unabhängige Gesellschaften darf nicht dazu führen, dass eine Untersuchungskommission nur noch erschwert, über Umwege und teilweise mit enormem Zeitverlust ihre Arbeit erledigen kann."

 

Und dass, fügt Trute hinzu, die Untersuchung wissenschaftlichen Fehlverhaltens solchen Ausmaßes dringend professionalisiert werden müsse. "Erst recht, wenn die eingesetzten ehrenamtlichen Kommissionen es auf Seite der Beschuldigten mit hoch bezahlten Anwälten zu tun bekommen, die ein erhebliches Gegenfeuer erzeugen." Nur eine deutschlandweit zentrale Untersuchungsinstanz könne das leisten. "Sie übernähme die Ermittlungen, die Entscheidung über Konsequenzen läge immer noch bei den Universitäten."

 

Und Wittchen? Der fragt sich, sagt er, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Er spekuliert, ob Strehle sich in einer stressreichen Zeit "schlecht" behandelt fühlte oder dieser durch mehrere professorale TUD-Kollegen, die ihm und dem Erfolg seines Instituts extrem kritisch gegenüber gestanden hätten, motiviert worden sei. Mit der Meldung an den Ombudsmann sei gleich die Presse eingeschaltet worden. Dass sich das Ganze dann – wegen des Versagens der TUD – so katastrophal und komplikationsreich ausgeweitet habe, habe wohl niemand erwartet.

 

Doch bietet sich auch die gegenteilige Schlussfolgerung an: dass die Presseberichterstattung und der dadurch erzeugte Handlungsdruck auf die Universität eine große Rolle bei der Aufklärung spielte. Vergleicht man die von den Whistleblowern berichtete interne Zeitabfolge, so lässt sich ziemlich gut erkennen, wie die universitätsinternen Reaktionen an Ernsthaftigkeit zunahmen, sobald Mitte Februar 2019 ein erster umfangreicher Bericht bei Buzzfeed erschien.

 

Im Juni 2024 erhielt auch Leising die Ehrennadel der TU Dresden aus der Hand von Rektorin Staudinger. Er habe sich durch sein herausragendes Engagement gegen Machtmissbrauch von Führungskräften in der Wissenschaft als eine treibende Kraft für eine Kultur der Integrität und des Respekts an der TU Dresden erwiesen, lautete die Begründung – und zwar weit über den PPP-Skandal hinaus.

 

In seiner Dankesrede sagte Leising, er habe sich zu Beginn seiner Tätigkeit an der TUD "im Traum nicht vorstellen können, mit welchem Ausmaß an Amoralität ich alsbald in meiner unmittelbaren Arbeitsumgebung konfrontiert sein würde". Und er schloss mit einem Appell: "Unsere Unis gehören zum wertvollsten, was wir haben. Wir können sie den Psychopathen und den Opportunisten überlassen. Aber ich finde, wir sollten das lieber nicht tun. Und das bedeutet: Kämpfen!"

 

Dieser Beitrag erschien zuerst im Tagesspiegel.



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Kommentare: 9
  • #1

    Guntram Lässig (Mittwoch, 13 November 2024 08:46)

    Man sieht an diesem Fall sehr klar, zu welchen Verfehlungen das starre Festhalten an der sogenannten Exzellenz-Initiative führen kann.

  • #2

    Manfred Klarner (Mittwoch, 13 November 2024 10:06)

    Sicher keine ganz einfache Geschichte mit einem Protagonisten, der ziemlich in Erklärungsnot gekommen ist. Aber vielleicht macht es sich der Chronist hier mit seiner eindeutigen Positionierung doch etwas einfach?

    Und für "Guntram Lässig" scheint der Fall ein willkommenes Argument gegen Exzellenz in der Wissenschaft zu sein.

  • #3

    bregalnica (Mittwoch, 13 November 2024 10:17)

    Wer Wittchen einmal erlebt hat - ob als Mitarbeiter oder Student - der wird genau wissen, wie Wittchen seine Position und Macht ausspielt und andere Menschen fertig macht, nur um sich selbst zu pushen. Dass wissenschaftliche Mitarbeiter in prekären, ungeschützten und total abhängigen Verhältnis es geschafft haben, auf die Missstände hinzuweisen, kann man nur mit Respekt und Demut begegnen. Am Ende war es aber sicher auch ein Glück, dass Wittchen in den Ruhestand ging - ob man einen 40 jährigen Professor für seine Misstaten entlassen hätte, ist mehr als fraglich. Wissenschaftliches Fehlverhalten und Machtmissbrauch ist real, nicht nur in Dresden. Und ja, in Dresden ist die Exzellenz enorm wichtig gewesen. Dem wird viel untergeordnet. Und bei eine Koryphähe seines Faches, der die Exzellenz mit zum Erfolg geführt hat, da schauen die Hochschulleitungen und interne Strukturen gerne lange weg. Auch in den Senatssitzungen haben viele Dekane sich weggeduckt, da man sich gegenseitig nicht "beschädigen" wollte.
    Schlimm ist auch, dass die PPP Studie wirklich wichtige Daten für die Gesundheitsversorgung erheben sollte und die Leidtragenden sind diejenigen, die darunter leiden, dass es nicht genug Plätze in psychiatrischen Einrichtungen gibt.

  • #4

    Erwin Koslowski (Mittwoch, 13 November 2024 11:56)

    Je man schaut, desto weniger "einfach" wird die G'schicht:

    "Ebenso irritiert ein Arbeitsvertrag für eine Mitarbeiterin, die als "Datenanalytikerin" für das Projekt angestellt worden sein soll. Die regulären Mitarbeiter wussten allerdings nichts von dieser vermeintlichen Kollegin und versichern, eine Arbeitsleistung sei von dieser nicht erbracht worden. Das Honorar summierte sich Dokumenten zufolge auf mehr als 40 000 Euro. Bei der fraglichen Mitarbeiterin handelte es sich gemäß des Vertrags um die Tochter von Projektleiter Wittchen. Auf die Bitte um eine Stellungnahme zu diesen Punkten, teilte Wittchens Anwalt mit, sein Mandant werde die Fragen nicht beantworten."

    https://www.sueddeutsche.de/wissen/wittchen-faelschung-tu-dresden-ppp-studie-psychiatrie-1.5226427

  • #5

    G. Lässig (Mittwoch, 13 November 2024 13:14)

    #2: Werter Herr Klarner, Sie irren sich. Mein Eintrag ist
    kein Argument gegen "Exzellenz in der Wissenschaft", sondern eines gegen Verballhornungen derselben. Es gibt genügend bewährte Förderformen exzellenter Wissenschaft:
    SFB, GRK, Einzelanträge, DFG-Schwerpunktprogramme etc.
    Die Exzellenz-Initiative ist in der derzeit praktizierten Form
    m.E. nicht geeignet.

  • #6

    Wolfgang Kühnel (Mittwoch, 13 November 2024 14:26)

    Mir ist von dem Bericht nicht klargeworden, worin der Vorteil für Wittchen durch die Manipulation bestand, gerade weil er der Pensionierung entgegen ging. Hat er womöglich in augenzwinkernder Übereinstimmung mit "höheren Mächten" gehandelt, die ein bestimmtes Ergebnis haben wollten?

  • #7

    Whistleblower (Mittwoch, 13 November 2024 21:02)

    Die initiale Beschwichtigungs- und Abwehrreaktion der Ombudsperson überrascht mich in keiner Weise, werden doch Fehlverhaltenskommissionsmitglieder in intransparenten Verfahren mit Vertrauten der Universitätsleitung besetzt, damit diese möglichst geräuschlos Skandale wegmoderieren. Eine Untergrabung des eigentlichen Zwecks dieser wichtigen Kommissionsarbeit.

  • #8

    Michel (Mittwoch, 13 November 2024 22:56)

    Das Problem ist die GWT bei der niemand richtig hinschauen möchte.

  • #9

    DD (Montag, 18 November 2024 10:28)

    Vielen Dank für diesen detailreichen Bericht, Herr Wiarda! Ganz bitter finde ich die Aussage von Herrn Strehle: "Hätte ich Anfang 2019 gewusst, worauf ich mich mit meinem Gang zum Ombudsmann einlasse, hätte ich es nicht gemacht." Es ist so wichtig, dass sie nun geehrt wurden. Vor dem Mut und ihrer Resilienz kann man nur den Hut ziehen.